Der wilde Küher.

[24] Ein Fänggenmannli hütete viele Sommer hintereinander zu Conters die Heimkühe, ohne je irgend eine Belohnung anzunehmen. Nun wurden einmal die Bewohner des Dorfes einig, dem wilden Hirten für seine Dienste einen schönen Anzug zu geben. – Nie trieb dieser Wilde die Kühe bis ins Dorf, sondern nur bis zu einem Stalle oberhalb desselben; von dort kehrte er stets zurück in eine Waldhöhle, seine Wohnung; jeden Morgen aber wartete er beim nämlichen Stalle, bis die Leute ihre Kühe dorthin brachten, dann zog er mit der Haabe zur Weide, ins Dorf hinunter kam er niemals. – Zu diesem Stalle nun legten sie ihm eines Abends ein neues Kleid und beobachteten am folgenden Morgen im Geheimen, wie er ihr Geschenk aufnehme und wie dieses ihm anstehen würde. Er kam zur gewöhnlichen Stunde, die Kühe auf die Weide zu treiben, erblickte das Kleid, nahm dasselbe gleich zur Hand und versuchte es anzulegen. Lange Zeit konnte er mit dem neuen Staate nicht fertig werden, erst nach vielen Versuchen brachte er die Umwandlung zu Stande. Nun betrachtete er sich gefällig, hüpfte freudig in die Höhe, warf seinen Hirtenstab hoch durch die Luft von sich, nahm jauchzend bergan Reißaus und rief:


»Was wett au so 'ne Weidelamâ,

No mit de Chüene z'Weidela gâ.«


Damit verschwand er und ward seitdem nie wieder gesehen; auch gaben von da an die Kühe nicht mehr so viel Milch, als zur Zeit, da er sie gehütet.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 24.
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