[458] 968. Die Hexe zu Medernach.

Vor nicht gar langer Zeit lebte zu Medernach eine alte Frau, »d'âl Bocken« genannt, die bei jung und alt im Ruf einer Hexe stand.

Eines Winterabends saßen, wie gewöhnlich, die Nachbarinnen mit ihren Spinnrädern in einem Hause »auf dem Gêhr« in der Ucht. Auch Jünglinge und junge Männer hatten sich, wie jeden Abend, dort eingefunden. Die Frauen und Mädchen beschäftigten sich mit Spinnen. Einige Mannspersonen spielten Karten und einer erzählte Märchen und Gespenstergeschichten, um den Spinnenden die Zeit zu verkürzen. Auf einmal flattert oben an der Decke ein großer Vogel, einem Hühnergeier ähnlich, herum. Männer und Jünglinge waren gleich auf den Füßen, um denselben einzufangen und zu diesem Zweck ergriff jeder, was ihm zufällig in die Hand kam. Endlich gelang es einem jungen Mann, sich des Vogels vermittelst der Feuerzange zu bemächtigen; er drückte ihn in den Aschenbehälter, der ganz[458] mit heißen Aschen und glühenden Kohlen gefüllt war (man hatte an diesem Tag gerade den Backofen geheizt), und hielt denselben so lange dort fest, bis alle Federn versengt waren; dann warf er den Vogel vor die Tür. Am andern Morgen lag »d'âl Bocken«, den ganzen Leib mit Brandwunden bedeckt, auf dem Bette.

Ein andermal befand sich »d'âl Bocken« in einem Hause, als eben die Magd im Begriff war, den Backofen zu heizen. Plötzlich entstand ein solches Feuer, daß der ganze Backofen nur eine glühende Masse zu sein schien, im Nu aber war das Feuer erloschen. Die Magd versuchte noch zweimal, das Feuer wieder anzuzünden, und jedesmal füllte sich der Ofen mit einer unheimlichen Glut, worauf die Flamme plötzlich erlosch. Die Magd eilte zum Hausherrn. Nachdem auch dieser einen mißlungenen Versuch gemacht hatte, das Feuer anzuzünden, rief er unwillig: »Schert euch zum Henker!« Als darauf die Magd die Küche und »d'âl Bocken« das Haus verlassen hatten, wiederholte er seinen Versuch und sieh! lustig brannte das Feuer im Backofen wie sonst.

Einst arbeitete ein junger Mann in der Nähe des Dorfes in einem Steinbruch. Neben demselben befand sich eine Wiese, wo das Gras ziemlich hoch emporgeschossen war, so daß es eine gute Weide für das Vieh war. Als es anfing dunkel zu werden, kam ein ungeheuer, großer Vogel auf den Arbeiter zugeflogen, um ihn aus der Gegend zu vertreiben. Der junge Mann machte das hl. Kreuzzeichen und der Vogel verschwand. Jedoch kam der Vogel noch zweimal zurück. Da wurde es dem jungen Mann bang, und er trat den Heimweg an. Sein Weg führte ihn eine kleine Strecke durch den Wald. Als er aus demselben hinaustrat, kam »d'âl Bocken« mit ihrer Kuh daher, um dieselbe auf die Weide zu führen. Da dachte der junge Mann, wie er später erzählte: »Die alte Hexe hat dich heute vertrieben, um ihre Kuh ungesehen auf die Wiese neben dem Steinbruch treiben zu können.«


Lehrer N. Massard zu Medernach

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 458-459.
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