2. Der schlaue Bettler und der Menschenfresser.

[121] Ebenfalls in Scarl war einmal ein Bettler, der verirrte sich im Walde und kam zu einer Höhle; in dieser wohnte ein halbblinder Riese, der war ein Menschenfresser; dessen Frau aber, die er einst aus einem Dorfe geraubt hatte, war ein gutes Weib, der es leid that, daß ihr Mann ein Menschenfresser war. –

Sie war allein zu Hause, als der Bettler kam, und sie gab Diesem zu essen und zu trinken, so viel er wollte. – Als er sich's[121] am Besten schmecken ließ, hörten sie vor der Höhle ein erschreckliches Schnaufen und schwere Tritte; das war der Menschenfresser. Der Bettler zitterte am ganzen Leibe; aber die Frau hieß ihn schnell unter das Bett kriechen, wo er sich versteckte.

Der Riese kam herein und warf das Holz, das er für den Herd gesammelt, auf den Boden, daß die ganze Höhle erbebte, und dem Bettler Hören und Sehen verging. Dann spürte er überall herum und sagte dabei in Einem fort: »I riech' Menschenfleisch, i riech' Menschenfleisch.« Nicht lange, so hatte er den armen Mann gefunden und zog ihn hervor. »Den sollst Du diesen Abendbraten«, herrschte er seine Frau an. »Aber vorher sollst Du mich noch bedienen, kleiner Kerl«, fuhr er fort, »zeig' her, was Du kannst.« Da mußte der Bettler ihm zuerst die Stiefel ausziehen, dann das haarige Gesicht waschen, darauf den Kopf kämmen und zuletzt kochen. Das verstand er, denn er hatte immer sein Essen selbst sich bereitet und er kochte dem Menschenfresser eine großmächtige Schüssel voll Nudeln. Die schmeckten dem Riesen, denn er hatte Dergleichen noch nie gegessen; er wurde ganz freundlich und hieß den Bettler mithalten. Dem war's aber gar nicht um's Essen; er that nur so, und stopfte Nudel um Nudel in seinen Bettelsack, den er sich vorn umgebunden hatte. Als die Schüssel leer war, sagte der Riese: »ich möcht' noch mehr«, »ich möchte auch noch mehr,« entgegnete der Bettler. »Schaff' her, oder ich fresse Dich!« schnarrte der Menschenfresser. »Ich weiß einen Rath,« meinte der listige Bettler, »wir müssen uns die Bäuche aufschneiden, so können wir wieder von vorn anfangen.« Der Andere war's zufrieden, wenn der Bettler den Seinigen zuerst aufschneide. Dieser holte ein Messer aus der Küche, schnitt seinen Bettelsack auf und schüttete die Nudeln auf die Schüssel.

Der Riese fiel sogleich d'rüber her und hatte den ganzen Vorrath im Nu verschlungen, fing aber gleich wieder an: »Ich möcht' noch mehr.« »Ich auch,« sagte der Bettler wieder. »So ist's an mir,« sprach der dumme Riese, nahm das Messer und schnitt sich den Bauch auf, von unten bis oben, so daß er sogleich todt hinfiel.

Und der Bettler hat ihn nicht verbunden, sondern ist froh gewesen, daß er so gut davon gekommen ist. Die gute Menschenfressersfrau aber war froh, daß sie den Unmenschen los geworden, und gab dem Bettler alle Schätze ihres Mannes, und er nahm sie zu seiner Frau.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 121-122.
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