31. Das wunderbare Haar.

[182] Es lebte einst ein Mann, der war arm und hatte viele Kinder, die er nicht zu ernähren vermochte, so daß er schon mehrmals nahe daran war, eines Morgens alle mit einander umzubringen, um nicht sehen zu müssen, wie sie Hungers stürben, und nur sein Weib hielt ihn immer davon ab. In einer Nacht nun erschien ihm, während er schlief, ein lieblich Kind, das zu ihm sprach: »Mann, ich sehe dich im Begriff dein Seelenheil zu opfern, indem du deine armen Kinder tödten willst, auch weiß ich, daß du im Elende bist, und bin daher gekommen dir zu helfen. Morgen früh wirst du unter deinem Kopfkissen einen Spiegel, ein rothes Sacktuch und ein gesticktes Halstuch finden, diese drei Sachen sollst du zu dir nehmen, und ohne Jemanden davon ein Wort zu sagen, in den und den Wald gehen, wo du einen Strom entdecken wirst, an dem Strom gehe aufwärts, bis du an seinen Ursprung kommst, und bei diesem wirst du ein Mädchen treffen, glänzend wie die Sonne, mit langen über die Schulter wallenden Haaren, aber ohne alle Kleidung, wie von der Mutter geboren. Hüte dich aber, wenn du nicht willst daß es dir schlimm ergehe, mit ihr ein Wort zu sprechen, denn bei dem ersten Laut, den du von dir gäbest, würde sie dich behexen, und in einen Fisch oder in sonst[183] etwas verwandeln und aufessen. Sagt sie dir jedoch, du mögest sie am Kopfe krauen, so weigere dich nicht, und wenn du dann ihr Haar durchwühlst, und eines finden wirst, das roth ist wie Blut, so reiß es aus und eile damit zurück; und wenn das Mädchen es merken und dir nachzulaufen anfangen wird, sollst du zuerst das gestickte Halstuch, hierauf das rothe Sacktuch und zuletzt den Spiegel fallen lassen, da wird sie sich jedesmal verweilen, du aber suche das Haar irgend einem Reichen zu verkaufen, und laß dich damit nicht betrügen, denn das Haar ist von unermeßlichem Werthe, und mit dessen Erlöse kannst du reich werden und deine Kinder ernähren.«

Als der Arme am Morgen erwachte, fand er in der That unter seinem Kopfkissen alles, was das Kind ihm im Traume gesagt hatte, da machte er sich ungesäumt auf und ging in den Wald, und als er auch den Strom entdeckt hatte, ging er denselben entlang fort und fort bis er an dessen Quelle kam. Daselbst umherschauend erblickte er auch das Mädchen, wie sie am Rande der Quelle saß, die Sonnenstrahlen auffing, und durch eine Nadel zog, um damit auf einem Stoffe zu sticken, der aus Heldenhaaren gewebt war. So wie er ihrer ansichtig wurde, gesellte er sich zu ihr, das Mädchen aber erhob sich und fragte ihn: »Woher bist du, unbekannter Held?« doch er schwieg, da fragte sie ihn wieder: »Wer bist du und weshalb bist du hierher gekommen?« und noch vieles mehr, allein er schwieg wie ein Stein, blos mit den Händen deutete er, als wäre er stumm und suchte Hilfe. Da sagte sie ihm, er möge sich ihr zu Füßen setzen, was er,[184] der es kaum erwarten konnte, auch gleich that, worauf sie das Haupt zu ihm herunter neigte, damit er sie kraue. Er fing an das Haar zu durchwühlen, als ob er kraute, suchte eifrig nach dem rothen Haare und kaum hatte er es gefunden, so sonderte er es behutsam von den andern Haaren ab, riß es aus, sprang auf und entfloh damit so schnell er konnte.

Das Mädchen aber dies bemerkend, nicht weniger flink als er, eilte was sie konnte und war ihm bald auf der Ferse, und als er sich umblickend sah, daß sie ihn beinahe schon erreicht hatte, da warf er das gestickte Tuch hin, wie ihm anbefohlen war. Wie sie das Tuch gewahrte, hielt sie im Laufen inne, fing an es von allen Seiten zu betrachten, und sich über die Stickerei zu verwundern, mittlerweile gewann der Mann einen bedeutenden Vorsprung. Da barg das Mädchen das Tuch im Busen und eilte ihm nach. Und wie er sich abermals schon beinahe erreicht glaubte, warf er das rothe Sacktuch hin, bei welchem sie sich wieder in Betrachtung und Verwunderung verweilte, so daß es dem armen Manne nochmals gelang, ihr um ein Bedeutendes vorzukommen. Darüber ergrimmte das Mädchen, und Hals- und Sacktuch von sich werfend, fuhr sie fort ihn zu verfolgen. Nun in der größten Bedrängniß, als sie ihn eben schon eingeholt hatte, warf er den Spiegel von sich. Und das Mädchen, wie sie den Spiegel fand, den sie ihr Leben lang noch nicht gesehen hatte, hob sie ihn auf und sich selbst in demselben schauend, glaubte sie ein zweites ihr ähnliches Wesen blicke ihr aus demselben entgegen, und während sie sich in dessen Anblick[185] vertiefte, war der Mann weit, weit vorangeeilt, daß es ihr nimmer möglich gewesen wäre ihn einzuholen, weshalb sie von seiner Verfolgung abstand und umkehrte. Der Mann aber erreichte fröhlich und gesund sein Haus, zeigte das Haar seinem Weib und seinen Kindern, und erzählte auch was ihm Alles begegnet war. Das Weib verlachte und bespöttelte ihn zwar wegen des rothen Haares, doch er achtete nicht darauf, sondern begab sich in die nächste Stadt das Haar dort zu verkaufen.

Bald sammelte sich um ihn eine Menge Schaulustiger und Kaufleute; der eine bot für das Haar ein Goldstück, ein anderer zwei, und so wurde fort und fort immer mehr geboten, bis zuletzt das Anbot auf hundert Goldstücke stieg, mittlerweile auch der Kaiser von dem rothen Haare vernahm, den Mann zu sich rufen ließ, und ihm tausend Goldstücke dafür zu zahlen versprach, um welchen Preis dieser es auch verkaufte. Was hatte es nun aber mit dem Haare für eine Bewandtniß? Der Kaiser spaltete es behutsam entzwei und fand darin eine Menge wissenswerther Thatsachen aufgezeichnet, die sich in alten Zeiten seit Entstehung der Welt, zugetragen hatten.

So war der Mann reich geworden und lebte fortan glücklich und sorglos mit Weib und Kind. Das Kind aber, das ihm ehmals im Traume erschien, war ein Engel, gesandt von Gott dem Herrn, der da wollte, daß dem armen Mann geholfen würde, und daß die geheimnißreichen Thatsachen an den Tag kämen, die bis dahin nicht geoffenbart waren.

Quelle:
Karadzic, Vuk Stephanovic: Volksmärchen der Serben. Gesammelt und aufgezeichnet von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Ins Deutsche übersetzt von Wilhelmine Karadschitsch. Berlin: Reimer, 1854, S. 182-186.
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