16. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

[126] Ein König hatte zwei Söhne, der Eine war hinterlistig und ungerecht, der Andere hingegen gut und gerecht. Nachdem ihnen der Vater gestorben war, sprach der Ungerechte zum Gerechten: »Geh fort von mir, wir können nicht mehr zusammen leben, hier hast du dreihundert Goldstücke und ein Pferd, das ist dein Theil vom väterlichen Erbe, mehr hast du nicht zu hoffen.« Dieser nahm die dreihundert Goldstücke und das Pferd, und machte sich auf den Weg indem er sprach: »Nun Gott sei Dank, so viel fällt mir vom ganzen Königreiche zu.« Nach einiger Zeit begegnen sich die Brüder auf einem Wege beide zu Pferde. Der Gerechte ruft dem Ungerechten gleich entgegen: »Gott helfe dir, mein Bruder!« Dieser aber antwortete: »Gebe Gott nur Weh dir! Warum erwähnst du immer Gottes? Die Ungerechtigkeit gilt nun mehr, als die Gerechtigkeit.« Da entgegnete ihm der Gute: »Komm, laß uns wetten, daß die Ungerechtigkeit nicht besser sei als die Gerechtigkeit.« Und sie wetteten um hundert Goldstücke, und kamen überein, daß der Erste, dem sie begegnen würden, darüber entscheiden sollte. Und wie sie weiter gingen, begegnete ihnen der Teufel, der saß zu Pferde und hatte sich in einen Mönch verwandelt, den fragten sie was wohl besser sei: die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit. Der[127] Teufel sprach: »Die Ungerechtigkeit,« und der Gute verlor hundert Goldstücke. Hierauf wetteten sie um das zweite Hundert, und auch um das dritte, und nach Entscheidung des Teufels, der ihnen unter verschiedenen Gestalten begegnet war, verlor der Gute alle dreihundert Goldstücke, und nach diesen auch sein Pferd. Da sprach er: »Gott sei gepriesen! habe ich auch keine Goldstücke mehr, so habe ich doch noch meine Augen, und um diese will ich noch einmal wetten.« Und so wettete er um seine Augen, daß die Gerechtigkeit mehr tauge denn die Ungerechtigkeit. Da zog der Bruder, weiter keinen Richter suchend, ein Messer hervor, stach ihm damit beide Augen aus und sprach: »Nun da du ohne Augen bist, möge dir die Gerechtigkeit helfen.« Der Erbarmungswürdige pries aber dennoch Gott und sprach: »Für die Gerechtigkeit Gottes habe ich meine Augen hingegeben, nun bitte ich dich nur mein Bruder, mir in einem Gefäße ein wenig Wasser zu geben, damit ich meine Lippen netzen und meine Wunden waschen kann, und mich hinaus zu führen und unter der Tanne ob der Quelle zu lassen.« Der Bruder erhörte ihn, gab ihm in einem Gefäße Wasser, führte ihn hinaus und ließ ihn unter der Tanne ob der Quelle. Und wie der Unglückliche dort stand, hörte er mit einem Male in der Nacht zu einer gewissen Stunde, wie die Wilen1 an die Quelle kamen und[128] sich da badend unter einander sprachen: »Wißt ihr Gefährtinnen, daß des Königs Töchterlein am Aussatze darnieder liegt? Der König hat wohl alle Aerzte zusammen berufen, doch keiner vermag sie zu heilen. Wenn nun Jemand es wüßte und gleich nach uns dies Wasser nähme, und die Königstochter darin baden ließe, in vier und zwanzig Stunden würde sie gesunden, so wie Jeder der da stumm, blind oder lahm ist, durch dieses Wasser geheilt werden.« Indem krähte der Hahn, und die Wilen entschwanden. Nun schleppte sich der Unglückliche, auf allen vieren kriechend, von der Tanne hin zum Wasser, wusch sich damit die Augen, und erhielt im Augenblicke sein Gesicht. Hierauf füllte er das Gefäß mit diesem Wasser, eilte zu dem Könige, dessen Tochter am Aussatze krank lag, und sprach zu ihm: »Ich bin gekommen deine Tochter zu heilen, wenn sie mich vorläßt, soll sie in vier und zwanzig Stunden gesund sein.« Und sobald der König dies vernahm, ließ er ihn gleich in das Gemach des Mädchens, und da ordnete er an, daß sie in diesem Wasser gebadet[129] werde. Und als ein Tag und eine Nacht verstrichen waren, war das Mädchen gesund, und von allem Aussatze rein. Der König darüber hoch erfreut, gab ihm das halbe Königreich und die Tochter zur Frau, und so ward er des Königs Schwiegersohn, und nach dem Könige der Erste im Lande.

Dies ward gar bald im ganzen Königreiche bekannt und kam auch seinem Bruder zu Ohren, der da gesagt hatte daß die Ungerechtigkeit mehr gelte denn die Gerechtigkeit. Der dachte nun, mein Bruder muß sein Glück unter der Tanne gefunden haben, und ging hin es auch für sich zu suchen. Er nahm zuerst in einem Geschirre Wasser, dann ging er hin unter die Tanne, zog dort ein Messer hervor und stach sich die Augen aus. Als es Nacht und zur bestimmten Stunde war, kamen die Wilen wieder sich zu baden, und redeten davon, wie die Königstochter geheilt worden sei, »es muß uns,« sprachen sie, »Jemand zugehört haben als wir sagten, daß sie durch dieses Wasser gesunden könne. Vielleicht daß uns auch jetzt Jemand behorcht, kommt laßt uns sehen.« Und wie sie umher spähend unter die Tanne kamen, entdeckten sie ihn, der gekommen war sein Glück zu suchen, und früher immer gesagt hatte daß die Ungerechtigkeit besser sei als die Gerechtigkeit, da packten sie ihn und zerrissen ihn in vier Stücke. Und so hat dem Verfluchten die Ungerechtigkeit geholfen.

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Die Wile ist in der Vorstellung des serbischen Volkes ungefähr das, was bei den Deutschen die Waldfrau. Sie bewohnt die höchsten Gebirge und Felsen, liebt Nähe von Gewässern und wird als ewig jung, schön von Antlitz in weißes luftiges Gewand gekleidet mit langem um Brust und Schultern flatterndem Haar geschildert. Ohne Veranlassung thut sie Niemandem ein Leid, aber einmal gereizt oder beleidigt, rächt sie sich schwer und auf verschiedene Weise, indem sie ihren Feind entweder an Händen oder Füßen verwundet, und da solche Wunden kein Sterblicher zu heilen vermag, fürs ganze Leben siech macht, oder indem sie sein Herz durchbohrend, ihm unmittelbaren Tod bringt. – Ein Volkslied läßt sie selbst über ihre Entstehung folgendes erzählen: »Mich hat das Gebirge geboren und in grünes Laub gewickelt, der Morgenthau hat mich gesäugt, Waldeslüfte haben mich geschaukelt, waren meine Wärterinnen.«

Quelle:
Karadzic, Vuk Stephanovic: Volksmärchen der Serben. Gesammelt und aufgezeichnet von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Ins Deutsche übersetzt von Wilhelmine Karadschitsch. Berlin: Reimer, 1854, S. 126-130.
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