Die Hexe im Loris-Boden.

[62] Nicht weit vom Mayerhof in Obersaxen ist eine Wiesengegend, der »Lorisboden« genannt, auf dem mehrere Ställe stehen, in deren einem schon seit Jahrhunderten eine Hexe sich aufhält. Diese Hexe beginnt ihr Treiben bei Anbruch der Nacht, und erscheint in Gestalt einer Katze mit großen, feurigen Augen. Furchtbar klopft sie an allen Wänden des Stalles, rasselt mit den Kuhketten und jagt das Vieh in eine solche Angst, daß es nicht fressen mag, und das zu Zeiten, wenn man sie am wenigsten zu fürchten glaubt. Manchmal reißt sie auch ganze Stücke aus der Wand, daß es fürchterlich kracht, – doch am Morgen drauf ist die Wand wieder ganz und Alles ruhig. Weithin wird ihr Toben vernommen, und höchst ungerne geht Jemand bei diesem Stalle vorbei. Auch hat sich diese Katze mehrmals in den Halsring einer Kuh so eingezwängt, daß die Kuh zu ersticken drohte; kam aber der Bauer hinzu, dem der Stall gehörte, husch war sie fort und nicht mehr zu sehen. Der Bauer paßte ihr etliche Mal auf, erwischte sie aber nie, bis einmal, als sie vom übermäßigen Rumoren und Toben müde war, und sich wieder in die Halskette einer Kuh legte. Ihre Mattigkeit ließ sie aber den im Verstecke lauernden Bauern nicht gewahren. Dieser kam nun leise heran und schlug der Hexe den Unterkiefer mit einem Handbeile weg; sie ließ einen leisen Schrei, taumelte aber nicht lange und ward schnell unsichtbar. – Am andern Tage, als der Mann in den Mayerhof ging, vernahm er das Unglück, das über ein altes Weib gekommen, das in seiner Nähe wohnte, aber von Niemand gerne gesehen war; die sei, sagte man ihm, gestern von unbekannter Hand so arg geschlagen worden, und am gleichen Tage gestorben. Seit dieser Zeit hatte aber der Bauer auch Ruhe vor der wilden Katze auf Lorisboden.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 62-63.
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