59. Die Schießschlangen.

[96] Die Schießschlangen, welche viel länger waren als die übrigen Schlangen, hielten sich gern an solchen Orten auf, wo sie helles Wasser und kühlen Waldesschatten fanden; denn sie mußten Wasser haben, um sich von Zeit zu Zeit darin zu baden, und die Bäume waren ihnen besonders lieb beim Spiel. Lustig schwangen sie sich von einem zum andern, oder ließen sich an einem einzelnen Baume herunter, um sich dann wieder hinaufzuschwingen.

Was das Wunderbarste aber war, die Schießschlangen hatten goldene Kronen auf dem Kopfe, was sie besonders schön erscheinen ließ, denn auch ihr übriger ganzer Körper war mit schönen, buntfarbigen Ringen bedeckt. Daß diese Krone nicht[96] aus einem hellschimmernden, farbigen Ringe bestand, den sie um den Kopf hatten, geht daraus hervor, daß sie nach Aussage der Alten diese Krone ablegen konnten. Besonders thaten sie dies beim Baden. Sie legten dann die Krone auf einen Stein, um sie nach dem Bade wieder aufzusetzen. Lange konnten sie jedoch nicht ohne dieselbe sein. Wurde die Krone entwendet, so trauerte die Schlange drei Tage lang, lief wütend umher, und am dritten Tage nahm sie sich, wenn sie die Krone nicht wiederfand, das Leben, indem sie den Kopf an einen Stein oder an einen Baum schlug, bis sie leblos niedersank.

Einmal war es einer Frau gelungen, sich einer dieser Kronen zu bemächtigen. Am dritten Tage fand man die Schlange mit zerschelltem Kopfe an dem Stein liegen, worauf sie ihre Krone niedergelegt hatte.

Ohne Flügel konnten diese Tiere in der Luft fliegen und zwar mit der Schnelligkeit eines abgeschossenen Pfeiles. Daher auch wohl ihr Name: Schießschlangen. Wenn etwas Lebendes vor der Schlange in der Luft daherflog, wie z.B. ein Vogel, so flog er ihr in den Rachen. Durch eine geheimnisvolle, ihr innewohnende Kraft zog ihn die Schlange an.

Mit den Drachen hatten die Schießschlangen das gemein, daß sie lange Feuerstrahlen aus ihrem Rachen vor sich hersandten, wenn sie hoch in den Lüften daherflogen.39

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N. Gredt, 277. Lehrer P. Hummer.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 96-97.
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