Der Ritt in das vierte Stockwerk.

[148] Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne, von denen zwei für klug galten, der dritte für dumm. Als er im Sterben lag, sagte er zu seinen Söhnen: »Wachet an meinem Grabe, wenn ich bestattet bin, jeder eine Nacht.« Sie versprachen es; doch als die erste Nacht kam und der Aelteste zuerst die Wache halten sollte, befiel ihn Angst und er wollte nicht. Da sagte der Jüngste:[148] »So will ich für Dich hingehen und wachen«. Das geschah. Um Mitternacht öffnete sich das Grab, der Vater stand auf und gab dem Sohne drei Ruthen, welche dieser wohl bewahrte. Den Brüdern aber erzählte er davon nichts. Als die nächste Nacht herankam, und nun der zweite Bruder wachen sollte, machte dieser es ebenso wie der älteste, mochte nicht hingehen und ließ statt seiner wieder den jüngsten wachen. Als dieser nun am Grabe stand, öffnete sich das Grab abermals, der Vater stand auf und gab ihm ein Knäul Garn, welches er wohl bewahrte.

Nun war in derselben Stadt ein König, der hatte eine Tochter, und diese wohnte im Schlosse im vierten Stock und ließ bekannt machen, daß nur derjenige ihr Mann werden könne, der zu Pferde zwei Mal die vier Stock hoch in ihr Zimmer kommen werde; zum Zeichen, daß er es gethan, werde sie ihm das erste Mal ihr Taschentuch und das zweite Mal ihren Ring geben. Viele Prinzen und Edelleute hatten es bereits versucht, an der Mauer hinaufzukommen, aber noch war es keinem gelungen.

Nachdem nun der jüngste der drei genannten Brüder schon zwei Nächte für die älteren Brüder am Grabe des Vaters gewacht hatte, kam die Reihe an ihn selbst, und so müde er war, begab er sich nach dem Kirchhof, um des Vaters Auftrag zu erfüllen. Das Grab öffnete sich abermals, der Vater stand auf, belobte den Sohn wegen seiner Treue und sagte: »Du weißt doch von der Prinzessin, die keinen andern Mann haben will, als denjenigen, der zu Pferde die vier Stock hoch zu ihr hinaufreitet. Nimm die drei Ruthen, geh an den Eichenbaum im Garten, schlage mit den Ruthen auf seinen Stamm, und Du wirst dann schon sehen, was Du weiter zu thun hast«.

Den andern Tag, als die Brüder zusammen waren, sprachen sie auch von der Prinzessin, und die beiden Aeltesten kamen auf den Gedanken, es mit dem Reiten zu versuchen. Sie kauften sich schöne Pferde und prächtige Anzüge und sagten ganz verächtlich zu dem Jüngsten: »Du bleibe nur zu Hause und füttere die Schweine und heize den Ofen.«

Als aber die Brüder weg waren, nahm er die drei Ruthen, ging an den Eichenbaum, klopfte dreimal auf den Stamm und sagte dazu: »Eichenbaum, öffne dich!« Sogleich öffnete sich der Baum, und es waren darin die prächtigsten Kleider; auch stand da ein gesatteltes goldenes Pferd. Der junge Mann zog nun sogleich seine Kleider aus, legte die schöneren an, setzte sich auf den goldenen Schimmel und ritt an das Königshaus. Es waren dort zu demselben Zwecke viele Prinzen anwesend, er aber war der schönste, hatte auch das prächtigste Pferd, und als er den Versuch wagen wollte, die vier Stock hinaufzureiten, traten alle zurück und ließen ihn vor. Es gelang ihm auch hinaufzukommen, er gelangte in das Zimmer der Prinzessin und bat sich das Taschentuch aus. Sie gab es ihm auch gern, voller Freude, daß es ein so hübscher[149] schmucker Jüngling war. So ritt er denn freudigen Muthes zurück, wechselte in dem Eichenbaum seine Kleider, ließ auch das Pferd und das Taschentuch dort und ging an seine gewöhnliche Arbeit, damit die Brüder, wenn sie nach Hause kämen, nichts merken sollten. Als die Brüder zurückkamen, spotteten sie seiner wieder und sagten: »Wenn Du wüßtest, was für einen schönen Prinzen wir gesehen haben!« Darauf gab er zur Antwort: »Die Klugen sehen es bloß, aber die Dummen besitzen es«. »Was? Du denkst wohl, der Prinz war auch so ein Dummer wie Du?« sagten sie und verspotteten ihn noch mehr.

Den andern Tag ritten die Brüder wieder zu dem Schlosse, und als sie weg waren, ging der jüngste an den Eichenbaum, zog sich wieder die schönen Kleider an, bestieg den goldenen Schimmel und ritt nach dem Schlosse. Der Ritt an den Mauern hinauf gelang ihm, wie am Tage zuvor, und er erhielt von der Prinzessin den Ring. Auf dem Rückwege schoß Jemand auf ihn und verwundete ihn am Fuße.42 Als er nach Hause kam, verwahrte er Roß und Kleider, Taschentuch und Ring wieder in dem Eichenbaum und that, als wenn nichts vorgefallen wäre.

Nun wollte die Prinzessin gerne den Namen des Prinzen wissen, der sie erobert hatte, und da sie gehört hatte, daß er verwundet sei, ließ sie im ganzen Lande nach allen Lahmen forschen, jeder Lahme sollte zu ihr gebracht werden. So hoffte sie ihn sicher zu erkennen. Die Abgesandten kamen auch in das Haus der drei Brüder, wo ihnen die beiden Aeltesten sagten, ihr Bruder sei zwar lahm, der werde es ja aber auf keinen Fall sein. Die Abgesandten nahmen ihn jedoch mit und brachten ihn zu der Prinzessin. Diesmal sah ihn die Prinzessin in seinem gewöhnlichen, sehr schmutzigen Anzuge, da er aber der Wunde nach der rechte war, so weinte die Prinzessin, daß sie einen so häßlichen Mann haben sollte. Da ging er an den Eichenbaum, zog die prächtigen Kleider an, bestieg den goldenen Schimmel und schickte sich an, zu der Prinzessin zurückzureiten. Da kam noch ein Knecht mit sechs goldenen Schimmeln und zwölf silbernen Stuten mit zwölf silbernen Füllen, die ihm von nun an auch gehörten. Als ihn die Prinzessin jetzt sahe, er auch das Taschentuch und den Ring vorzeigte, freute sie sich sehr, und es wurde gleich Hochzeit gemacht, und ich war auch auf der Hochzeit und habe Bierchen getrunken u.s.w.43 (Aus Klein-Jerutten.)

42

Vgl. Grimm, Kinder- und Hausmährchen, Bd. 2, S. 249.

43

Ein Seitenstück zum Aschenbüttel; Grimm, Kinder- und Hausmährchen, Bd. 1, S. 109.

Quelle:
Toeppen, M.: Aberglauben aus Masuren, mit einem Anhange, enthaltend: Masurische Sagen und Mährchen. Danzig: Th. Bertling, 1867, S. 148-150.
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