[209] 36. Das Säckchen füll dich

Es diente ein Soldat in St. Petersburg zwölf Jahre. Dann wurde er zum Unteroffizier befördert und auf Urlaub entlassen. Der Zar aber hatte eine Tochter, die immerzu fortlief, und man wußte nicht wohin. Soviel der Zar sich auch Mühe gab, es zu erfahren, es nutzte nichts. Zauberer rief er zu sich, aber es kam nichts dabei heraus.

[209] Als der Unteroffizier entlassen war, ging er in seine Heimat und blieb dort, solange er durfte, dann wurde es Zeit zurückzukehren. Und wie er so dahinwanderte, kam er an einen Sumpf, um den mußte er herum. »Vielleicht geht's auch mitten durch!« dachte er bei sich. Er ging also über den Sumpf und sah, wie drei Waldmänner sich prügelten. Er sagte zu ihnen: »Gott helf euch bei der Prügelei! Um was geht es denn?« – »Ach, Soldat, entscheide du, wir warten schon lange auf dich! Drei Dinge haben wir gefunden: Siebenmeilenstiefel, eine Tarnkappe und ein Säckchenfülldich. Wir wissen aber nicht, wie wir teilen sollen.« Der Soldat antwortete: »Nun gut, ich will aus meiner Kronsflinte einen Schuß abgeben, wer dann die Kugel im Sumpf am schnellsten findet, der soll zwei Dinge kriegen.« Er legte an und schoß. Die Waldmänner stürzten der Kugel nach, der Soldat aber zog die Stiefel an, setzte die Tarnkappe auf und sagte: »Säckchen, komm mit mir!« Und er ging fort, während die Waldmänner die Kugel suchten, und wanderte nach Petersburg.

Er marschierte einher und dachte bei sich: »Jetzt will ich der Zarentochter nachspüren.« Er ging zum Hauptmann, aber der jagte ihn fort: »Was fällt dir ein!« sagte er, »willst du in den sicheren Tod?« Er ging zum Bataillonsführer, aber auch der jagte ihn fort. Dann kam er zum Oberst, und der erstattete dem Zaren Bericht. Der Zar ließ den Soldaten rufen: »Kannst du's?« – »Zu Befehl, Eure Majestät!« – »Na, dann geb ich dir drei Tage Frist! Sauf derweil!« Der Soldat ging auf den Marktplatz, lumpte herum und kehrte nüchtern zum Zaren zurück. »Hast du genug gelumpt?« – »Zu Befehl, Eure Majestät!« – »Bist du auch nicht besoffen?« – »Im Dienst, Eure Majestät?« – »Schon gut.« Und er gab ihm [210] ein Zimmer neben seiner Tochter. Durch die kristallene Tür war alles zu sehen, auch ihr Bett. Der Soldat bekam Tee und Schnaps, und Bedienung gab man ihm auch. Als aber die Zarentochter abends an seinem Zimmer vorbeiging, befahl sie: »Gebt dem Soldaten zwölf Flaschen vom besten Schnaps!« Sie brachten ihm den Schnaps, aber er trank nicht soviel, wieviel er ins Säckchen goß. Dann warf er sich hin, stellte sich betrunken und kroch auf allen vieren. Man brachte ihn zu Bett. Mit einem Auge schaute er durch die Tür.

Dann kam die Zarentochter zu ihm, rührte ihn an, aber er schnaufte wie ein Betrunkener. Da ging sie in ihr Zimmer und schellte. Ein Diener erschien. »Bring mir zwölf Paar Schuhe!« Die zwölf Paar Schuhe wurden gebracht: ein Paar zog sie an, die übrigen band sie in ein Tuch, nahm sie unter den Arm, öffnete darauf eine Falltür unter dem Bett und verschwand. Der Soldat zog die Siebenmeilenstiefel an, setzte die Tarnkappe auf und machte sich hinterher. Die Zarentochter lief ein Paar Schuhe entzwei, warf sie fort, zog neue an, lief weiter. Der Soldat eilte ihr nach und befahl: »Säckchen, sammle auf!« Und sie kamen in den Kupfergarten. Der Soldat dachte: »Ein Äpfelchen muß man doch pflücken.« Er ging zu dem herrlichen Baum, und graps! hatte er einen Apfel. Plötzlich begannen Saiten zu tönen, Trommeln zu schlagen, alles war in Aufruhr! Die Zarentochter dachte: »Geh ich weiter, so merken sie, wo ich war. Und wie ist dieser Alarm entstanden?« Da kehrte sie um, doch das ganze Dutzend hatte sie abgetragen. Der Soldat warf sich noch vor ihr auf sein Bett und schlief ein.

Am nächsten Tage gedachte die Zarentochter den Soldaten abermals zu bewirten und schickte ihm fünfundzwanzig Flaschen mit fremdländischem Schnaps. Er goß neun Flaschen in den Sack und stellte sich trunken. In der Nacht schaute er wieder durch die kristallene Tür. Die Zarentochter trat zu ihm heran, [211] sah, daß er schlief, und schellte dann dem Diener. Er kam und brachte auf ihren Befehl fünfundzwanzig Paar Schuhe. Sie zog ein Paar an, band die übrigen in ein Tuch und lief davon. Der Soldat hinter ihr her. So kamen sie beide in den Silbergarten. Da wollte der Soldat doch wenigstens einen Apfel pflücken und graps! – zwei in die Tasche. Die Saiten ertönten, und die Zarentochter erschrak. »Man wird mich am Ende noch fangen und sehen, wohin ich gehe. Lieber kehr ich um!« Sie war aber vierundzwanzigtausend Werst gelaufen. Nun kehrte sie um, zog das letzte Paar an und ging heim, der Soldat legte sich aber noch vor ihr in sein Bett. In der dritten Nacht ließ sie sich fünfundvierzig Paar Schuhe bringen, und sie und der Soldat liefen in den Goldgarten. Wieder steckte sich der Soldat einen Apfel in die Tasche. Die Saiten ertönten, die Zarentochter erschrak und lief nach Hause, aber der Soldat kehrte noch vor ihr heim und legte sich schlafen.

Am nächsten Tag schickte ihm die Zarentochter nochmals Wein, aber er tat, als schliefe er fest. Als die Nacht herankam, ließ sich die Zarentochter fünfundsiebzig Paar Schuhe bringen, lief fort, und der Soldat hinter ihr her. Sie liefen durch den Kupfergarten, liefen durch den Silbergarten, liefen durch den Goldgarten und kamen an das Feuermeer, und auf dem Meere stand ein Feuerwagen. Die Zarentochter setzte sich hinein, und der Soldat sprang hinter sie und rief: »Lauf zu, Weißfuß, noch ist's auf dem Hof nicht hell!« Die Zarentochter wunderte sich: wer kann das sein? Sie langten am anderen Ufer an; ein Mann kam hinzu und führte die Zarentochter an der Hand. »Laß uns zu mir in mein Haus gehn, Liebste!« Das Haus mit goldnem Dach stand aber nicht weit davon. Der Soldat folgte ihnen auch dorthin. Das erste Gemach war ein reich geschmückter Saal, [212] den zeigte der Mann der Zarentochter, und sie staunte. Dann führte er sie in das zweite Gemach, das Zimmer für die Kleider. Als sie aber von dort hinausgingen, befahl der Soldat: »Säckchen füll dich!« Und das Säckchen füllte sich mit allen Kleidern. Dann kamen sie in die Kammer für Geschirr. »Hier steht mein goldnes Geschirr, Liebste!« sagte der Mann. Als sie aber in die Vorratskammer gingen, befahl der Soldat wieder: »Säckchen füll dich!« Das Säckchen aber ließ nur die kahlen Wände übrig und nahm ein Ding nach dem andern fort, selbst aus dem Schlafzimmer, das zuletzt drankam.

»Wer war das«, fragte die Zarentochter, »der da sagte, als ich mich in den Wagen setzte: ›Lauf zu, Weißfuß, noch ist's auf dem Hof nicht hell‹?« – »Das schien dir nur so, Liebste! Für uns ist es aber Zeit zu heiraten! Komm morgen, dann wollen wir uns trauen lassen.« Die Zarentochter antwortete: »Daß ich mich morgen nur nicht verspäte, denn ein Trunkenbold von Soldat hält bei mir Wache.« Sie ging zum Wagen und der Soldat hinter ihr her. Und als sie abfuhren, sagte er: »Lauf zu, Weißfuß, auf dem Hofe wird's schon hell!« Jener Mann aber ging in das Haus und sah, daß nichts als nur die kahlen Wände übriggeblieben war. Er verwandelte sich in einen sechsköpfigen Drachen und machte sich auf zur Verfolgung, aber das Feuer versengte ihn. Da ging er auf den Balkon seines Hauses, warf sich zu Boden und zersprang.

Die Zarentochter aber hatte alle Schuhe abgetragen, zog das letzte Paar an und eilte nach Hause. Der Soldat jedoch warf sich noch vor ihr auf sein Bett und schlief ein. Am Morgen wurde er nicht geweckt, aber um zwölf Uhr schickte man zu ihm einen General und holte ihn zum Zaren. Und als der Soldat zum Zaren kam, fragte ihn der: »Hast du meiner Tochter nachgespürt?« – »Ja; erlaubt mir aber, [213] im Palast fünf Zimmer ausräumen zu lassen!« Und als das getan war, sagte er: »Befehlt die Senatoren zu versammeln.« Das geschah, und dann erzählte er: »Das erstemal kam ich bis zum Kupfergarten.« – »Hast du aber auch ein Äpfelchen mitgebracht?« fragte der Zar. »Hier, Eure Majestät!« Er zog einen kupfernen Apfel heraus und überreichte ihn. »In der zweiten Nacht war ich im Silbergarten.« – »Hast du aber auch ein Äpfelchen mit gebracht?« – »Hier, Eure Majestät!« Und er überreichte einen silbernen Apfel. »In der dritten Nacht war ich im Goldgarten.« – »Hast du aber von dort kein Äpfelchen mitgebracht?« – »Hier, Eure Majestät!« Und er überreichte einen goldenen Apfel. »In der vierten Nacht fuhr ich auf einem Feuerwagen über das Feuermeer. He, Säckchen, leer dich!« Da fielen aus dem Säckchen Teppiche, Geschirr und Kleider heraus und alles, was dort über dem Meer dem Drachen gehört hatte. »Na, Soldat«, sagte der Zar, »du hast wahr gesprochen: hast ihr nachgespürt. Was willst du denn jetzt mit meiner Tochter machen?« – »Ja, was denn? Befehlt Ihr, Majestät, sie aufzuhängen, so häng ich sie, befehlt Ihr, sie zu erschießen, erschieß ich sie, befehlt Ihr, sie zu heiraten, heirat ich sie.« – »Na, dann heirate sie, Soldat!« sagte der Zar. Und das tat jener auch.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 209-214.
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