[625] 536. Die Pferde zu Dünkirchen.

[625] Mündlich von R. van Maldeghem.


Zu Dünkirchen lebte einmal ein reiches Ehepaar, welches herzliche Liebe zu einander trug. Es geschah aber, daß die Frau plötzlich starb, und der Mann ließ sie köstlich kleiden, steckte viele goldene Ringe an ihre Finger und ordnete ein feierliches Todtenamt an, nach dessen Ende man sie in der Kirche einsenkte.

Der Todtengräber machte sich aber in der Nacht auf und ging in die Kirche und öffnete das Grab, um der Frau die Ringe von den Fingern zu ziehen. Als er dieß nicht vermochte, zog er ein Messer aus der Tasche, um ihr die Finger abzuschneiden. Er hatte aber kaum einen leisen Schnitt gewagt, als die Frau zuckte und sich erhob, denn sie war nicht todt, sondern hatte nur in einem tiefen Schlafe gelegen. Der Todtengräber stürzte ihr zu Füßen und weinte und wußte nicht, was anfangen; sie beruhigte ihn jedoch und sprach: »Bekümmert euch nicht sehr darum, ich danke euch mein Leben; was den Finger betrifft, so kann ich schon sagen, ich hätte ihn abbeißen wollen.« Darob tröstete sich der Todtengräber und half ihr aus dem Grabe, und sie ging nach Hause und klopfte an der Thüre. Ihr Mann trat ins Fenster und fragte: »Wer ist da?« und sie entgegnete: »Ich bin es, deine Frau; öffne mir doch die Thüre.« Da sprach der Mann: »Das kann ich nicht glauben und das ist auch so viel möglich, als daß meine Pferde hinauf auf den Söller laufen und zum Fenster hinaus schauen.«

Kaum hatte er das Wort gesprochen, als er die Pferde auf der Treppe hörte und ihnen nachlaufend sah, daß sie den Kopf durchs Fenster steckten. Da eilte er[626] hinunter und öffnete seiner Frau und drückte sie unter vielen Thränen an sein Herz.

Zum Andenken daran ließ er zwei Pferdeköpfe in Stein hauen und diese an der Höhe des Giebels neben den Söllerfenstern einmauern, wo sie noch heutigen Tages zu schauen sind.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 625-627.
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