8. Vom armen Mädchen, das goldene Blumen schritt.

[86] Es war einmal ein armer Mann; der arme Mann hatte zwei Kinder. Das älteste war ein Mägdlein, das jüngste aber war ein Knäblein. Das Mägdlein war zauberkundig.

Auf einmal waren die Kindlein herangewachsen, und da sie arm waren, gingen sie aus, auf der Strasse zu betteln. Sie gerieten zu einer Witwe. Die Witwe gab ihnen eine Scheibe Brot. Sie sagte zum Mägdlein:

»Mägdlein, bestell deinem lieben Vater, wenn er mich heiratet, dann werde ich euch in Milch und Wein baden.«

Und sie gab jedem noch eine Scheibe Brot. Das Mägdlein und das Knäblein nahmen die Scheibe Brot, gingen heim. Als sie nach Hause gekommen waren, sagten sie ihrem Vater:

»Liebes Väterchen, eine Witwe hat gesagt, wenn Ihr sie zu unserer Mutter macht, dann wird sie uns in Milch und Wein baden.«

Darauf sagte der Vater zum Mägdlein:

»Wohlan, meine Tochter, ich werde sie heiraten, wenn sie's so mit euch hält.«

Er ging auch anderntags und nahm sie zur Frau.

Zwei Wochen lang badete sie das Mägdlein und das Bürschchen in Milch und Wein; nach zwei Wochen sprach sie zu ihrem Mann:

»Wenn du deine Kinder nicht beiseite schaffst, dann gehe ich von hinnen.«

Was blieb dem armen Mann anderes übrig? er spannte[86] seine zwei Kühe vor den Wagen, setzte die beiden Kinder auf den Wagen, führte sie in den Wald. Dort machte er eine Hütte, setzte sie in die Hütte und sprach zum Mägdlein:

»Nun, meine Tochter, wenn ich zurückkomme, führe ich euch nach Hause. Ich gehe, einen Wagen Holz aufzulesen.« Das Mägdlein war zauberkundig, es wusste, was sein Vater mit ihm wollte. Der Vater aber nahm die Axt vom Wagen, belud den Wagen und machte sich auf den Heimweg. Und wie er heimging, da schlug er mit dem Axtrücken einmal an jeden Baum, damit die Kinder denken sollten, er richte das Holz auf dem Wagen. Doch er ging nach Hause, liess die Kinder dort im Wald in der Hütte.

Die Kinder aber verbrachten eine lange Zeit dort in der Hütte. Eines Sommertags ging das Mägdlein hinaus in den Wald; siehe, da war mitten im Walde ein schöner Grasplatz. Dort war ein kleiner Heuhaufen; doch jene Wiese war so schön, dass man eher in die Sonne hätte schauen können, aber nicht auf die Wiese.

Einstmals zog ein Königssohn hinaus in den Wald zu jagen. Wie dieser Königssohn im Walde jagt, da kommt er von ungefähr auf jene Wiese. Nun waren das Knäblein und das Mägdlein just eben in jenen Heuhaufen gezogen. Und der Königssohn erblickte jenen schönen Ort; er sah, dass dort ein wenig Heu war, und meinte, er wollte von jenem Heu seinem Pferde ein bischen zu fressen geben. Und wie er da hinkommt, fürwahr da erschrickt er, solch schönen Knaben und solch schönes Mädchen zu sehen. Sie gefielen dem Königssohn sehr. Sprach der Königssohn zum Mädchen:

»Willst du mit mir kommen als meine Gemahlin?«

Sprach das Mädchen zum Königssohn:

»Wie könnte ich als Eure Gemahlin mit Euch gehen? Ich kann mein Brüderchen hier nicht verlassen.«

Flugs zog sie einen Kamm hervor, kämmte sich das Mädchen, kämmte zwei so schöne Blumen von ihrem Haupt,[87] dass man wohl in die Sonne hätte schauen können, aber nicht auf jene Blumen. Sie sprach zum Königssohn:

»Diese beiden schönen Blumen gebe ich Euch. Bringt sie Eurer lieben Mutter heim, stellt sie ins Fenster in einen Becher Wasser, und wenn sie morgen kommen werden, mich zu holen, dann werde ich auch gehen.«

Reitet der Königssohn heim mit den beiden schönen Blumen, erzählt seiner Mutter, wie es ihm mit einem Mädchen im Walde ergangen, und das Mädchen hätte ihr diese Blumen geschickt, sie solle sie in einen Becher tun, in Wasser, und ins Fenster stellen. Er erzählte seiner lieben Mutter, dass er das Mädchen morgen zur Frau nehmen wollte. Und seine Mutter hatte gleich nichts dagegen. Sie meinte, jene wäre ihr recht als Schwiegertochter.

Doch dass ich's nicht zu erzählen vergesse, der Königssohn hatte die Tochter einer Hexe zur Liebsten.

Und sie zogen anderntags aus, sie einzuholen. Und als sie zum armen Mädchen hinaus zogen, setzte sich die Hexe mit ihrer Tochter in die hinterste Kutsche. Sie fuhren hin zum armen Mädchen, setzten das Mädchen auch in die Kutsche, das Brüderchen auch und wandten wieder heimwärts.

Als sie beim Waldessaume anlangten, da hielt die Hexe die Kutsche an, doch so, dass niemand es merkte. Sie ging und hob das arme Mädchen neben dem Königssohn aus dem Wagen. Sie hiess sie sich auskleiden, legte dem armen Mädchen das Kleid ihrer Tochter an und stach dem armen Mädchen beide Augen aus und – in der Nähe war ein Röhricht – band sie an das Schilf fest. Die Hexe setzte ihre Tochter neben ihn, neben den Königssohn; das arme Mädchen aber blieb dort im Schilf.

Die Hexe ging zur Kutsche zurück und liess die Kutsche weiterfahren. Sie fuhren heim; zu Hause aber waren die Herzöge, Grafen, Barone zu einem grossen Schmaus geladen; es gab eine grosse Hochzeit.[88]

Doch anderntags in der Frühe beim Aufstehen grämte sich der Königssohn sehr. Wie sich die Prinzessin kämmte, da kämmte sie nicht Blüten sondern Läuse. Er dachte bei sich, was mag ihr nur fehlen? Er grämte sich sehr.

Einstmals geschah's, ein alter Fischer, gerade neben dem Schilfdickicht war ein Teich, und jener alte Fischer ging dorthin, Fischchen zu fischen. Und wie er dort fischte, wehklagte das arme Mädchen, das mit ihrem Haar angebunden war, und der alte Fischer hörte das Wehklagen. Er rief zurück:

»Wenn du ein Menschenwesen bist, so wehklage noch einmal, und dann suche ich dich auf!«

Das hörte das arme Mädchen, und noch einmal wehklagte sie. Ging der arme Fischer hin, band ihr Haar los und führte sie zu sich heim, in sein armes Haus.

Einst sagte das arme Mädchen, sie sollten ihr einen Kamm geben. Und das arme Mädchen kämmte sich, kämmte zwei so schöne Blumen vom Haupt, dass man wohl in die Sonne hätte schauen können, aber nicht auf diese beiden Blumen. Und sie sagte zu dem alten Mann:

»Alter Vater, tragt diese beiden Blumen in die Stadt, und sie werden für diese zwei Blumen drei-vier Wagen Gold bieten. Doch gebt sie nicht für diese drei-vier Wagen Gold, sondern sprecht: Mein Lämmchen ging im Walde und stiess sich das linke Auge aus; wer ihm ein linkes Auge gibt, dem gebe ich die Blumen!«

Drauf machte sich der alte Mann auf in die Stadt. Wie er in die Stadt kommt, bieten sie ihm vier-fünf Wagen Gold für die beiden Blumen. Doch der alte Mann will die Blumen nicht verkaufen, er sagt nur: »Mein Lämmchen ging im Walde und stiess sich das linke Auge aus; wer ihm ein linkes Auge gibt, dem gebe ich die Blumen.«

Indessen war er gerade bei des Königs Tor angelangt. Hört die alte Hexe, dass zwei so schöne Blumen feilgeboten werden, und läuft hinein, sagt zu ihrer Tochter:[89]

»Du Tochter! Dein Mann ist so wie so nicht zu Hause, geh und kauf die beiden Blumen. Wenn er heimkommt, wird er sich sehr über die beiden Blumen freuen und denken, du habest sie von deinem Kopf gekämmt.«

Geht die Prinzessin hinaus und verspricht fünf-sechs Wagen Gold für die beiden Blumen, doch der alte Mann will sie nicht verkaufen. Er sagt, sein Lämmchen wäre im Walde gegangen und hätte sich das linke Auge ausgestossen. Wer ihm das linke Auge gäbe, dem gäbe er seine Blumen.

Da sagt die Hexe zu ihrer Tochter:

»Geh, meine Tochter, hol hinter dem Ofen das linke Auge jenes Mädchens hervor, dem wir die Augen im Wald ausgestochen haben.«

Geht die Hexentochter hinein und holt das linke Auge, gibt es dem alten Mann, der alte Mann aber gibt ihr die Blumen und geht heim. Wie er zu Hause angelangt war, übergab er dem Mädchen das Auge. Das Mädchen stand frühmorgens auf, und der alte Mann gab ihr das Auge, das Mädchen aber ging hinaus und wusch es mit Tautropfen und setzte das Auge ein, und da sah sie siebenmal besser als vordem.

»Nun«, sagte das Mädchen, »jetzt ist mein eines Auge wieder an Ort und Stelle, jetzt bin ich frohgemut.«

In ihrer Fröhlichkeit schritt sie zwei Blumen, doch diese zwei Blumen waren noch siebenmal schöner als jene andern, die sie vom Haupte gekämmt. Und sie sagte dem alten Mann, er sollte diese auch zur Stadt bringen. Sie würden ihm dafür zehn Wagen Gold, elf, bieten, doch er sollte sie nicht verkaufen sondern sagen, sein Lämmchen sei im Walde gegangen und habe sich das rechte Auge ausgestossen, und wer ihm ein rechtes Auge gäbe, dem gäbe er die Blumen.

Nun also, sie boten dafür in der Stadt elf-zwölf Wagen Gold, für diese beiden Blumen; doch der alte Mann wollte sie nicht geben, sagte nur, sein Lämmchen sei im Walde gegangen[90] und habe sich das rechte Auge ausgestossen, und wer ihm ein rechtes Auge gäbe, dem gäbe er die beiden Blumen.

Wiederum kam er vor des Königs Tor, und die Prinzessin vernahm, dass zwei so schöne Blumen feilgeboten wurden. Die Prinzessin hielt den alten Mann an, sprach zu ihm:

»Na alter Mann, gib mir die Blumen!«

Sprach der alte Mann:

»Ich gebe sie dir, wenn du meinem Lämmchen ein rechtes Auge gibst.«

Da lief die Prinzessin hinein und holte das rechte Auge hinter dem Ofen vor und gab es dem alten Mann; der alte Mann aber gab ihr die Blumen. Mit dem Auge aber ging er heim und gab dem Mädchen ihr Auge. Wie er es dem Mädchen gegeben hatte, steht das Mädchen morgens in der Frühe auf, geht hinaus, tut das Auge an seine Stelle, wäscht sich mit Tautropfen, wäscht das Auge, und da sieht sie siebenmal besser als mit dem andern. Und sie spricht zum alten Mann:

»Bisher, Grossvater, Grossmutter, habt Ihr lieb für mich gesorgt; jetzt nun sammelt alle eure Gefässe, bringt sie in die Mitte des Hauses und legt sie auf einen Haufen.«

Als sie all ihre Gefässe hereingebracht hatten, da sprach das Mädchen:

»Nun altes Väterchen, schämt Euch nicht, dreht Euch einmal vor mir herum!«

Der Alte schämte sich nicht, drehte sich einmal vor ihr, siehe, da wurde ein sechzehnjähriger Jüngling aus ihm.

Sprach sie auch zur alten Frau:

»Nun Mütterchen, schämt Euch nicht, dreht Euch auch einmal!«

Die Alte drehte sich auch einmal; siehe, da wurde ein vierzehnjähriges Mädchen aus ihr. Dann nahm sie einen Kamm und kämmte all jene Gefässe, die sie in die Mitte des Hauses gebracht hatten, voll mit Gold. Dann sprach sie zum alten Mann und zur alten Frau:[91]

»Nun, Grossmutter, Grossvater, davon könnt Ihr leben; ich gehe jetzt fort.«

Drauf machte sie sich auf in die Stadt, verabschiedete sich von ihnen. Wie es in die Stadt kommt, gelangt das Mädchen an des Königs Tor. Sagt die Köchin zu ihr:

»He Mädchen, wohin gehst du?«

Sagt das Mädchen:

»Ich möchte mich verdingen, wenn ich irgendwo eine Stelle bekommen könnte.«

Geht die Köchin hinein und meldet dem Königssohn, dass draussen beim Tor ein Mädchen wäre, und es würde ihr als Aufwaschmädchen recht sein. Und der Königssohn geht hinaus und dingt sie der Köchin als Hilfe.

Dort blieb sie ungefähr drei Wochen. Nach drei Wochen, eines Sonntags früh, sagt sie zur Köchin:

»Köchin, seid so gut, erlaubt, dass ich auch eine Palatschinke mache.«

Die Köchin erlaubte es. Sie machte auch eine Palatschinke; in diese Palatschinke aber tat sie den Ring, den ihr der Königssohn im Walde gab, als sie ihm die zwei Blumen gegeben hatte. Jene Palatschinke aber kam beim Nachtmahl just vor den Königssohn. Als der Königssohn sie ass, da biss er auf den Ring. Er holt den Ring heraus, und da sieht er, dass es der Ring der Prinzessin ist. Steht er unverweilt vom Tisch auf und geht hinaus in die Küche. Spricht zur Köchin:

»Ei, wer hat die Palatschinke gemacht?«

Die Köchin sagte, niemand anderes als sie. Doch der Königssohn begann die Köchin auszufragen. Die Köchin gestand, dass sie der Magd erlaubt hatte, eine Palatschinke zu machen.

Geht er zur Magd hin, beginnt sie zu fragen, ob sie die Palatschinke gemacht habe. Sagt die Magd, sie nicht. Da gab der junge König der Magd wahrhaftig eine Ohrfeige; die[92] Magd aber lachte laut auf und schritt frohgemut vor ihm her. Siehe, da wuchsen auf ihrer Fussspur zwei so schöne Blumen, wie der junge König sie noch nimmer erblickt.

Gleich erkannte der junge König, dass dies seine Liebste war. Flugs bot er ihr den Arm, führte sie hinauf an den Tisch und setzte sie an den Tisch. Dann aber liess er die Hexe und ihre Tochter binden, und sie mussten gestehen, wohin sie den Bruder des Mädchens gebracht hatten. Die Hexe und ihre Tochter hatten des armen Mädchens Bruder in eine Steinmauer gesteckt. Und der junge König holte ihn von da heraus; sie aber steckte er in ein grosses, grosses Fass; das grosse Fass wurde die Kreuz und Quer mit langen Nägeln ausgeschlagen und auf einen hohen Berg getragen, von dort liessen sie es herunterrollen, und sie wurden ganz zu Mus und Brei. Der Königssohn aber führte sie als Gemahlin heim. Sie hielten eine grosse Hochzeit, und bis zum heutigen Tag halten sie noch Hochzeit, wenn sie nicht gestorben sind.

Quelle:
Róna-Sklarek, Elisabet: Ungarische Volksmärchen. Neue Folge. Leipzig: Dieterich 1909, S. 86-93.
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