Das Lichtensteiner-Bödeli.

[63] Ein Haldensteiner stand in holländischen Diensten einmal auf der Wacht, und da kam ihn auch die Sehnsucht nach der lieben Heimat mächtig an. Er wurde abgelöst und ging nach der Kaserne.[63] Am Morgen drauf klagte er einer ihm befreundeten Frau sein Sehnen nach den Alpen und schilderte ihr sein Heimatdorf. Lächelnd hörte sie ihn an und erwiederte: »Haldenstein kenne ich so gut wie Du, denn noch ›nächtig‹ haben wir auf Lichtenstein getanzt, und heute Nacht gehen wir wieder hin.«

Der Soldat sah sie groß an. »Wenn Du mit willst, kannst mit; wir holen dich ab.« Da er diese Nacht wachefrei war, nahm er den Vorschlag an.

Richtig, gegen die Zwölfe kam die Frau mit einer Kamerädin, und die brachten eine Wanne mit. »S'isch Zit,« sagte die Eine. – Er ließ sich die Augen verbinden und setzte sich, wie ihm geheißen war, in die Wanne; die zwei Weiber nahmen die Wanne auf, und – fort gings – durch alle Lüfte – direkt Lichtenstein zu.

Da, wo das Schloß Lichtenstein steht, wurde er abgesetzt, und von dort aus konnte er die ganze Nacht zusehen, wie eine Schaar Hexen auf dem grünen Platze unter ihm so wunderbar tanzten und wie die Musik so schön spielte. – Aber er durfte die ganze Nacht kein Sterbenswörtlein von sich geben. – Gegen Morgen kamen die zwei Hexen mit der Wanne wieder und holten ihn ab. »S'isch Zit« – und fort – gings wieder – Holland zu.

Auf diese Weise machte er öfters die Reise von Holland nach Lichtenstein und wieder nach Holland zurück.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 63-64.
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