Die Hexe zu Fetan.

[58] Einige Burschen, die in der Mitternachtsstunde von Klein-Fetan nach Groß-Fetan sich begaben, sahen, vom Mondschein begünstigt, auf einer Wiese an der Straße einen menschlichen Körper[58] am Boden liegen. Sie gingen hin, wendeten den Körper um, denn dessen Gesicht war der Erde zugewandt, erkannten sogleich ein armes, altes Weib aus Klein-Fetan und hielten die Arme für todt. Darauf trugen sie sie in ein nahestehendes Haus, legten sie in ein Zimmer, machten schnell Licht und sahen sich, ganz betroffen über diesen Fund, gegenseitig stillschweigend an, als sie in der Stube eine herumfliegende Biene gewahrten, die der Leiche sich näherte, und endlich in den offenen Mund derselben schlüpfte. Kaum war das Insekt verschwunden, schlossen sich die bleichen Lippen, und die gute Alte richtete sich auf, blickte erstaunt umher und mahnte die verdutzten Jünglinge, künftighin ihren Körper in Ruhe zu lassen, wenn sie sie wieder einmal irgendwo liegend fänden, damit die Biene zu ihr gelangen könne, das sei ihre Seele.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 58-59.
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