[270] 172. Unsere liebe Frau von Scherpenheuvel.

Mündlich.


Der Ort, wo nun die Kirche von Scherpenheuvel (Scharfhügel) steht, war im zwölften Jahrhundert noch öde und einsam. Eine alte Eiche stand auf dem Hügel, und an der Eiche war seit undenklichen Zeiten ein Muttergottesbildchen aufgehangen. Es geschah aber, daß ein Hirte in der Nähe die Schafe weidete und, um sich vor der brennenden Sonnenhitze zu schützen, unter den Schatten der Eiche flüchtete. Da fand er, daß der Sturm das Bildchen auf die Erde geworfen hatte, und da er ein gar frommer Mann war, so wollte er es nicht so liegen lassen, sondern mit sich nach Hause nehmen und in seiner Kammer vor Wind und Regen sichern. Er barg es unter seinem Kleide und stand auf, um die Heerde nach der Hürde zurückzuführen, aber er konnte nicht von der Stelle und stand wie versteinert; kein Glied vermochte er zu rühren.[270]

Der Abend nahte schon und die Nacht brach ein, und der Herr des Hirten sah weder von diesem noch von der Heerde die geringste Spur. Das däuchte ihm wunderlich und er fing an, zu besorgen, daß beiden ein Unglück überkommen sei; darum ging er aus, um sie zu suchen. Nach langem Umherwandern kam er endlich auch zu der Eiche und fand dort den Hirten steif und starr, und fuhr ihn mit harten Worten an, was er mache. Da erzählte der Hirte alles, und der Herr nahm ihm das Bild unter dem Kleide weg und hing es wieder am Baume auf; zur selben Zeit lösten sich des Hirten Glieder und er war wieder frisch und frei.

Bald wurde das Wunder in der Gegend kund, und von allen Seiten strömte man nach dem Bilde. Um 1580 wurde es bei den Unruhen, welche alsdann die Gegend verwüsteten, genommen, aber die Mirakel dauerten fort. Später hat man ein anderes Bild an die Stelle gesetzt, und dieß wurde gleichfalls wunderthätig und ist noch heute als solches berühmt.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 270-271.
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