Die Rüfe-Hexe.

[54] Vor mehr als hundert Jahren wurde das Dorf Lenz von einer gewaltigen Rüfe überschüttet. Zur selben Zeit hauste hoch über dem Dorfe im Gebirge, wo die Rüfe losbrach, eine Hexe (ein Tobel-Ungeheuer oder Rüfe-Butz). Nicht lange Zeit vor dem traurigen Ereignisse, das Lenz bald treffen sollte, hörte man ein so lärmendes Wortgezänke im Gebirge oben, daß weithin die Tobel und Schluchten davon erhallten. Die Hexe wollte nämlich unter fürchterlichen Scheltworten die Rüfe bewegen, einmal loszufahren und das ganze Dorf drunten einzubetten. Die widerstand lange Zeit und wollte das Dorf möglichst schonen, brach aber doch endlich los und legte der Hexe zu Gefallen das Dorf zur Hälfte in Schutt und Steine. – Unschuldige Kinder sahen diese Rüfe-Hexe voll Ingrimm auf einem[54] entwurzelten Eichenstrunke sitzend, mitten in dem fluthenden Rüfengewässer und unter kopfüber stürzenden Felsblöcken durch das Rinnsal herabfahren.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 54-55.
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