35. Das schneeweiße Steinchen.

[73] Es war einmal ein Hirtenbube, der mußte alle Tage auf dem Berge3 Geißen und Schafe hüten. Dabei konnte er singen wie ein Vogel und jodeln, daß man's weit und breit im Tal unten hörte. Eines Tages bekam er Durst und suchte lange auf der ganzen Weide herum nach einem Trunk Wasser; endlich fand er unter einer hohen Tanne ein Weiherlein. Da kniete er nieder und schlürfte begierig das Wasser in den trockenen Gaumen. Als er aber also über das Weiherlein gebeugt lag, sah er unten im Wasserspiegel, daß auf der Tanne oben ein Vogelnest war.

Nicht faul, kletterte er wie ein Eichhörnchen Baum auf und suchte und griff nach dem Ast, den er im Wasser gesehen hatte; aber von einem Nest fand er nicht Staub und nicht Flaub. Unverrichteter Dinge mußte er wieder herabsteigen; als er unten war, lugte er noch einmal in das Wasser, und siehe da! abermals sah er das Nest ganz deutlich; schnell war er wieder oben im Baum, aber auch diesmal konnte er das Nest nicht entdecken. Das trieb er so zum dritten und vierten Mal. Endlich fiel es ihm ein, er wolle im Wasser alle Äste zählen bis zum Neste hinauf. Gedacht, getan; und nun ging's. Er kletterte und zählte richtig, und als er bei dem rechten Aste angelangt war, griff er zu und hielt plötzlich ein schneeweißes Steinchen in der Hand, und nun bekam er auch das Nest selber zu sehen: Da ganz vorne auf dem Ast lag's, daß er sich verwunderte, wie es ihm so lange hatten entgehn können.

Da ihm das schneeweiße Steinchen gefiel, steckte er's in die Tasche und stieg herunter. Am Abend trieb er seine Geißen und Schafe heim und sang und jodelte dabei nach seiner Gewohnheit aus Herzenslust. Aber was geschah? Wie er ins Dorf kam, sperrten[74] die Leute Maul und Augen auf; denn sie hörten ihren Geißbuben wohl singen, aber kein Mensch sah ihn. Und als er vor seiner Eltern Haus kam, sprang der Vater heraus und rief: »Um Himmelswillen, Bub, was hast du gemacht? Komm herein in die Stube.« Vater und Mutter wußten vor Schrecken nicht aus und ein und der Bube wußte nicht, daß er unsichtbar ist, bis es ihm der Vater sagt. »Bist du etwa auf einem Hexenplatz gewesen?« fragte der Vater. »Nein«, sagte der Bube und erzählte von dem Vogelnest. »Gib weidlig das Steinchen heraus!« riefen Vater und Mutter. Da gab er es dem Vater in die Hand; aber was geschah? »Herr Jesis, Ätti wo bist du?« riefen die Mutter und der Bube. Denn jetzt war der Bube wieder sichtbar, aber der Vater war dafür unsichtbar geworden. Dem war's jedoch, als ob er eine Kröte in der Hand hätte, und er warf das Steinchen auf den Tisch. Aber was geschah? Da sahen sie den Tisch nicht mehr. Jetzt fuhr der Vater auf, tappte nach dem Tisch und erwischte glücklich das Steinchen. Wie der Wind sprang er mit demselben aus dem Haus und warf es mitten in den Sodbrunnen hinunter. Aber hei! Wie das da drunten blitzte und krachte, nicht anders, als wenn Himmel und Erde zusammenstürzen müßten. Was gibst du mir, wenn ich's wieder herauf hole?

Quelle:
Sutermeister, Otto: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau: H.R. Sauerländer, 1869, S. 73-75.
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