Die Spinnerinnen in Vulpèra.

[14] Nahe bei Tarasp liegt der Hof Vulpèra; dort wohnte eine rechtschaffene, fleißige Bäuerin, die ihren Mann liebte und ehrte und auch ihre Kinder gut erzog. – Nun kamen an manchen Winterabenden aus dem Thälchen unterhalb des hohen Pic Pisoc zwei schöne Mädchen mit Spinnrädern nach Vulpèra, in weißen Kleidern, mit flachsblonden Haaren, und haben gar fleißig gesponnen; absonderlich gerne nahmen sie die Flachswickel der Bäuerin auf ihren eigenen Rocken und spannen ihn der feinsten Seide gleich. Dabei aber redeten sie nicht; nur wenn ein Faden brach, sagte die Eine: »Faden ab,« worauf die Andere einfach erwiderte: »Knüpf' an.« Waren ein Paar Spuhlen voll, wurden sie gehaspelt oder geweift, dann die schönen Garnstränge an die Wand gehängt und von der Bäuerin mit Wohlgefallen betrachtet. – Wenn ihre Stunde kam, erhoben sich die nächtlichen Spinnerinnen und traten den Heimweg an, ihre Spinnrädchen stets mit sich nehmend, allen Flachs, den sie gesponnen, aber immer der Bäuerin zurücklassend. – Diese gedachte nun, am Ende der Spinnzeit den beiden Mädchen dankbar sich zu zeigen, und rüstete an einem der letzten Abende ein großes Essen zu. An dem sollten nun die sämmtlichen Spinnerinnen in Vulpèra zu Ehren der fremden Spinnerinnen Theil nehmen. Letztere nahmen zwar Theil, waren aber ganz traurig gestimmt, daß sie schon scheiden mußten, denn ihre Zeit des Abschiedes auf immer, war nahe. – Zum Schlusse gaben sie der Frau einen Garnknäuel und sprachen: »Für deinen guten Willen, Lohn um Lohn,« gingen, und kamen niemals wieder. – Der Garnknäuel aber wurde niemals alle, die Bäuerin mochte so viele Stränge davon abhaspeln, als ihr gefiel.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 14.
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