Die lebendig gewordene Puppe.

[14] Auf der Alp Valésa in Somvix machten einst die übermüthigen Hirten eine Puppe aus Käsmasse und behandelten und hätschelten dieselbe wie ein lebendes Kind. – Als nun die Alpentladung kam und der Tag der Abfahrt ins Thal da war, richtete sich die Puppe plötzlich auf und rief mit unheimlich drohender, befehlender Stimme den erschrockenen Hirten und Sennen zu: »Einer von Euch muß bei mir bleiben, wo nicht, geht's Euch Allen übel.« Begreiflich wollte aber Keiner der Auserkorene sein, und das Loos mußte entscheiden. – Der Zurückbleibende nahm schweren Muthes Abschied von seinen Genossen und sah sie mit schrecklicher Ahnung thalabwärts ziehen; mit furchtbarem Beben sah er die Puppe an, die ihn, gräßlich grinsend, anglotzte und mit den Zähnen fletschte.

Die Sennen waren bereits eine Strecke weit heimwärts gegangen, als der Zu-Senne bemerkte, daß er sein Taschenmesser in der Alphütte vergessen hatte. Er kehrte zurück, um dasselbe zu holen und ging durch eine Nebenthüre in die Hütte, fand aber weder Senne noch Puppe in derselben und wollte durch die vordere Thüre wieder den Heimweg antreten. Als er noch einmal umschaute, sah er plötzlich die Puppe, die zu einem Ungeheuer, mit weißer Kappe angethan, herangewachsen war, beschäftigt, die frische Haut des zurückgebliebenen Sennen auf das Hüttendach auszulegen und zu schaben; am Boden lagen große blutige Stücke Fleisch. Er war zum Opfer geworden für die Missethat seiner Genossen an den Gottesgaben. – Der Zusenne mochte aber dem Geschäfte des Ungethüms nicht lange zusehen; er kam schweißtriefend bei den Kameraden an und erzählte das Geschehene. Kaum heimgekehrt, packte ihn ein heftiges Fieber, an dem er lange Zeit krank lag, stets wähnend, die Puppe komme, um auch ihn zu holen.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 14-15.
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