Der goldne Ball.

[103] Vor vielen hundert Jahren lebte ein Priester, Namens Elidurus, welchem folgende Geschichte begegnet ist. Als er noch ein Knabe und ungefähr 12 Jahre alt war, da ward es ihm einst zu lästig von seinen Lehrern immer zum Lernen angehalten zu werden. Denn wenn auch der weise Salomon sagt, daß die Frucht des Studirens süß sei, so fühlte Elidurus doch jetzt nur die Bitterkeit seiner Wurzel –, und kurz – eines Tages lief er, um der Zucht und den Schlägen seines Lehrers zu entgehn, fort und versteckte sich unter dem hohlen Ufer eines Flußes. Nachdem er daselbst zwei Tage gehungert hatte, erschienen ihm zwei Männer, klein wie die Zwerge, und sagten ihm: »wenn Du mit uns gehen willst, so wollen wir Dich in ein Land voll Lust und Freude bringen!« Er willigte gleich ein, stand auf und folgte seinen Führern auf einem Pfad, der zuerst unterirdisch und finster war, endlich aber in ein gar wunderherrliches Land mit schönen Strömen und Wiesen, Wäldern und Ebnen führte. Aber das Land war dunkel und nicht von dem vollen Licht der Sonne beschienen. Die Tage[103] waren alle trüb, und die Nächte äußerst finster, kein Mond und kein Stern war zu sehn. Der Knabe ward vor den König geführt und ihm in Gegenwart des ganzen Hofes vorgestellt. Darauf, nachdem er längere Zeit mit ihm geredet und ihn hinreichend erforscht hatte, übergab er ihn seinem Sohne, der auch noch ein Knabe war. Diese Leute waren alle von der kleinsten Statur, aber sehr lieblich und ebenmäßig gebaut. Sie hatten schönes und glänzendes Haar, welches ihnen, wie das der Frauen, reich über die Schulter fiel. Sie aßen weder Fleisch noch Fisch, sondern lebten nur von Milchspeisen, welche in den Schüßeln mit Saffran angerichtet wurden. Sie bedienten sich niemals eines Eides; denn Nichts war ihnen so sehr verhaßt als Lügen. So oft sie aus der Oberwelt heimkehrten, tadelten sie die Eitelkeit, Untreue und Unbeständigkeit der Menschen. Sie hatten keinen Gottesdienst; das Einzige, was sie liebten und heilig hielten, war die Wahrheit.

Der Knabe kehrte oft an die Oberwelt zurück; zuweilen auf dem Weg, den er zuerst gegangen war, zuweilen auf einem andren. Das erste Mal führten ihn Einige, um ihn zurecht zu weisen; später gieng er allein. Sein Geheimnis vertraute er nur seiner Mutter an, der er auch von den Sitten, der Natur und Beschaffenheit des Volkes erzählte.

Da diese ihn nun einstens bat, ihr etwas Gold, an welchem das unterirdische Reich Ueberfluß hatte, mitzubringen, so stahl er bei einem Spiele mit dem Sohne des Königs den goldnen Ball, mit welchem[104] derselbe sich zu zerstreuen pflegte, und brachte ihn seiner Mutter in großer Hast. Aber als er die Thüre seines väterlichen Hauses erreicht hatte und in aller Eile eintreten wollte, da stolperte er über die Schwelle und schlug seiner Länge nach in die Stube, in welcher seine Mutter saß. Zugleich nahmen die beiden Zwerge, die ihm heimlich gefolgt waren, den Ball auf, der aus seiner Hand gerollt war, und entfernten sich, indem sie den Knaben anspuckten und verhöhnten. Da er sich von seinem Fall erholt hatte, von Scham verwirrt und den schlimmen Rath seiner Mutter verwünschend, kehrte er auf dem gewohnten Pfad zu dem unterirdischen Reiche zurück, aber er konnte den Eingang nicht wieder finden, ob er gleich ein ganzes Jahr lang suchte. Seine Freunde und seine Mutter brachten ihn endlich wol zurück, und da er sich den gelehrten Studien nun ernstlicher als vorher zuwandte, so ward er auch im Laufe der Jahre zum Priester ordiniert. Aber so oft David der Zweite, Bischof von St. David, mit ihm – selbst noch in seinem Greisenalter – von diesem Ereignis sprach, so konnte Elidurus die einzelnen Umstände niemals ohne viele Thränen erzählen.

Quelle:
Rodenberg, Julius: Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder. Hannover: Rümpler, 1857, S. 103-105.
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