Die Tante als Hexe.

[55] Ein alter Mann in Ruis im Oberlande erzählte, sein Vater sei gestorben gewesen, als er (der Knabe) noch klein war, und da habe er einmal die Mutter gefragt, was Jenem denn eigentlich auch gefehlt habe. Die Mutter berichtete ihm, das sei eine traurige Geschichte, aber ihm wolle sie dieselbe sagen; er sei durch Schuld der Tante ums Leben gekommen und zwar auf folgende Weise: »Dein Vater war ein großer, starker und muthiger Mann und ein geübter Jäger; er hatte sein Vieh, welches er selbst fütterte, auf dem Gute ›Schichieu‹, wo er dann oft auf die Fuchsenjagd ging und zu diesem Zwecke stets ein geladenes Schießgewehr in der Nähe hatte. Eines Abends kam ein großer Fuchs und ging vor dem Stalle langsam auf und ab, als wollte er spazieren gehen; am folgenden Abende kam er wiederum, als der Vater eben mit Heu aus der Scheune kam. Er ging nun in den Stall, holte die Flinte, legte an, aber der Schuß wollte nicht losgehen. Der Fuchs aber blieb dann stille auf den hintern Füßen und rieb sich mit den Vorderpfoten die Nase. Erzürnt ging der Vater in den Stall, um noch einen geladenen Stutzer zu holen, den er auch parat hatte, und legt wieder an. Nun aber, statt zu fliehen, kam der Fuchs immer näher, so nahe, daß er dem Vater ins Ohr sagen konnte: ›Ziele gut, mein Kaspar.‹ Erschrocken ließ der Vater das Gewehr fallen, denn er hatte die Stimme der Tante, die in einen Fuchs sich verwandelt hatte, erkannt.« Nach diesem verschwand das Thier. Todtenblaß kam dann der Vater heim und legte sich zu Bette, und mit Mühe konnte ich die Ursache seines Schreckens erfahren. Er starb, obwohl der stärkste Mann weitumher, nach drei Tagen in Folge dieses Schreckens, den ihm die Tante eingejagt hatte. – Ja, glaube mein Sohn, die Tante war eine Hexe; denn, als du getauft wurdest, und dein Vater und ich, viele Verwandte und Freunde, Götti und Gotte zu einer Mahlzeit beisammen waren und Alle freudig am Tische saßen mit unsern Gläsern Wein, kam auch die Tante mit majestätischen Schritten herein. Als sie eben unter die Thüre trat, fingen alle Gläser an zu tanzen, ohne daß ein Tropfen Wein verschüttet wurde, und tanzten fort, bis die Tante ihre Hand über den Tisch streckte; erst dann wurden sie ruhig.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 55-56.
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