Der versetzte Marchstein.

[49] Vor alten Zeiten gehörte die schöne Lampertsch-Alp in Zervreila den Valsern, nun aber in das Gebiet von Blegno. Die Sage, wie diese Alp an letzteres kam, ist die:

Mitte des siebzehnten Jahrhunderts hatte die Gemeinde Vals die jetzige große Kirche am »Platze« gebaut, welcher Bau die Einwohner in große Schulden brachte, weßhalb sie sich genöthigt sahen, zwei Alpen, nämlich Tomül und Lampertsch zu verkaufen. Letztere, die beste Alp des Thales, wurde angeblich für die geringe Summe von tausend Gulden an Blegno verkauft. Ein Advokat von Bellenz soll den Kaufbrief ausgefertigt haben, mit genauer Bezeichnung der Kaufbedingungen und Angabe der Grenzen; in demselben soll ausdrücklich bemerkt worden sein, daß die Alp auf der Ostseite bis zu einem gewissen siebenkantigen Steine, wo als Marche ein steinernes Kreuz stand, herausreiche, daß sie dagegen auf der Westseite nicht weiter gehe als bis zum »Hornbache«. – Von diesem Kaufbriefe wurden zwei gleichlautende Exemplare gefertigt und jede Part erhielt eines davon. Durch Unvorsichtigkeit oder Betrug ging[49] den Valsern ihres verloren, was denen von Blegno zu Ohren kam, und letztere nicht faul, fälschten ihr Schriftstück, indem sie in dasselbe hineinflickten, »sie gehet auf der Westseite ebenso weit als auf der Ostseite.« – Als nun die Blegner mit ihrem Vieh über den »Hornbach« rückten, übten die Valser Gegenrecht, worauf erstere behaupteten, die gekaufte Alp reiche ost- und westwärts gleich weit hin, das stehe in ihrem Kaufbriefe, am Hornbache stehe keine Marche. Die Vorsteher von Vals untersuchten die Sache und fanden auch keine Marche; diese hatte nämlich ein Blegner, nach Andern ein Misoxer, der bei einem Blegner diente, in den Bach hinunter geworfen. – Jetzt war freilich die Sache bald entschieden: Marche war keine da, und Schriften hatten die Valser keine mehr; der Prozeß fiel zu Gunsten der Blegner aus. – Der Bösewicht, der die Marche beseitigt hatte, fiel bald darauf in eine Gletscherspalte und endete so erbärmlich sein Leben. – Lange Zeit mußte er auf einem feurigen Schimmel reiten, bei allem Unwetter thalaus, thalein, und schreckte während der Nacht die Hirten und Heerden, bis er auf den Lenta-Gletscher hinauf verbannt wurde, wo er in alle Ewigkeit sein Unwesen treiben soll.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 49-50.
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