68. Hexen wollen ein geraubtes Kind verbrennen.

[105] Mitten in einem großen Walde hatten mehrere Kohlenbrenner ihre Hütten aufgeschlagen, in denen sie bei schlechtem Wetter und während der Nacht Schutz und Obdach fanden. Nicht weit von dem Lagerplatze brannten die Meiler. So nennt man große runde Haufen aufeinander geschichteten Holzes, das mit Erde oder Rasen sorgfältig bedeckt ist, und aus welchem die Kohlenbrenner in den Wäldern Kohlen brennen.

In einer Nacht erhob sich der Meister Köhler von seinem Mooslager und ging durch den Wald, um zu sehen, ob die angesteckten Meiler noch immer sorgfältig zugedeckt seien. Bald wurde er der Meiler ansichtig, und einer derselben stand in hellen Flammen. Eine ganze Bande Hexen sprang heulend und händeringend um das Feuer herum. Eines der Weiber tanzte wie verrückt und hielt ein Wickelkind in den Armen. Der Köhlermeister wagte es nicht, die Hexen zu stören, sondern blieb ganz nahe hinter einer dickstämmigen Eiche stehen und sah dem höllischen Treiben zu. Auf einmal standen[105] alle Hexen still, und eine von ihnen sagte zu der, welche den Säugling trug: »Nun ist es genug! Jetzt wirf das Kind in die Flammen!« – »Ich mag nicht! Das arme Ding ist so lieb und schön, und es jammert mich zu sehr!« entgegnete die Angeredete. »Wenn dem so ist,« sagte darauf die erste Hexe, »so will ich selbst das Kind in die lodernde Glut werfen. Gib her!« Die andre gab ihr das unglückliche Geschöpfchen. Doch ehe das abscheuliche Weib seinen gräßlichen Entschluß ausführen konnte, sprach der Köhler schnell und laut für das Seelenheil des Kindes: »Gott sei deiner armen Seele gnädig!«

Sofort waren die Hexen verschwunden, und als der Köhlermeister ans Feuer trat, lag der Säugling wimmernd am Boden vor dem flammenden Meiler. Der fromme Mann nahm das gerettete Kind mit nach seiner Hütte und brachte es am folgenden Morgen ins Gemeindehaus. Dort erzählte der Meister, wie er das arme Kind gerettet. Man ließ nachforschen, und es stellte sich heraus, daß das Kind in einem sieben Meilen entfernten Schlosse während der Nacht von den Hexen gestohlen worden war. Als die über den Verlust ihres einzigen Lieblings ganz trostlos gewordenen Eltern das Kind zurückbekamen, waren sie überglücklich und beschenkten reichlich den guten Köhlermeister.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 105-106.
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