73. Zur Geschichte der Arloner St. Martins-Kirche.

[120] In alter Zeit stand Jahrhunderte lang auf dem alten verlassenen Kirchhof, der außerhalb der alten Ringmauern lag, die erste Arloner Pfarrkirche, welche dem h. Martin geweiht war. Über diese Kirche weiß die Geschichte nur zu berichten, daß dieselbe satis elegans, d.h. ziemlich hübsch und auch wie die Kirchen der damaligen Zeit orientirt war. Und das – ist alles, was man darüber zu berichten weiß.[120]

Nach der Meinung des Herrn Kurth lag die Stadt früher tiefer im Thale um die Quelle des Setzbaches herum, und erst als die Barbaren ins Land eindrangen, zog die Bevölkerung sich mehr auf die Höhe zurück. Nichtsdestoweniger geschah der Gottesdienst noch immer in der alten Kirche, zu welcher mehrere Wege führten. Der eine kam von Walzingen und bog bei dem jetzigen Hause Rolans in den alten, noch wohlerhaltenen Kuhweg ein, an welchem der nun verlassene Kirchhof liegt. Aus der Stadt führten zwei Wege nach der Kirche: die jetzige Luxemburger-Straße, welche damals Hondelinger-Straße hieß, und das Fräsche-Puddels-Gässchen. Die Hondelinger-Straße fing an bei dem heutigen Hause Deheck, wo dieselbe unter einem ungeheuer großen Thore hindurchzog. Begab man sich das Fräsche-Puddels-Gässchen hinauf in die Stadt, so kam man zwischen dem heutigen Kasino und dem Nonnenkloster hindurch. Weiter führte das Gäßchen die jetzige Parktreppe hinauf an der heutigen Pfarrkirche vorbei bis an den Fuß eines römischen Walls. Hier, bei der heutzutag dem Bon Marché gegenüber gelegenen Treppe, befand sich eine Breck, d.h. eine Brücke mit Thor und Turm darüber, welche Zugang in das Innere der Stadt gewährte.

Im Mittelalter war Arlon nämlich mit einer doppelten Ringmauer umgeben. Die eine, die ältere, war römischen Ursprungs und lief hinter der oberen Häuserreihe der Großstraße (Enecht Gâss) und der Athenäums-Straße hindurch und umfaßte also den Großen Platz, das Hospital und den Buttermarkt. Die andere Ringmauer wurde in späterer Zeit erbaut und zog hinter der oberen Häuserreihe der Gouvernements- und St. Johannsstraße (Wâssergâss) hindurch, wo noch heute wohlerhaltene Überbleibsel davon zu sehen sind.

Zwischen beiden Ringmauern befanden sich eben[121] an der Stelle, wo die heutige Pfarrkirche zum h. Martin steht, eine der h. Katharina geweihte Kirche und ein Hospiz, worin gottbegnadete Jungfrauen die Werke christlicher Barmherzigkeit ausübten. Welchem Orden diese Nonnen, welche auch der weiblichen Jugend Schulunterricht erteilten, angehörten, weiß man nicht. Die St. Katharinen-Kirche bestand aus zwei Teilen. Der tiefer liegende Teil bildete eine Art große Krypta; der obere war der Heiligen geweiht.

So nun kam das 16. Jahrhundert mit dem Protestantismus, seinen furchtbaren Religionskriegen u.s.w. heran, eine schrecklich bange Zeit des Jammers, der Not und des Elendes. Von 1542 bis 1569 wurde Arlon fünf Mal von den Kriegshorden eingenommen und vier Mal in Brand gesteckt. Zügellos waltete eine räuberische, blutdürstige und den schimpflichsten Leidenschaften fröhnende Soldateska in der unglücklichen Stadt. Die Wohnungen wurden geplündert, verwüstet und angesteckt. Männer und Jünglinge wurden hingewürgt, und Frauen und Jungfrauen fielen der bestialischen Lust gemeiner, roher Söldner zur letzten, letzten Schmach anheim.

Als die Franzosen schließlich abzogen, war unsere liebe Vaterstadt nur mehr ein großer rauchender Trümmerhaufen. Auch die alte Pfarrkirche auf dem Kirchhof lag danieder, und an ihre Stelle erbaute man eine kleine Kapelle, welche nicht mehr vorhanden ist. Aber es handelte sich darum, eine andre Pfarrkirche für den Gottesdienst zu bekommen. Zu diesem Zwecke wurde der obere Teil der St. Katharinen-Kirche restaurirt und bekam den Namen der alten St. Martinskirche auf dem Kirchhof. Trotz der Gegenvorstellungen des Klerus und des Volkes wurde eine ungeheuere Menge Kriegsmaterial, wie Pulver, Lunten, Kanonen u.s.w. in der Krypta untergebracht. So barg denn die[122] von so harten Schicksalsschlägen aller Art kaum wieder aufatmende Stadt das Unheil in ihrem eigenen Schoße. Und als im Jahre 1660 von neuem eine fürchterliche Feuersbrunst ausbrach und die meisten Häuser in der Großstraße einäscherte, stieg die Besorgnis unsrer unglücklichen Voreltern aufs äußerste. Schon erreichten die lodernden Flammen, denen Menschenhand keinen Einhalt zu gebieten imstande war, die in ein Zeughaus verwandelte Krypta. Schon knistert das Holzwerk der Kanonen und fällt in Asche; begierig züngeln die Flammen nach der Pulverkammer hin. Noch einen Augenblick, einen Augenblick der tötlichsten Angst, u. mit der entzündeten Pulverkammer fliegt die ganze Stadt in die Luft. Doch unerklärlicher Weise erstarb das Feuer auf der Thürschwelle, hinter welcher das Pulver lag. Die gräßliche Gefahr war vorüber, und die Arloner schrieben ihre wunderbare Rettung der Fürbitte der allerseligsten Jungfrau, ihrer gütigen Schutzpatronin, zu.

Die geschwärzten und geborstenen Mauern der alten Katharinen-Kirche wurden geschleift, und an ihrer Stelle erbaute man die heutige St. Martins-Kirche. Wohl sieht dieselbe ärmlich, plump und geschmacklos aus. Doch was hätte eine durch alle mögliche Unglücksfälle und Widerwärtigkeiten, wie Kriegsnot, Hunger und Pest, gänzlich aufgeriebene Bevölkerung mehr leisten können?

Arlon arbeitete sich mühsam aber stetig aus seinen Trümmern empor. Seit 1830 ist Arlon Provinzialhauptstadt. Hübsche, ja prächtige Bauten zieren heute seine mit Ruinen gesättigte Erde. Alle öffentliche Ämter befinden sich in ansehnlichen Gebäuden, deren jedes ein Schmuck für die Stadt ist. Nur eines fehlt – eine anständige Kirche, worin der Erlöser der Welt ordentlich wohnen könnte. Die Pfarrkirche, welche Arlons Armut einst in trüben Zeiten erbaut, steht nicht mehr im[123] Verhältnis zu den Tagen des Glücks und der Wohlfahrt der heutigen Stadt. Möge sich also die Hoffnung des Hrn. Kurth erfüllen, und Arlon, ehe des 20. Jahrhunderts Morgenröte herniederstrahlt, dem einzig wahren Gotte einen Seiner würdigen Tempel errichtet haben.49

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G. Kurth, Histoire de l'Eglise St. Martin d'Arlon. Conférence donnée à l'Hôtel de Ville d'Arlon, le 23 mars 1890.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 120-124.
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