Der Fängge als Menschenfresser.

[29] Ein Büeble und ein Mädchen, die, um Erdbeeren zu pflücken, ausgegangen waren, verirrten sich im Walde zu Conters. Es fiel die Nacht ein, und die zwei armen Kleinen wußten nun gar nicht mehr, wo aus und wo ein. Plötzlich schimmerte ihnen ein Lichtlein entgegen; sie liefen über Stock und Stein auf dasselbe zu und kamen in die Höhle eines Waldfänggen. Sie klagten dem anwesenden Weiblein ihre Noth und jammerten, daß sie nicht mehr zur Mutter heim könnten. Das Weiblein hatte Mitleid mit den hülflosen Dingern, versteckte sie in einen Hühnerstall und deckte sie mit Stroh zu, da ihr Mannli ein Kinderfresser war. Nach einer Weile kam der Wilde in die Höhle und schnupperte aus weitgeöffneten Nasenlöchern, sein unförmlich breites Gesicht gegen den Hennenstall gewendet. »I schmeck, i schmeck Menschafleisch,« grinste er. »Du Narr,« entgegnete die Waldfänggin, »du schmeckst nu Hennadreck.« Der Wilde gab sich endlich zufrieden und trottete brummend aus der Höhle. – Darauf öffnete die mitleidige Waldfänggin den Hennenstall, ließ die geängstigten Kleinen aus und begleitete sie durch den Wald bis auf den Weg, der sie schnurstracks heim zur Mutter führte. Man kann sich denken, wie viel das Büble und das Mädchen der Mutter zu erzählen hatten von dem finstern Walde, dem wilden, bösen Mannli, das sie fressen wollte, und von dem guten Weiblein, das sie gerettet.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 29-30.
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