[249] 155. Das heilige Kreuz zu Gammerage bei Geeraerdsbergen.

Histoire d'un morceau de la vraie croix, honoré à Gammerage. o.J.


Philipp der Gute, der edle Graf von Flandern und Herzog von Burgund und Brabant, schwur einst bei einem Gastmahle, welches er zu Lille gab, daß, wolle der König von Frankreich sein Land in Ruhe halten, er wegziehen werde, um gegen die Türken zu kämpfen. Nicht lange nachher zog er auch hin, und zwar an den Hof Kaiser Friedrichs, mit dem er sich verbünden wollte. Er war geleitet von einer großen Anzahl von Rittern und Herren, und unter diesen befand sich auch der Graf von Gammerage.

Der Kaiser wollte aber nichts mit dem Zuge zu schaffen haben, und da der gute Philipp nicht gut allein nach dem heiligen Lande ziehen konnte, so mußte er unverrichteter Sache zurückkehren. Zum Lohne aber für seinen frommen Eifer empfing er ein großes Stück vom heiligen Kreuze, und das schenkte er dem Grafen von[249] Gammerage, der es alsbald in ein schönes silbernes Kreuz schließen ließ.

Hundert und einige Jahre später entstanden Kriege in dem Lande, und ein Priester barg das Kreuz an einem allen Einwohnern unbekannten Orte; er starb auch, sonder daß ein anderer wußte, wo er die Reliquie versteckt hatte. Erst lange nachher fand man sie wieder, und zwar auf folgende Weise.

Zwei Brüder aus Gammerage hatten in einem Streite einen ihrer Freunde ermordet und flüchteten aus dem Lande. Viele Jahre irrten sie unstät umher, bis sie eines Tages im Lande Preußen einen Einsiedel trafen, welcher auf dem Gipfel eines Berges wohnte. Sein frommes und heiliges Wesen erweckte Zutrauen in ihnen, und sie faßten Muth und beichteten ihm ihre schwere Sünde und begehrten seinen Rath, was sie thun sollten. Der Mann Gottes erhob seine Stimme und sprach, daß auf Vorbitten ihrer Aeltern das schwere Verbrechen ihnen vergeben wäre und sie bald den Gnadenbrief empfangen würden. Alsdann fragte er sie, ob sie nicht einen Weiler kännten, welcher Sankt Paul von Gammerage hieße und in dessen Nähe sich ein Wasser befände, welches er sehr genau beschrieb. Die Brüder antworteten, sie kännten den Ort sehr wohl und seien daselbst geboren. Da fuhr der Einsiedel fort: »Dann gehet ruhig zurück in euer Land und grabet am Tage nach eurer Ankunft in dem sumpfigen Wasser; dort sollet ihr die Reliquie vom Kreuze finden, welche man verloren glaubt. Und damit ihr meinen Worten desto mehr Vertrauen schenket, so gebet acht, wenn ihr den Fuß über die Gränze von Brabant setzet; denn dort kommt euch der Bote entge gen, welcher eure Gnadenbriefe trägt.«

Und also geschah es. Kaum hatten die beiden Brüder den Fuß über die Gränze gesetzt, als sie den Boten[250] fanden. Am Morgen nach ihrer Ankunft begannen sie zu graben; da sie aber nach vieltägigem Arbeiten nichts fanden, gaben sie das Werk auf. Einige Umwohner des Ortes hatten schon lange Zeit, im Winter, wie im Sommer bemerkt, daß eine Menge Vögel über dem Sumpfe die schönsten Weisen sangen, und dieß ermuthigte sie, die Nachgrabungen fortzusetzen. Und was sie gehofft hatten, das wurde ihnen: sie fanden das silberne Kreuz.

Später, bei erneuerten Kriegen, wurde das Kreuz abermals vermißt. Als der Friede wieder hergestellt war, sahen mehre Leute Nachts einen hellen Schein, welcher von der Kirche ausging und über einer Quelle, genannt Houwerek, verschwand. Alsbald suchten sie an dem Orte nach und fanden zu ihrer großen Freude die Reliquie wieder, und zu ihrer Seite zwei brennende Fackeln. Zum Andenken daran taucht man noch jährlich am ersten Rogationstage das Kreuz in die Quelle.

Die Schützengesellschaft von Gammerage führt das Kreuz in ihrem Banner; sie ist eine der ältesten des Landes.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 249-251.
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