1. Das Kornkind.

Ein Bauer ging durch den Wiesengrund hinter dem Dorf dem Hügel zu, auf welchem das Kornfeld lag. Es war Frühling, das erste grüne Gras sproßte gerade hervor, und von den Bäumen fielen die Blüten darauf wie eitel Schneeflocken; am Abhang sah er die Reben weinen, und als er auf der Höhe angekommen war, standen die Halme auf dem Acker da, daß es eine helle Freude anzusehen war. Dem Bauer ging es durchs Herz, daß er fast lautauf gejauchzt hätte.

Da sah er auf einmal mitten in den Fruchthalmen ein kleines wildfremdes Kind liegen, das war gar wunderlieblich, und es sah ihn mit großen Augen so beweglich an und streckte die Ärmchen nach ihm aus, als wollt' es sagen: Bitte, nimm mich mit nach Haus, ich hab ja sonst niemand auf der Welt. »Ja«, sagte der Bauer, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, »ich will dich mit heim nehmen; hat der grundgütige Gott den Frühling so schön gemacht, so wird er wohl auch die Ernte nicht fehlen lassen; und für so einen kleinen Schnabel mehr läßt er's diesmal schon wachsen.« Damit wollte er das Kind aufheben; aber da war's, wie wenn es an die Erde genagelt wäre; er brachte es nicht von der Stelle.

Nun rief er alle Bauern herbei, die auf dem Feld zu sehen waren, und einer nach dem anderen versuchte, das Kind vom Boden aufzunehmen; aber alle nacheinander mußten davon abstehen. Da ging mit dem Kind allmählich eine sonderbare Verwandlung vor: Zuerst bekam es goldgelbes Haar, dann wurde sein ganzer Kopf wie lauter Gold, und endlich strahlte sein ganzer Leib in goldigem Schimmer. Das fremde Kind[1] war ein Engelein geworden und fing mit einem feinen Stimmlein an zu sprechen und sagte zu dem Bauer: »Weil du dich meiner erbarmt und dem lieben Gott vertraut hast, so soll die Ernte und der Herbst noch viel schöner werden als es jetzt aussieht.« Und als es das gesagt hatte, flog es vor seinen Augen auf und verschwand im blauen Himmel.

Quelle:
Sutermeister, Otto: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau: H.R. Sauerländer, 1869, S. 1-2.
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