Die Stieftochter.

[39] Eine Mutter hatte eine Stieftochter, die war hübsch und eine »rechte« Tochter, die war hässlich. Und mit der rechten Tochter ging sie immer nach der Kirche, aber die Stieftochter hatte kein Kleid und musste zu Hause bleiben. Da ging sie an eine Weide und sprach:


»Guten Tag, Weide,

Ich bring' Dir ein altes Geschmeide,

Gieb mir Dein neues«.


So machte sie es dreimal und kriegte jedesmal ein neues Kleid. Das erste mal zog sie die Sterne an, das zweite mal den Mond und das dritte mal die Soane. Und jedesmal, wenn der Prediger Amen gesagt hatte, ging sie aus der Kirche weg und legte das Kleid wieder an der Weide nieder. Beim dritten Male aber strichen sie Pech vor der Kirchthüre hin und passten auf, denn sie wollten wissen, wo sie bliebe. Allein sie kam ungesehen davon, bloss den Schuh verlor sie, der blieb am Peche sitzen. Der Schuh aber war sehr klein und zierlich und ein hübscher Mann (ein Prinz) wollte die heirathen, der der Schuh gehörte. So sahen sie nach, wem der Schuh passte, denn die sollte die Braut sein. Und es wurde allen Mädchen der Schuh angepasst, aber er passte keiner; da kamen sie auch zur Stiefmutter des Mädchens, die schnitt ihrer rechten Tochter die Zehen ab, so dass der Schuh passte, aber die Stieftochter versteckte sich. Da fragten sie die Mutter, ob sie nicht noch eine Tochter hätte und sie sagte: »Nein«. Wie nun die rechte Tochter vor dem Altare stand, da kamen Tauben geflogen, und sagten:


»Das ist nicht die rechte Brut [Braut].

Die hat den ganzen Schuh voll Blut«.


Dann sahen sie nach und fanden, dass ihr die Zehen abgeschnitten waren. Da musste die Mutter die Stieftochter hervorholen und sie wurde die Braut. G.-S.

Quelle:
Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 39-40.
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