Die Gemsenkäslein.

[22] Ein Fänggenmannli hauste in der Trockenhöhle oberhalb Camana in Savien, wo es eine recht hübsche Gemsenkäserei sich eingerichtet hatte. Er besaß zweihundert der schönsten Gratthiere, die er selbst gezähmt, so daß sie Morgens und Abends von selbsten in die Höhle kamen und sich melken ließen. – Ein armes, einäugiges Knäblein des Thales, das die Ziegen hütete, fand in der Höhle bei schlechtem Wetter Zuflucht und Speise. Die Gemskäslein seien so süß, daß sie Einem im Munde zergehen, sagte es einmal seinem Bruder. Dieser fragte, wie diese dann bereitet würden; dies[22] sei das Geheimniß des wilden Mannli's, antwortete das Kind; es müsse immer, wenn das Käsen angehe, unter einen Haufen Haidekraut sich verkriechen, dann singe das Mannli: »Einäugelein, schlaf' ein;« wache es wieder auf, so sei das Käslein jedesmal fertig. Als der hinterlistige Bruder dies vernahm, zwang er das Knäblein, mit ihm die Kleider zu tauschen; darauf ging er in den Kleidern seines Bruders selbst in des wilden Mannli's Höhle und setzte sich aufs Haidekraut. – In der Höhle sah es recht sauber aus, grünes Haidekraut lag auf dem Boden ausgebreitet, ringsum auf einem Steingesimse standen kleine Gebsen aus Tannenholz, die mit Gemsenmilch angefüllt waren; Kessel und Herd waren nirgends zu sehen. – Das wilde Mannli hielt den Buben für sein Einäugelein, ließ ihn unter das Haidekraut, auf dem er im Winkel saß, kriechen und sang: »Einäugelein, schlaf' ein.« Der schalkhafte Bube schloß das eine Auge zu und guckte mit dem andern unter dem Haidekraut hervor. Als aber das Mannli das muthwillige offene Auge gewahr wurde, gerieth es in Zorn und warf die Gebsen und deren Inhalt dem Buben an den Kopf. Hierauf verließ es mit seinen Gemsen die Höhle auf immer.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 22-23.
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