Das Ungeheuer Lüscher-See.

[32] In einem kleinen Thälchen auf dem Heinzenbergergrate liegt der kleine Alpsee Lüsch; er ist von Haidekraut und Alpenrosen bekränzten Hügeln umgeben. Dieser kleine See ist in seiner lieblichen Umgebung ein Bild der Ruhe; vor einem nahen Ungewitter aber, noch ehe schwarze Wolken den Himmel rings umnachten – wenn der Föhn sich wilder erhebt und grausam pfeift, werfen die eigenthümlich geformten Bodengestaltungen einen Wiederhall zurück, der fernem Brüllen ähnlich ist und weithin gehört wird. – Da sagen die Heinzenberger und Savier: »Der Lüschersee brüllt!« – hängen die Sense auf und tragen das Heu halb dürr in die Scheune. – Von ihm geht die Sage:[32]

Zur Zeit, da die Hirten mit den stolzen Burgherren und Raubrittern um ihre Freiheit kämpften, weideten friedlich gesinnte Bauern ihre Kühe auf dem saftigen Rasen am Lüschersee und hatten ihre Freude am Treiben und harmlosen Ringen ihrer Heerde.

Aber oben auf der Höhe stand ein Trupp Domleschger Burgherren, die von der Steinbocksjagd kehrten; die schauten hernieder auf Hirten und Heerde, und es kam ihnen in den Sinn, an denen ihren Schabernack auszuüben. – Sie überfielen mit rohem Geschrei die wehrlosen Hirten, sprengten sogar mit Lanze und Schwert die armen Kühe in den See und der verschlang bald und erbarmungslos die zum Tode verwundeten Opfer; die Bauern sahen mit Wehmuth ihre Habe versinken; in ihr Wehklagen mischte sich das Hohngelächter der rohen Sippe.

Das ächzende Brüllen der Thiere war kaum verstummt, als plötzlich der See anfing, unruhig zu werden, die Wasserfläche seltsam und gewaltig sich zu bewegen begann, wild aufrauschte und aus dem weißen Schaum ein grauenerregendes Ungeheuer ans Ufer sich wälzte. Diese gräßliche Erscheinung hatte die Gestalt eines ungeheuren Kuhbauches (»Butatsch cun ilgs«), um und um dicht besetzt von tausend und tausend großen Augen, die unbeweglich alle auf nur einen Punkt gerichtet, ein entsetzenerregendes, Mark und Bein schmelzendes Feuer sprühten.

Von dem höllischen Blicke festgebannt, konnten die Frevler nicht entfliehen, und Einer nach dem Andern wurde von dem Ungeheuer, das sich auf sie zuwälzte, erdrückt. – Die zu Tode erschrockenen Hirten aber blieben verschont und sahen, wie das Ungeheuer ans schaumbedeckte Ufer zurückrollte und in die tobenden Wellen des brüllenden See's sich senkte, die über ihm zusammenschlugen – und der See wieder ruhig wurde, wie er es zuvor gewesen.

Seit diesem Gottesgerichte lebt die schauerliche Sage vom »Butatsch cun ilgs« im Munde des Heinzenberger Volkes fort, und alle hundert Jahre soll der See sein Ungethüm wieder geben in Schrecken von zerstörenden Naturereignissen, welche die schöne, fruchtbare Halde verwüsten.[33]

Gräßliches verbarg die bodenlose Tiefe des Alpsee's, »dessen Wasserfluthen bis in die Mitte der Erdkugel reichen, wo ewige Feuermeere brennen.« – Da stieg wieder einmal der rächende Geist, der »Butatsch«, aus der brüllenden Fluth, wälzte sich verderbenvoll die Halde hinab und grub dem rasenden »Nolla« tief, tief in die Abgründe der Erde sein Bette und verschwand.

Zum dritten Male, wieder nach hundert Jahren, stieg er aus dem Schooße der Erde, rollte in das sonst silberhelle Bächlein, das so friedlich dahin rauschte, die blühenden Auen bewässerte. Nun aber hatte der fürchterliche »Butatsch« in dasselbe sich gebettet und kugelte nicht nur das Rinnsal hinunter, sondern wurde dabei noch immer größer und größer und riß in seinem Laufe ein ungeheures Tobel auf. Das kleine unscheinbare Bächlein ward zum reißenden Bergbache, der das Tobel mit seinem dicken Schlamme, Steinen und Holzblöcken füllte und im Weiterlaufe auch in der Ebene, am Fuße des Abhanges, großen Schaden anrichtete. Das geschah in gräßlicher Gewitternacht.

Von dieser Schreckensnacht oder »starmentusa Notg« wird noch jetzt viel erzählt. Den Butatsch aber zu sehen, ist Niemand Willens, denn Niemand will dem grausig leuchtenden Blick der tausend und tausend starren Augen begegnen, der das Blut gerinnen macht und die tiefste Ohnmacht bewirkt.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 32-34.
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