Der Tobel-Geist.

[50] Hart unterm Staffel in der Alp Fanin ist ein tiefes Tobel, aus welchem man Nachts zuweilen ein schreckliches Geheul und grausiges[50] Aechzen und Stöhnen vernimmt. Endlich sieht man, wie ein Mann mit ungeheurer Mühe eine todte Kuh den steilen Abhang herauf nach sich zieht; oben am Abhange angelangt, stürzt er dieselbe wieder in den Abgrund hinunter und jauchzt und jodelt dabei, daß es in den Bergen erhallt. – Dieser Mann hütete einst als Hirte in der Alp Fanin das Vieh und ließ, von reichen Nachbarn bestochen, deren Kühe auf einer »Grüne« weiden, wo die besten Kräuter sproßten, verwehrte aber der übrigen Habe den Zugang zu diesem Futterplatze. Eines Tages brach aber doch eine andere Kuh aus, die einer armen Wittwe gehörte und die zog, der Wachsamkeit des Hirten ungeachtet, nach der verbotenen Weide. Das verdroß den ungerechten Hirten, und der sann auf Abhülfe. Nachdem die Kühe der Reichen abermals auf den Futterplatz getrieben worden, legte der Hirte Rinde von einer frisch geschälten Tanne auf den Pfad; die Kuh der Wittwe kam richtig wieder, glitt aber auf der Rinde aus und stürzte in den Abgrund hinunter. – Nun muß der Hirte umgehen und seinen Frevel schrecklich büßen: »Ist die Kuh auf der frischen Rinde ausgeglitscht und in den Abgrund gestürzt, springt er aus dem Gebüsche hervor, schaut vom überhängenden Felsen in die gähnende Tiefe hinunter, jauchzt, daß man es über dem Berge noch hört und klatscht in die Hände – bald aber, sobald das arme Thier zerschellt in der Tiefe verendet, fängt er an zu ächzen, rauft sich die Haare und klettert die steile Felswand hinunter. Bei der Kuh angelangt, legt er ihr einen Strick um die Hörner, um sie mit unendlicher Anstrengung das Tobel heraufzuziehen. Endlich oben angelangt, lacht er dämonisch helle auf, nimmt den Strick ab und stürzt die Kuh in das Tobel hinunter, um seine Aufgabe von vorn zu lösen, und so drei Mal nach einander. – Alle zehn Jahre einmal begegnet er im Tobel einem Manne, der auf dem Rücken einen Hahn trägt und unter dessen Last gar ›erbärmlich laid‹ thut, noch viel schrecklicher ›jesmet‹ als der Hirte mit dem Heraufziehen seiner verwünschten Kuh. Er frägt alle Male seinen Leidensgefährten um die Ursache, warum der kleine Federmann ihn so plagen müsse, und erhält zur Antwort, daß er zur Strafe für ebenfalls ungetreue Hut eingesperrt gewesen, beim ersten Hahnenschrei den Wächter[51] getödtet und entsprungen sei. Seither habe seine Seele keine Ruhe mehr, und er müsse geisten, und das alle zehn Jahre einmal, und den Hahn tragen, von dem jede Feder sicherlich schwerer wiege als die Kuh, die er (der Andere) bergauf ziehe. Jedes zehnte Jahr falle aber dem Hahn eine Feder aus, und sobald er aller Federn ledig sei, habe auch er endlich die ersehnte Ruhe erlangt.«

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 50-52.
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