Der Zeichendisput

[89] Ein indischer Prinz kam nach Holland und wollte auch die Leidener Universität besuchen. Die Studenten wollten ihm alle Ehre erweisen und zu gleicher Zeit einen guten Eindruck ihrer Universität beibringen. Als Bauern verkleidet reisten sie ihm entgegen. In einem Dorfe redeten einige von ihnen den Prinzen auf Lateinisch, in einem zweiten einige andere auf Griechisch, in einem dritten wieder einige auf Hebräisch an. Da war der Prinz ausserordentlich erstaunt. »Wenn schon die Bauern in diesem Lande so gebildet sind, wie müssen da erst die Leidener sein,« sagte er, »und dann wird es dort unter den gelehrten Professoren wohl auch einen geben, der die Geberdensprache zu reden versteht.« »Gewiss,« wurde ihm geantwortet. »Dem möchte ich wohl gerne einmal begegnen,« sagte der Prinz wieder, »ich selber habe nämlich auch ein besonderes Studium dieser Sprache gemacht.« Man versprach nun, ihm Gelegenheit zu geben, sich auch in dieser Sprache zu unterhalten. Nun hatten die Studenten einen gewissen einäugigen Kees als ihr Faktotum in ihrem Dienste; dieser wurde von den Studenten gerufen, und nachdem man ihn als Professor gekleidet hatte, wurde er beauftragt, sich genau nach den Vorschriften zu betragen: er solle einem Herrn begegnen, dürfe aber kein Wort reden, sondern nur Geberden machen. Jetzt wurde dem orientalischen Prinzen mitgeteilt, dass der Professor der Geberdensprache bereit sei, ein Kolloquium mit ihm zu halten. Als sich die beiden zur bestimmten Zeit und am bestimmten Orte eingefunden hatten, verbeugte man sich gegenseitig, und der Prinz steckte éinen Finger empor, worauf Kees zwei erhob. Darauf steckte der Prinz drei Finger empor, Kees aber zeigte ihm die geballte Faust. Der Prinz hielt dem Kees eine Apfelsine vor. Kees aber holte ein Stück Brot aus seiner Tasche und zeigte ihm dasselbe. Als die Unterredung damit beendet war, bezeugte der Prinz den Studenten seine grosse Zufriedenheit über den in der Geberdensprache so überaus erfahrenen Professor. »Denn,« so sagte er, »wir haben eine tiefsinnige Unterredung über theologische Sachen geführt. Ich sagte ihm: ›Es gibt nur einen einzigen Gott: Allah,‹ da antwortete er, indem er zwei Finger empor hob: ›Und dennoch glaubet ihr, dass Mohammed der Prophet als zweiter neben ihm steht.‹ Da erhob ich drei Finger und sagte damit: ›Aber ihr Christen glaubt auch an die Dreieinigkheit.‹ Da erhob er die geballte Faust und besagte damit: ›Und diese drei sind Eins‹ (1. Joh. 5, 7).[89] Da holte ich eine Apfelsine aus der Tasche hervor und versicherte ihm damit, dass wir doch denselben Gott erkennen, der die Welt geschaffen und alles so schön gemacht hat; er seinerseits zeigte mir ein Stück Brot, damit andeutend: ›Der Mensch lebt nicht allein von Brot, sondern von einem jeglichen Worte Gottes‹ (Luk. 4, 4). – Nachher wurde aber der Kees von den Studenten befragt, was er denn eigentlich mit dem fremden Herrn gemacht habe. ›Der verfluchte Kerl!‹ antwortete Kees. ›Er hat angefangen mich tief zu beleidigen, indem er, einen Finger emporsteckend, sagte: »Nur ein Auge hast du.«‹ Ich erwiderte unmittelbar, zwei Finger in die Höhe steckend: ›Und ich sehe mit meinem einen Auge gerade so viel wie du mit den zwei.‹ Er aber steckte drei Finger empor, womit er offenbar sagen wollte: ›Wir beide haben aber doch nur drei Augen.‹ Da wurde ich böse und zeigte ihm meine geballte Faust. Er aber wollte mich versöhnen, indem er mir eine Apfelsine darbot. Da sagte ich, ein Stück Brot aus meiner Tasche nehmend: ›Kerl, friss du Brot,‹ und damit kehrte ich ihm den Rücken.« –

Quelle:
Caland, Wilhelm/Bolte, Johannes: Der Schwank vom Zeichendisput in Litauen und Holland. In: Zeitschrift für Volkskunde 24 (1914) 88-90, S. 89-90.
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