42. Verstand und Glück

[41] Es gingen einmal der Verstand und das Glück auf Reisen, um sich die Welt zu besehen und die Menschen mit ihren Gaben zu erfreuen. Da trafen sie einen Schäferjungen, der lag an der Straße und schlief. »Wie wäre es«, sprach das Glück zum Verstand, »wenn wir gleich einen Versuch machten; ziehe du jetzt in den Knaben ein!« Dem Verstand war das recht, und er stieg in das Haupt des Knaben. Als dieser erwachte, rieb er sich die Augen und dachte: »Ei, wozu hier immer die Schafe hüten, du willst dein Glück in der Stadt versuchen.« Gleich machte er sich auf und kam zu einem Uhrmacher und verdingte sich als Stallknecht. In kurzer Zeit machte er sich bei seinem Herrn sehr beliebt, denn seine Pferde waren bald die schönsten in der ganzen Stadt. Dem Jungen aber war die Arbeit im Stall nicht genug; darum ging er, wenn der Meister und die Gesellen bei Tisch waren, insgeheim in die Werkstatt und verbesserte die Uhren. Die Gesellen merkten das endlich und sprachen zum Meister: »Es muß jemand, während wir essen, in die Werkstatt kommen, denn unsere Arbeit ist immer fortgeführt, aber weit besser, als wir sie gemacht hätten; denn alles daran hat Schick und Gestalt.«

»Dem will ich bald auf die Spur kommen!« sagte der Meister, und als die Gesellen wieder bei Tisch waren, stellte er sich insgeheim ans Fenster und guckte in die Werkstatt. Nur einmal sah er den Stallknecht, wie er eine Uhr nach der andern zur Hand nahm und besserte. Nach einer Weile konnte er sich nicht mehr halten, sondern öffnete die Türe und rief: »Du also bist der große Meister! Wohlan, du gehörst nicht in den Stall und sollst fortan mein erster Geselle sein!« Das war der Junge zufrieden und machte nun bald so künstliche Uhren, daß alle Welt sich darüber verwunderte. Da geschah es, daß der König eines Tages ausschreiben ließ, er habe eine kostbare Uhr, die sei verdorben; wer sie wieder herstelle, dem gebe er fünftausend Gulden; wer es aber unternehme und es gelänge ihm nicht, dem koste es das Leben. Nun fand sich lange kein Uhrmacher, weder Meister noch Geselle, im ganzen Reiche, der sich's unterstehen wollte. Als der Schäferjunge das hörte, ging er sogleich zum König und bat um die Uhr, er wolle sie ausbessern. Der König schüttelte das Haupt und sprach: »Junge, Junge, das kannst du nicht! Es kostet dir dein Leben; keiner der vielen Meister hat sich getraut, und du willst es besser verstehen?« Aber der Junge entgegnete voll Zuversicht, es müsse ihm wohl gelingen und er fürchte nichts für sein Leben. Da ließ der König die Uhr herbeibringen, und der Knabe nahm gleich seine Werkzeuge zerlegte sie, besserte, besserte, setzte sie wieder zusammen, und siehe da, als man sie an Ort und Stelle hing, so ging sie wie vordem, und der König hatte große Freude. Er gab ihm nicht nur die fünftausend Gulden, sondern hielt ihn auch bei Hofe und machte ihn zu seinem Wirtschafter. Von Tag zu Tag wurde der Junge dem König werter. Dieser hatte aber eine einzige Tochter, die hatte in ihrem Leben nie gelacht, und das kümmerte den Vater sehr. Darum hatte er bestimmt, daß derjenige sie zum Weibe haben solle, der sie zum Lachen bringe, wer es aber unternehme und es gelänge ihm nicht, dem koste es das Leben. Schon viele Freier hatten es versucht, doch alle hatten den Tod gefunden, nun wagte es lange niemand mehr. Als der Schäferjunge davon hörte, so stieg es ihm zu Gedanken, und nach einiger Zeit trat er vor den König und sprach: »Ich möchte deine Tochter wohl lachen machen!«

»Armer Junge, das kannst du nicht«, sprach der König, »es wäre ja schade um dein Leben, lasse ab davon.« Aber der Junge hörte nicht auf zu bitten, bis der König es endlich zuließ. Er begab sich mit einem Minister zur Königstochter, trat ehrerbietig vor sie und fing an zu erzählen. »Drei Wanderburschen, ein Bildhauer, ein Maler und ein Sprachmeister, unternahmen zusammen eine Reise. Als sie in einen Wald gekommen waren, machten sie ein Feuer an und setzten sich herum. Da nahm der Bildhauer einen jungen Stamm und schnitzte daraus eine Jungfrau, darauf nahm sie der Maler und gab ihr durch Farben Schönheit, darauf nahm sie der Sprachmeister und lehrte sie sprechen. Wem von den dreien gehört nun die lebendige Jungfrau von Rechts wegen? Niemand weiß das zu beantworten.« Da lachte die Königstochter und rief: »Das versteht sich doch von selbst, dem Sprachmeister!« Der Junge freute sich und ging mit dem Minister schnell zum König, und dieser fragte sogleich: »Hat sie gelacht?«

»Ja!« sprach der Junge ganz fröhlich. »Nein!« rief der Minister ernst. Da bat der Junge, der König solle einen anderen Minister zu der Jungfrau schicken und sie fragen lassen. Das tat der König; auch der sprach: »Nein!«

»So schicke noch einen dritten.« Es geschah, doch auch der kam zurück und sprach: »Nein!«

»Jetzt kann ich dir nicht helfen!« sagte der König ganz traurig, »was Gesetz ist, ist Gesetz, und danach mußt du den Tod erleiden!« Schon hatte man den Jungen bis zur Richtstätte geführt, da kam just das Glück, das war bisher allein in der Welt herumgegangen, dazu und rief dem Verstand leise, daß niemand es hören konnte: »Du hast deine Schuldigkeit getan, jetzt ist es an mir; komme heraus und lasse mich hinein!« Kaum war das geschehen, so hörte man Trompetengeschmetter und eine fröhliche Musik, und in einer Kutsche kam der König und seine Tochter hergefahren und hielten hoch ein weißes Tuch zum Zeichen der Gnade. Jetzt klärte sich die Sache auf, und weil die Minister so boshaft gelogen hatten, wurden sie anstatt des Jungen gehängt. Dieser aber mußte sich nun neben die Königstochter in die Kutsche setzen und fuhr mit ihr heim. Da wurde eine glänzende Hochzeit gefeiert, die vier Wochen lang dauerte, und der Junge wurde bald König, und das Glück wohnte bei ihm und verließ ihn nicht bis an sein Ende.

Quelle:
Haltrich, Josef: Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Wien: Verlag von Carl Graeser 1882, S. 41-42.