26. Die weinende Mauer.

[52] Etwa eine halbe Stunde nordöstlich von Barnich nach Steinfort hin stand ehemals auf einer Anhöhe ein gewaltiges Schloß, welches viele Jahrhunderte hindurch den heftigsten Stürmen der Elemente und seiner Feinde siegreich widerstanden hatte. Das Schloß bestand aus sechs aneinander gebauten großen Türmen. In dem höchsten und stärksten derselben wohnte der Ritter mit seiner Familie, während die fünf andren den Hauptturm schützend im Kreise umstanden und das Gesinde und die Reisigen beherbergten. Um die Türme herum lief eine sehr dicke Mauer, und ungeheure Tiefen umgaben das Ganze. Weder Pfad noch Steg führten äußerlich sichtbar hinauf zu dem mächtigen Bollwerk, das trotzig jeden Verkehr mit der übrigen Welt zurückzuweisen schien. Nur auf einem geheimen unterirdischen Wege gelangte man in das Innere der Burg, von deren stolzen Zinnen man weit ins Land hinein schauen konnte.

Vor etwa vierhundert Jahren gewährte der Schloßherr seinem Verwandten, dem Herrn von Rotburg, dessen Feste von einer aus Deutschland herüber gekommenen Kriegshorde an einem Tage zerstört worden war, eine Zufluchtsstätte auf seinem Schloß. Ueber den Untergang seiner Feste näher befragt, er zählte der Rotburger:

»Eines frühen Morgens lagerten die Feinde auf der meiner Burg gegenüberliegenden Anhöhe.[52] Bald darauf erschien ein Herold vor den Wällen meiner Feste und forderte mich gegen Recht und Billigkeit zu gutwilliger Übergabe derselben auf. Selbstverständlich wies ich dieses Verlangen ganz entrüstet zurück, und der Herold verschwand. Kurze Zeit nachher flammte plötzlich ein Blitz bei den Belagerern auf, ein furchtbarer Knall folgte, und eine unsichtbare Masse, bei deren Anprall die ganze Burg erbebte, riß ein großes Loch in den Wartturm. Unaufhörlich folgten Blitz und Knall aufeinander, und ein Turm nach dem andern stürzte zusammen. Nicht einen einzigen Pfeil konnten wir der großen Entfernung wegen auf unsre Feinde abschießen; sie dagegen richteten gräßliche Verheerungen unter meinen Leuten an. Die einen sanken tot, die andren gräßlich verstümmelt zu Boden und erfüllten die Luft mit ihrem Wehgeheul. Womit uns die Barbaren so furchtbar zusetzten, habe ich nicht unterscheiden können.«

Ungläubig hatte der Schloßherr dem Rotburger zugehört. Als derselbe schwieg, sagte er schalkhaft lächelnd: »Lieber Vetter, du verstehst das Aufschneiden aber meisterhaft, und dein Märlein ist nicht übel! Doch nun gestehe offen, daß du dich unklugerweise hast überrumpeln lassen; denn es ist und bleibt ein Ding der Unmöglichkeit, die festen Mauern einer Burg aus der Ferne zu zertrümmern!«

»Bei Gott! Ich habe die Wahrheit gesprochen, Vetter!« versetzte der Rotburger ernst. »Sei froh, wenn die Barbaren dich in Ruhe lassen, und die Ruinen deiner Burg nie die Wahrheit meiner Worte zu bestätigen brauchen!«

»Laß sie nur kommen, deine Barbaren!« fuhr der Schloßherr lebhaft auf; »und du wirst sehen, daß sie unverrichteter Sache, so wie sie gekommen, wieder abziehen müssen. Diese Burg ist wie für alle Ewigkeit gebaut, und Menschenkraft und Menschenlist werden ihr nie etwas anhaben können!«

»Das wünsche ich von ganzem Herzen!« erwiderte[53] ruhig der Rotburger. »Doch Geduld, Vetter! Nach allem, was ich bei mir zu Hause erfahren, behaupte ich, daß es nunmehr mit der goldnen Herrscherzeit unsrer Burgen und Schlösser zu Ende ist. Nichts, selbst die stärkste Feste nicht, vermag mehr den furchtbaren und heimtückischen Zerstörungsmitteln der Neuzeit zu trotzen. Sonst stritt Mann gegen Mann; der Krieger war stolz auf seine Kraft, seine Stärke und seinen Mut; den Ruhm seiner Heldenthaten verdankte er seiner persönlichen Tapferkeit, und begeistert zog er hinaus in den Kampf, der immer etwas Großartiges an sich trug. Und jetzt! – Jetzt wirft ungesehen und aus der weitesten Entfernung ein schwacher Lausbub den tapfersten Ritter nieder! Glaube mir, Vetter, eine neue Zeit ist angebrochen!« –

Wie mitleidig schaute der Schloßherr auf seinen Verwandten und dachte, bei dem sei es nicht mehr ganz richtig im Dachstübchen. Denn alles, was der Rotburger gesagt und erzählt, hielt er für Faselei, da es ihm unbegreiflich und unmöglich schien. »Laß es gut sein, Vetter!« sagte er. »Da wir nun einmal verschiedner Meinung sind, so warten wir lieber ab, was die Zukunft uns bringen wird!«

Einige Zeit darauf machte der Schloßherr in aller Frühe mit seinem Gaste einen Rundgang durch die Burg. Die Sonne war eben purpurn im Osten heraufgestiegen und ergoß ihre goldnen Strahlen über die erwachende Landschaft. Hoch in dem blauen Äther begrüßte die Lerche trillernd das wohlthätige Tagesgestirn, und unter dem schillernden Laubdach der Wälder sangen tausende von muntren Vöglein zum Preise des gütigen Schöpfers ihr Morgenlied. Unzählige Insekten schwirrten summend durch das schimmernde Lichtmeer und nippten zum Frühtrunk hier und dort von den Millionen krystallhellen Tautropfen, welche wie Perlen an den schlanken Gräsern[54] glitzerten. Durch die Wohlthat des milden Schlummerengels neugestärkt zog der Leibeigene hinaus, um im Schweiße seines Angesichtes den Acker seines Herrn zu besorgen. Ueberall rührte und regte sich frischer Lebensmut.

Die beiden Ritter hatten den Hauptturm erstiegen, von dessen hohen Zinnen sie das erhabne Schauspiel, welches die Natur ihnen bot, in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit hätten bewundern können. Doch dazu hatten beide weder Herz noch Sinn; sie achteten nur darauf, was sie in der Burg umgab und merkten nicht, wie dann und wann etwas in der Ferne seltsam aufblitzte und funkelte und immer näher und näher kam. Plötzlich stieß der Turmwart ins Horn. Die beiden Ritter eilten an den Rand des Turmes und sahen einen bewaffneten Reiter, der sich schnell der Burg näherte und am jenseitigen Rande des Abgrundes sein Pferd anhielt. Ueber den Grund seines Kommens befragt, verlangte derselbe im Namen seines Kriegsherrn die Uebergabe der Feste.

Der Schloßherr war über dieses ganz unbegründete Verlangen nicht wenig erstaunt und erwiderte hohnlachend: »Junger Mann, dein Herr muß doch ein gar sonderbarer Kauz sein! Mutet er mir zu, daß ich ihm auf einige gute Worte hin meine Burg, die noch niemand bezwang, so ohne weiteres übergeben werde? Ha! ha! ha! Sieh, wie die Verteidigung schon durch die natürliche Lage der Feste so vorteilhaft begünstigt wird! Hinter diesen eisenstarken Mauern wacht eine todverachtende Kriegerschar, und erprobte Wurfmaschinen halten siegreich jeden Sturm ab! Solang ein Tropfen Blut durch unsre Adern rinnt, kann von Uebergabe keine Rede sein!«

»Eure persönliche Tapferkeit, die Stärke der Feste und der Löwenmut ihrer Besatzung, werter Ritter, sind uns bekannt!« versetzte der Reiter. »Allein wir haben furchtbare Angriffswaffen, denen nichts zu widerstehen vermag. Verweigert nicht[55] länger die Uebergabe, sonst fällt noch vor der Nacht das ganze Schloß in Schutt und Trümmer!«

»Schweig', Grünschnabel!« polterte der Schloßherr, rot vor Zorn. »Kein Wort mehr von Uebergabe! Wenn es deinen Herrn so sehr nach meiner Burg gelüstet, so komme er heran und stoße sich die freche Stirn an unsren Mauern ein!«

Der Reiter brach in ein schallendes Spottgelächter aus und rief: »Auf Wiedersehen, Herr Ritter! Eure Mauern schützen nicht mehr, als wenn sie bloß aus Käse oder Butter wären!« Dann wandte er rasch sein Roß und sprengte in gestrecktem Galopp davon.

Durch diesen Schimpf war der Ritter aufs äußerste gebracht. Er knirschte vor Ingrimm; drohend ballte er die Faust und sandte dem Davonreitenden die gräßlichsten Verwünschungen nach.

»Was hältst du von den Worten des Buben, Vetter?« schrie er den Rotburger an. Dieser hatte inzwischen das seltsame Blitzen und Funkeln in der Ferne bemerkt und versetzte mit besorgter Miene: »Schau', Vetter, dahinten kommt eine Abteilung bewaffneter Männer heranmarschiert! Sieh, wie ihre Waffen in der Morgensonne glänzen! Ich befürchte, du wirst es nun mit den nämlichen Hunden, welche mein Schloß zerstörten, zu thun bekommen!«

»Da ist halt nichts zu befürchten, Vetter!« sagte gereizt und trotzig der Burgherr. »Hier können wir getrost der Anstrengungen jener Raubgesellen spotten; und kommen die Kerle uns zu nahe, so werden wir sie derart mit unsren Wurfmaschinen bearbeiten, daß die blauen Flecken noch nach der Auferstehung auf ihren Leibern sichtbar sein sollen!«

Bald darauf gewahrten die beiden Ritter, wie die Feinde eine der umliegenden Höhen erstiegen und mühsam große eiserne Röhren hinter sich herschleppten. Auf dem Gipfel angelangt pflanzten sie die Röhren nebeneinander in einer Reihe auf[56] und richteten sie nach dem Schlosse hin. Beim Anblick des sonderbaren Kriegsgerätes und der in so großer Entfernung getroffenen Vorbereitungen begann der Burgherr zu lachen und sagte zu einem der umstehenden Bogenschützen: »Von dort aus werden die Steine ihrer Wurfmaschinen uns nicht erreichen –!«

In demselben Augenblick sprühte es drüben flüchtig auf, ein fürchterlicher Knall erschütterte die Luft, und mit zerschmettertem Schädel stürzten der Bogenschütze und einer seiner Kameraden laut- und leblos vor dem verblüfften Burgherrn nieder.

»Ich habe die Tragweite und die Wirkungskraft der feindlichen Maschinen wahrlich unterschätzt!« sagte dieser. »Doch mit dem betäubenden Donnern wird man uns bloß erschrecken wollen!« Dann eilte er hinunter nach den andren Türmen, um dort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen.

Inzwischen blitzte und brüllte es bei den Belagerern in einem fort, und die schwarzen eisernen Schlünde hörten nicht auf, Tod und Verderben zu speien. Mit Schmerz und Wut sah der Schloßherr, wie die feindlichen Geschosse, von denen einige wie Feuer glühten, seine stolze Burg immer mehr und mehr zerrissen und zerstückelten und einen um den andren von seinen Getreuen niederstreckten. Unter donnerndem Gekrach und Gepolter rollten die getroffenen Mauern in die Tiefe, und gierig fraßen schon züngelnde Flammen an dem dürren Holzwerk der Burg.

Trotz seiner verzweifelten Lage dachte der Schloßherr nicht an Uebergabe. Mit den wenigen Reisigen, welche ihm geblieben, eilte er nach dem großen Turm und glaubte sich dort in Sicherheit. Allein noch ehe der Abend hereinbrach, stürzte auch dieses letzte Bollwerk, von einer Unmasse feindlicher Geschosse erschüttert, unter lautem Getöse zusammen.

Der Schloßherr war untröstlich, als er sah, daß[57] seine gerühmte Feste nur mehr ein großer wehrloser Schutthaufen war. Sein Vetter und seine getreuen Reisigen lagen alle tot, erdrückt, zerquetscht und zerstümmelt über und unter den rauchenden Trümmern; er selbst war auf den Tod verwundet. Unsägliche Bitterkeit erfüllte sein Herz; mühsam schleppte er sich bis an den Rand des Abgrundes und rief: »Nun fahret hin, Tapferkeit und Manneskraft! Heldenmut und Klugheit, fahret hin! Die goldne Ritterzeit ist um und macht der Unmännlichkeit Platz! Ein elender Feigling kann jetzt den tüchtigsten Kämpen bezwingen; ein armseliger Zwerg wirft den stärksten Riesen nieder, und ein Dummkopf wird fortan über unsre geschicktester Feldherrn triumphiren!« Dann brach er zornentflammt sein Schwert entzwei, schleuderte den unter jubelndem Feldgeschrei heranstürmenden Feinden die beiden Stücke entgegen und stürzte sich kopfüber in den Abgrund.

So fand das unglückliche Schloß, das erste, welches in der Provinz Luxemburg durch Pulver und Kugel zerstört ward, seinen Untergang.20

Seitdem sickern krystallklare, aber bitterschmeckende Wassertropfen aus einer schmalen Ritze unten an einem übriggebliebenen Mauerstück hervor. Das umwohnende Landvolk glaubt, das Schloß beweine noch immer seine grausame Vernichtung und nennt, den noch stehenden Mauerstumpf »die weinende Mauer«.21

20

Ähnliches wird von der Zerstörung des Schlosses Lin champs erzählt. Vgl. A. de Premorel. Un peu de tout propos de la Semois. Arlon, 1851. p. – 330.

21

Vgl. A. Siret, 60.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 52-58.
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