Die Fänggin »Madrisa«.

[19] Wie die starken, wilden Mädchen nicht ungerne die Gesellschaft schöner, junger Sennen in den Alpen aufsuchten und ihre Heerden pflegten, sehen wir aus folgender Sage: Ein Jüngling von Saas fütterte eines Winters im Berge oberhalb des Dorfes seines Vaters Viehhabe. Der Sohn ließ lange Zeit nichts von sich hören, weßhalb der Vater, um nachzusehen, ob vielleicht ihm Etwas zugestoßen und wie es mit dem Futtervorrath stehe, sich aufmachte und nach der Alp ging. Er fand den Sohn in der Sennerei beschäftigt und war erstaunt über den reichen Vorrath an Milch, Butter und Käse; auch gewahrte er das schöne Aussehen des Viehes und zudem war der Futtervorrath weit größer, als er ihn erwartet hatte. Sein Blick fragte den Sohn um die Lösung des Räthsels. »Sieh', Vater, das hat meine Madrisa gethan: die hat mir geholfen die Habe füttern, sie hat Wurzeln und Kräuter gesammelt und die unter das Futter gestreut; darum ist das Vieh so schön, der Molken so viel.« Dies sagend, deutete er schweigend auf sein in der Ecke aufgerichtetes Lager, auf dem ein schönes, wildes Mädchen schlief, dessen lange, goldgelbe Haarflechten über die Lade heraushingen. – Ob dem Gespräche erwachte das Mädchen, erhob sich vom Lager und sprach zum Vater: »Ach, daß du kommen mußtest![19] wäre ich unerkannt geblieben, dein Sohn und ich hätten das Vieh hier gefüttert bis zum Frühlinge, da es auf die Weide geht, so aber kann ich da nicht länger bleiben; ungerne gehe ich zurück in Wald und Felsen, aber nun muß es sein; leb' wohl, mein Job.« – Und leichten Schrittes schwebte sie über den Schnee, den Felsenhörnern zu, die ihren Namen tragen, den der junge Senne vergeblich rief, als er im nächsten Sommer die Heerden in die Berge trieb.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 19-20.
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