Renntier [2]

[803] Renntier (Rangifer H. Sm.), Gattung aus der Familie der Hirsche (Cervidae) mit der einzigen Art R. tarandus Sund, (s. Tafel »Hirsche II«, Fig. 1, und Tafel »Arktische Fauna«, Fig. 6). Dies ist 2 m lang. über 1 m hoch, mit 13 cm langem Schwanz, im allgemeinen dem Hirsch ähnlich, aber weniger edel und schön. Der starke Hals ist von Kopflänge, kaum aufwärts gebogen, der Kopf plumpschnauzig; die Augen sind groß, die Tränengruben klein und von Haarbüscheln bedeckt. Beide Geschlechter tragen ein Ge weib, das von dem kurzen Rosenstock an bogenförmig nach vorwärts gekrümmt, an den Enden schaufelförmig ausgebreitet, fingerförmig eingeschnitten und schwach gefurcht ist. Die in eine breite Schaufel endenden Augensprosse liegen dicht auf der Nasenhaut, die Beine sind verhältnismäßig niedrig, die Hufe sehr breit und tief gespalten, und die Afterklauen reichen bis auf den Boden herab. Der Pelz ist sehr dicht, und am Vorderhals verlängert sich das Haar zu einer Mähne; im Frühjahr ist das ganze Tier einfarbig grau, aber allmählich ändert sich die Färbung in schmutziges Weißgrau. Die Innenseite der Ohren und ein Haarbüschel an der Innenseite der Ferse sind weiß. Das[803] zahme R. erscheint dem wilden gegenüber fast wie verkommen. Das R. bewohnt den hohen Norden der Alten und der Neuen Welt (das Karibou Nordamerikas, R. Caribou Aud., ist vom europäischen R. spezifisch nicht verschieden) von etwa 80° nördl. Br. südlich bis 60° in Norwegen, bis 56° im Gouv. Twer, bis 49° in Sibirien, bis 46° auf Sachalin und bis 45° in Nordamerika. Auch auf Island, Spitzbergen und in Grönland findet es sich, und in Alaska ist es in neuester Zeit angesiedelt worden (s. Karte »Verbreitung der wichtigsten Haussäugetiere« bei Artikel »Haustiere«). Es bewohnt die baumlosen Fjelds Norwegens zwischen 800 und 1900 m und meidet hier den Wald; im nördlichen Sibirien suchen große Herden im Winter Schutz in den Wäldern, wandern aber im Frühjahr auf die baumlosen Ebenen, wo sie bessere Nahrung finden. Das R. lebt meist in Rudeln von mehreren hundert Stück. Es geht und läuft ziemlich schnell, schwimmt sehr gut, nährt sich im Sommer von Alpenpflanzen, im Winter von Flechten, auch frißt es Knospen und Schößlinge der Zwergbirke. Das Geweih wird Ende Dezember oder im Januar abgeworfen. Die Brunstzeit fällt in den September, und Mitte April setzt das Alttier ein Junges. Für die nordischen Völker bildet das R. gewissermaßen die Basis ihrer Existenz. Aus den Geweihen und Knochen des wilden Tieres verfertigt man Fischspeere und Angeln, die gespaltenen Schienbeinknochen dienen als Werkzeuge, mit dem Gehirn gerbt man das Fell, die ungegerbten Häute geben Bogensehnen und Netze, die Sehnen des Rückens werden zu Zwirn gespalten, die Felle der Kälber benutzt man zu Kleidern, das Fleisch, Blut, Knochenmark, selbst der Inhalt des Magens werden gegessen. Noch viel wichtiger für die europäischen Nordländer ist das gezähmte R., das indes noch immer in einem halb wilden Zustand lebt. Lappen, Finnen und Sibirier treiben besonders Renntierzucht, und die Korjaken sollen Herden von 40–50,000 Stück besitzen, während man die Zahl der Renntiere bei den norwegischen Lappen auf nur 80,000 Stück schätzt, in die sich 1200 Besitzer teilen. 200 Tiere sollen die Familie des Besitzers eben erhalten, und 500 gestatten ein sorgenfreies Leben. Das Nomadenleben der Lappen paßt sich vollständig den Gewohnheiten des Renntiers an, das sich seine Nahrung selbst suchen muß. Im Juli und August leben die Tiere auf den Gebirgen und am Meeresstrand, und vom September an beginnt die Rückwanderung. Die Tiere genießen dann volle Freiheit, paaren sich oft mit wilden und werden erst beim ersten Schneefall wieder eingefangen, um vor den Wölfen geschützt zu werden. Auch im Frühjahr läßt man ihnen Freiheit, bis die Zeit kommt, wo die Kühe ihre Kälber setzen und Milch liefern. Zum Melken muß das R. stets gefesselt werden; es liefert eine vortreffliche, angenehm süße und sehr fette Milch, aus der man kleine, etwas scharfe Käse bereitet. Im September wird geschlachtet, und jeder Teil des Tieres wird verwertet. Die ins Ausland gehenden Felle werden roh als Vorlagen (in Restaurants etc.) benutzt und nur selten zugerichtet als Pelzwerk (Automobilpelze) verarbeitet. Außerdem dient das R. als Zugtier, bei den Tungusen und Korjaken werden stärkere Rennhirsche auch als Reittiere benutzt. Ein gutes R. legt mit dem Schlitten in einer Stunde 12 km zurück und zieht nahe an 150 kg, wird aber gewöhnlich nur mit der Hälfte belastet.

In vorhistorischer Zeit war das R. über den größten Teil Mitteleuropas bis zu den Pyrenäen, Alpen und dem Tatragebirge verbreitet. Es ist aber nicht anzunehmen, daß das R. in diesem weiten Gebiet überall gleichzeitig gelebt hat; vielmehr gehören die fossilen Reste verschiedenen geologischen Perioden an. Die ältesten Funde stammen aus der ältern Diluvialzeit, die jüngsten aus Mooren, und diese reichen vielleicht bis in frühhistorische Zeit. An sehr vielen Stellen hat man von Menschenhand bearbeitete fossile Renntiergeweihe gefunden, zusammen mit Werkzeugen der Steinzeit und hier und da mit Menschenknochen. Man spricht deshalb wohl, namentlich in Frankreich, von einer Renntierzeit als einer Periode des Diluviums und setzt sie gleich der jüngern paläolithischen Zeit. In frühhistorischer Zeit hat das R. wahrscheinlich noch in den russischen Gouvernements Wolynien und Tschernigow gelebt; ebenso war es wohl noch zu Cäsars Zeiten ein Bewohner der sumpfigen Wälder Germaniens. Im hohen Norden Schottlands scheint es erst nach der Mitte des 12. Jahrh. ausgestorben zu sein.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 803-804.
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