Die Entführung aus dem Serail

[764] Daß die Wiener Abneigung gegen das norddeutsche Singspiel wesentlich nur der Musik, nicht aber auch den Texten galt, beweist die Beliebtheit, deren sich die Singspieldichtungen des Leipziger KaufmannsChristoph Fr. Bretzner (1748–1807)1 bei den Wiener Komponisten erfreuten2. Diesen Ruhm verdankte Bretzner nicht etwa einem hervorragenden dichterischen Talent – er ragt hierin kaum über den Durchschnitt hinaus – sondern einem feinen Spürsinn für das, was das große Publikum vom Singspiel erwartete. Er war in allen Sätteln gerecht, bevorzugte aber als ein Dichter, der sich auf der Höhe seiner Zeit fühlte, besonders die zauberhaften und romantischen Stoffe. Gerade seinen verbreitetsten Texten, dem »Irrwisch« und dem »Wütenden Heer«, kommt deshalb trotz ihrem bescheidenen Kunstwert und ihrer Abhängigkeit von fremden Vorbildern eine gewisse geschichtliche Bedeutung zu: jener ist eine »romantische« Erlösungsgeschichte, dieses ein wichtiger Vorläufer des »Freischütz« und seiner wilden Jagd. Auch sein »Belmont und Constanze oder die Entführung aus dem Serail«3 gehört des türkischen Lokalkolorits halber zu den Versuchen, dem Singspiel durch allerhand außergewöhnliche Reize neues Blut zuzuführen. Die Handlung ist folgende:


Belmonts Geliebte Constanze ist in die Gewalt des Bassa Selim geraten, der vergeblich um ihre Liebe wirbt. Als weiterer Gefangener befindet sich auch Belmonts ehemaliger Diener Pedrillo im Serail des Bassa; er hat die Aufsicht über dessen Gärten erhalten und dabei die Liebe von Constanzes Zofe Blondchen gewonnen. Belmont, durch Pedrillo von Constanzes Aufenthaltsort benachrichtigt, eilt herbei, wird aber zunächst samt Pedrillo von Osmin, dem Aufseher des Landhauses, hart abgewiesen. Indessen gelingt es Pedrillo zum großen Verdruß Osmins, seinen alten Herrn als geschickten Baumeister bei dem Bassa einzuführen. Der zweite Akt bringt zunächst eine komische Szene, worin Blondchen den gewalttätigen und lüsternen Osmin abfertigt, und eine ernste, die dem Bassa eine neue Abweisung durch Constanze einträgt. Dann macht Pedrillo den Osmin durch Wein unschädlich; die Liebenden verabreden ihre gemeinsame Flucht für die nächste[765] Nacht. Im dritten Akt gelingt es Belmont, auf ein Zeichen Pedrillos mit Constanze zu entkommen; den Pedrillo dagegen, der mit Blondchen gleichfalls entwischen will, überrascht der noch schlaftrunkene Osmin. Sie reißen sich zwar los, aber Osmin läßt sie verfolgen und beide Liebespaare dem Bassa vorführen. Dieser befiehlt zuerst, sie zu töten, erkennt aber dann in Belmont seinen Sohn und gestattet den Liebenden großmütig verzeihend die Heimkehr.


Eine bestimmte, italienische oder französische Vorlage hat sich für diesen Text bis jetzt noch nicht auffinden lassen. Sie hat auch wohl kaum existiert. Dagegen ist Bretzners Dichtung ein sinnfälliger Beweis für sein unleugbares Geschick, bereits bewährtes Gut aus den verschiedensten Gattungen und Zeiten zusammenzulesen und zu einem neuen Zugstück zu verschmelzen4. Weder die Charaktere noch die Situationen, weder die Motive noch die türkische Umgebung sind irgendwie neu. Das Grundmotiv der Trennung und Wiedervereinigung zweier Liebender gehört zum eisernen Bestand des Singspiels in allen Ländern, zumal seit es zum Rührstück geworden war, und auch die abenteuerliche Form gewaltsamer Entführung war durchaus nichts Neues. Derartige Rettungsgeschichten begannen eben damals wieder modern zu werden. Die Lösung des Knotens dadurch, daß Belmont sich als Sohn des Bassa entpuppt, ist ebenfalls ein uraltes dramatisches Motiv, das sich Bretzner zunutze gemacht hat. Das Liebespaar unterscheidet sich in nichts von seinesgleichen im älteren Singspiel5; es ist, wie sie alle, echt rationalistisch lediglich auf Liebe und Treue zugeschnitten, der edle Wettstreit am Schluß, füreinander zu sterben, stammt sogar aus Metastasio. Pedrillo und Blondchen sind Absenker der alten »confidenti« der opera buffa; er zeigt mit seiner Hasenfußnatur diese Abkunft noch deutlicher als sie, die mehr französisches Blut in den Adern hat6. Die beiden Türken Selim und Osmin endlich waren dem Publikum gleichfalls seit alters wohl vertraut. Die italienische Opernbühne kannte den Türken schon seit der venezianischen Zeit, wo man ihn aus seinen zahlreichen Raubzügen und Kriegen gründlich kennengelernt hatte; in der neapolitanischen ist er der ernsten wie der komischen Oper bereits nichts Neues. Die komische Oper aller Länder führt die Türken als grausame Paschas, geriebene Kaufleute, dummdreiste Kadis, lüsterne Haremswächter u. dgl. ein; bald aber ändert sich unter dem Einflusse Rousseauscher Ideen das Bild, und der wilde Türke wird durch den edlen verdrängt; liebte man es doch damals besonders, der verderbten europäischen Kultur die entlegenen Völkerschaften als Beispiele guter Sitten vorzuhalten7. Verstärkt wurde die Stellung der[766] Türkenoper noch durch die steigende Beliebtheit der orientalischen Märchenwelt (vgl. Gozzi), aus der ebenfalls manche Züge, wie z.B. die Überlistung Osmins durch den von Mohamed verbotenen Wein, herrühren.

Bretzners Bassa Selim vereinigt beide Anschauungen in sich, den grausamen Tyrannen, den Sultan Soliman der Zaïde und den edlen Ausländer. Osmin aber, der aufgeblasene, gewalttätige und dabei lüsterne Orientale, war ebenfalls in der opera buffa längst zu Hause, ja, es handelt sich hier, wie der immer wiederkehrende Name Osmin (vergrößert Osmirone8) zeigt, um einen feststehenden Typus, der als Haremswächter, Palastaufseher u.a. in den Türkenstücken regelmäßig wiederkehrt.

Ein Dichter, der sich auf die Mache des Singspiels verstand, wie Bretzner, brauchte also bei dieser Fülle von Vorlagen nur zuzugreifen, um ein neues, wirkungsvolles Zugstück zu schaffen. Immerhin scheint er einzelne darunter bevorzugt zu haben. Die älteste davon ist »La rencontre imprévue« (Die Pilgrimme von Mekka) von Dancourt und Gluck aus dem Jahre 17649. Der Grundgedanke der Fabel ist genau derselbe wie bei Bretzner, nur wird die Entführung vom Sultan schon im Plane vereitelt, auch sind der Liebhaber Ali und sein Diener Osmin ebenfalls Orientalen, und die Haupthandlung wird durch eine ganze Anzahl Episoden immer wieder abgelenkt. Die von Martinelli gedichtete, 1768 von Jommelli für Stuttgart und 1777 von Jos. Schuster für Dresden komponierte opera semiseria »La schiava liberata«10, bewirkt die Befreiung der beiden Europäerinnen zwar nicht durch List und Gewalt, sondern durch friedliche Übereinkunft, stimmt aber dafür in der Gruppierung und Charakteristik der handelnden Personen ganz auffallend mit dem Bretznerschen Stücke überein. Jede Bretznersche Figur hat ihr Seitenstück bei Martinelli, nur sind Soliman und Selim, Vater und Sohn bei Martinelli, in der Entführung durch den einen Selim ersetzt, der von Soliman Hoheit und Würde, von Selim aber die hoffnungslose Liebe und die Großmut geerbt hat. Die verwandte Charakteristik der Personen hat sogar, wie bei der Eifersuchtsszene zwischen dem blöden Pedrillo und dem überlegenen Blondchen, dem Ständchen Pedrillos und dem buffomäßigen Wutausbruch Osmins »Erst geköpft, dann gehangen«, der freilich von Stephanie stammt11, zu entsprechenden Szenentypen geführt. Bretzner wird das Martinellische Werk wohl in Dresden gehört haben. Ob er dagegen die verwandten englischen Stücke »The Sultan or a Peep into the Seraglio« von J. Bickerstaffe und »The Captive« (1769) gekannt hat12, ist zweifelhaft; sie beweisen[767] weisen nur, daß der Entführungsstoff in türkischem Gewande bereits vor Mozart in allen Ländern populär war. Dagegen war Bretzner sicher mit Großmanns Adelheid von Veltheim bekannt, die ja gleichfalls eine orientalische Entführungsgeschichte behandelt13, nur daß das Liebespaar diesmal deutscher Nation ist. Eine große Rolle spielt wiederum der Haremswächter Mehmed. Die tragische Färbung, die bei Bretzner und Mozart die Figur Constanzes erhalten hat, mag wohl auf die Rechnung dieser Adelheid gehören; im allgemeinen steht freilich das Großmannsche Stück dichterisch weit unter dem Bretznerschen.

Der Bretznersche Text ist zwar ohne jeden höheren Schwung und hat seinen guten Anteil an der Philistrosität der ganzen Gattung, überragt aber doch seine Vorlagen ganz entschieden an Klarheit und Einfachheit. Er belastet seine Handlung nicht wie Dancourt und Großmann mit allerlei Nebenfiguren und Episoden, sondern führt sie in gerader Linie zu Ende. Kein Wunder, daß die Dichtung noch im Jahre ihres Erscheinens 1781 zwei Komponisten fand, erst André, dann Mozart, 1784 folgte der Stuttgarter Dieter (s. oben) und 1790 der Biberacher J.H. Knecht14.

Mozart selbst war diese Art von Stoff von der Zaïde her wohl vertraut. Höchst wichtig für sein ganzes dramatisches Schaffen sind aber die Änderungen, die er durch Stephanie an Bretzners Text vornehmen ließ. Auf unzulängliche Sänger brauchte er diesmal zum Glück keine Rücksicht zu nehmen, nur der Bravourgesang der Cavalieri15 rang ihm einige Zugeständnisse ab, dagegen konnte er in den PartienAdambergers16 und besonders Fischers durchweg aus dem vollen schöpfen. Daß dieser Osmin unter Mozarts Händen himmelhoch über alle seinesgleichen hinauswuchs und die Reihe seiner klassischen Charakterfiguren in kaum noch zu überbietender Weise eröffnet, verdanken wir neben Mozarts Genie eben der Kunst dieses ausgezeichneten Sängers und Darstellers17. Der erste Schritt war, daß Osmin, der bei Bretzner nur eine Nebenrolle spielte, von Mozart in die Reihe der Hauptpersonen erhoben wurde. Er berichtet dem Vater am 26. Sept. 178118:


[768] Die Oper hatte mit einem Monologue angefangen, und da bat ich Herrn Stephanie, eine kleine Ariette daraus zu machen, – und daß, anstatt nach dem Liedchen des Osmin die Zwey zusammen schwätzen, ein Duo daraus würde. – Da wir die Rolle des Osmin Hrn. Fischer zugedacht, welcher gewiß eine vortreffliche Baßstimme hat, – ohngeacht der Erzbischof zu mir gesagt, er singe zu tief für einen Bassisten, und ich ihm aber betheuert, er würde mit nächstem höher singen – so muß man so einen Mann nutzen, besonders da er das hiesige Publicum ganz für sich hat. – Dieser Osmin hat aber im Original-Büchel das einzige Liedchen zum singen und sonst nichts, außer dem Terzett und Finale. Dieser hat also im ersten Act eine Aria bekommen und wird auch im zweyten noch eine haben. Die Aria hab ich dem Hrn. Stephanie ganz angegeben – und die Hauptsache der Musik davon war schon fertig, ehe Stephanie ein Wort davon wußte. – Sie haben nur den Anfang davon, und das Ende, welches von guter Wirkung seyn muß.


So treten Belmont und Osmin, für Mozart die beiden Hauptgegenspieler der Oper, gleich zu Anfang einander scharf gegenüber, jeder mit einem außerordentlich charakteristischen Stück und ohne daß der gesprochene Dialog sich länger ausbreiten könnte. Nimmt man nun noch hinzu, daß Belmontes »Ariette« in hochpoetischer Weise schon in der Ouvertüre anklingt, so erkennt man schon aus diesem Anfang, mit wie ganz anderen Augen Mozart seinen Stoff betrachtete als Bretzner. Auch im zweiten Akt wurde dem Osmin zuliebe aus einem ursprünglichen Dialog ein Duett, diesmal mit Blondchen zusammen (9). Dagegen fiel das nichtssagende Duett zwischen Constanze und Blondchen »Hoffnung, Trösterin im Leiden« zugunsten einer zweiten Arie Blondchens weg (12); die Freude über die bevorstehende Rettung sollte zunächst von Blondchen allein ausgesprochen werden. Constanze aber erhielt ebenfalls eine neue Arie, so daß das ursprüngliche Duett gleichsam in zwei Arien aufgelöst wurde; es ist die Bravourarie »Martern aller Arten« (11), dramatisch entschieden ein Mißgriff, da sie eine bereits dagewesene Situation nur wiederholt.

Höchst bezeichnend für Mozart ist sein Verhältnis zu der eigentlichen Entführungsszene. Die stand bei Bretzner in Form eines großen Ensemblesatzes am Anfang des dritten Aktes. Er beginnt mit einem Duett des auf der Lauer stehenden Paares Belmont und Pedrillo, in das die bekannte Romanze eingelegt ist19. Dann entführt Belmont seine Constanze; als Pedrillo mit Blondchen ein Gleiches tun will, erscheint der noch schlaftrunkene Osmin, bemerkt die Flucht und läßt alle vier von der Wache einholen. Alle Bitten und Bestechungsversuche nützen nichts, sondern steigern nur die Wut und Rachsucht des Türken, so daß das Stück in höchster Erregung schließt. Mozart erkannte sofort, daß hier ein unvergleichliches Finale vorlag, er wollte deshalb »dieses charmante Quintett oder vielmehr Finale lieber zum Schluß des zweiten Actes haben«20, wo bei Bretzner die beiden Paare in einem Quartett ihrer Zuversicht einen ziemlich farblosen Ausdruck verleihen. Dieses Entführungsfinale sollte der Höhepunkt des Ganzen werden,[769] nachdem Mozart bereits jenes Ensemble zu Beginn des dritten Aktes zu komponieren angefangen hatte21. Damit war aber die Notwendigkeit einer »großen Veränderung, ja einer ganz neuen Intrige« gegeben, denn für den dritten Akt blieb auf diese Weise nur noch die Lösung des Knotens durch den verzeihenden Selim übrig, es sei denn, man hätte diese Szene als Schlußstück noch in aller Kürze jenem Finale angeschlossen, was freilich wiederum den Schluß übers Knie gebrochen und der Oper ihren abendfüllenden Charakter genommen hätte. An dem Unvermögen Stephanies, für den dritten Akt eine »neue Intrige« zu ersinnen, ist jene Umarbeitung allem Anscheine nach gescheitert. Die Entführungsszene blieb an ihrer alten Stelle, wurde aber jetzt nicht mehr als Ensemble, sondern, mit Ausnahme der Romanze, als reine Dialogszene behandelt, dagegen bekamen die Hauptpersonen Belmont und Osmin, wie im ersten Akt, abermals zwei neue, charakteristische Arien (17, 19), das Duett Belmonts und Constanzes (20) wurde nur den Worten, aber nicht der Situation nach geändert, eine Bretznersche Arie Constanzes »Ach mit freudigem Entzücken« gestrichen. Die Lösung des Schlusses wurde dem Wiener Geschmacke zuliebe verändert. Jetzt verzeiht der Bassa den Liebenden nicht mehr, weil er in Belmont seinen Sohn erkennt, sondern aus reiner Großmut, die nach einem Berichte damals in Wien Mode war22. Bretzner bringt endlich als Schlußmoral den geistreichen Satz, daß der Himmel sich zwar oft bewölke, durch einen Sonnenstrahl aber immer wieder zur Heiterkeit zurückgeführt werde. Stephanie läßt dagegen in einem Vaudeville Alle der Reihe nach dem Bassa ihren Dank für seinen Edelsinn abstatten, worauf ein Chor zu seinem Lobe die Oper beschließt.

Aber auch der Schluß des zweiten Aktes blieb nicht ohne Änderung. Auch hier erhielt Belmont noch eine Arie (15), vor allem aber trat an die Stelle des farblosen Quartetts bei Bretzner ein neues, dramatischeres, das gleichsam ein kleines Drama für sich einschließt: Wiedervereinigung, Entzweiung durch Eifersucht und Versöhnung der beiden Liebespaare.

Diese Veränderungen strafen die oft, selbst von R. Wagner23, aufgestellte Behauptung Lügen, Mozart habe wahllos alle Texte, die ihm unter die Hände gekommen seien, komponiert. Er hatte, wie man sieht, im Gegenteil schon an dem Bretznerschen Texte recht viel auszusetzen, und, was noch mehr heißen will, seine Änderungsvorschläge bedeuten mit der einen Ausnahme der Marternarie zugleich auch Verbesserungen. Die ganze Handlung wurde durch das schärfere Herausarbeiten der einzelnen Charaktere in eine höhere Sphäre gehoben, ihr Grundgedanke erhielt dadurch, daß Osmin zum Hauptgegenspieler des Liebespaares aufrückte, eine ungemeine Vertiefung weit über den Rahmen des Singspiels hinaus. Alle Zusätze Mozarts sind scharf geschaute musikalische Porträts, vom bühnenkundigen Auge des[770] Musikers aufgenommen und vom Dichter, so gut es in seinen Kräften stand, ausgeführt. Mozart hatte seinen Dichter da, wo er ihn haben wollte, er verteidigte ihn deshalb auch gegen den Vater am 13. Oktober 178124:


Nun wegen dem Text von der Opera. – Was des Stephanie seine Arbeit anbelangt, so haben Sie freylich Recht – doch ist die Poesie dem Charakter des dummen, groben und boshaften Osmin ganz angemessen, und ich weiß wohl, daß die Verseart darin nicht von den besten ist; doch ist sie so passend mit meinen musikalischen Gedanken (die schon vorher in meinem Kopf herum spazierten) übereins gekommen, daß sie mir nothwendig gefallen mußte; und ich wollte wetten, daß man bey dessen Aufführung nichts vermissen wird. Was die in dem Stück selbst sich befindende Poesie betrifft, könnte ich sie wirklich nicht verachten. – Die Aria von Belmont: O wie ängstlich etc. könnte fast für die Musik nicht besser geschrieben seyn. – Das Hui und Kummer ruht in meinem Schooß (denn der Kummer nicht kann ruhen) ausgenommen25 ist die Aria auch nicht schlecht, besonders der erste Teil; und ich weiß nicht, – bey einer Opera muß schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter seyn. – Warum gefallen denn die welschen komischen Opern überall? mit allem dem Elend, was das Buch anbelangt? sogar in Paris, wovon ich selbst ein Zeuge war? – Weil da ganz die Musik herrscht und man darüber alles vergißt. Um so mehr muß ja eine Opera gefallen, wo der Plan des Stückes gut ausgearbeitet, die Wörter aber nur bloß für die Musik geschrieben sind und nicht hier und dort, einem elenden Reime zu gefallen (die doch bey Gott zum Werthe einer theatralischen Vorstellung, es mag seyn, was es wolle, gar nichts beytragen, wohl aber eher Schaden bringen) Worte setzen oder ganze Strophen, die des Komponisten seine ganze Idee verderben26. – Verse sind wohl für die Musik das Unentbehrlichste, aber Reime – des Reimens wegen – das Schädlichste; die Herrn, die so pedantisch zu Werke gehen, werden immer mit sammt der Musik zu Grunde gehen. – Da ist es am besten, wenn ein guter Komponist, der das Theater versteht und selbst etwas anzugeben im Stande ist, und ein gescheidter Poet als ein wahrer Phönix zusammen kommen – dann darf einem vor dem Beyfalle des Unwissenden auch nicht bange seyn. – Die Poeten kommen mir fast vor, wie die Trompeter mit ihren Handwerkspossen; wenn wir Komponisten immer so getreu unsern Regeln (die damals, als man noch nichts Besseres wußte, ganz gut waren) folgen wollten, so würden wir eben so untaugliche Musik, als sie untaugliche Bücheln verfertigen.
[771]

»Nun habe ich Ihnen, dünkt mich, genug albernes Zeug daher geschwätzt.« Mit dieser echt Mozartschen Selbstironie schließt der Brief, neben den Ausführungen über den Idomeneo eines der seltenen Selbstbekenntnisse Mozarts über seine Stellung zu der damals so heiß umstrittenen Frage nach dem Verhältnis zwischen Wort und Ton in der Oper.

Die Worte sind viel mißverstanden worden, besonders als Mozart das Unglück hatte, in den Kampf umR. Wagners Musikdrama hineingezogen zu werden. Es muß also kurz darauf eingegangen werden, zumal da es sich dabei um die geistigen Grundlagen der Mozartschen Oper überhaupt handelt. Allerdings muß zunächst vor dem verhängnisvollen Glauben gewarnt werden, als gäbe es ein einziges, unverrückbares dramatisches Ideal, dem der eine Meister mehr, der andere minder nahegekommen wäre. Gerade unsere drei größten neueren Musikdramatiker, Gluck, Mozart und Wagner, beweisen das Gegenteil. Dank dem Unterschiede der Persönlichkeiten sowohl als der dramatischen Anschauungen der betreffenden Zeitalter nimmt jeder einzelne von ihnen nicht nur dem Grundproblem des musikalischen Dramas, dem Verhältnis zwischen Poesie und Musik, sondern auch dem allgemeinen Problem des Dramas gegenüber eine so eigentümliche und selbständige Stellung ein, daß wir entschieden besser daran tun, den Gesetzen ihres eigenen Schaffens nachzuspüren, als sie einem postulierten allgemeinen Gesetze unterzuordnen, das sich bei kräftigerem Zufassen als Schall und Rauch erweist.

Alles musikdramatische, ja im Grunde alles vokale Schaffen beginnt mit einer vom Musiker bewußt oder unbewußt an seinem Texte geübten Kritik. Der Satz, daß man die dramatischen Eigenschaften eines Komponisten an der Wahl seiner Texte erkenne, hat entschieden etwas Richtiges: Dichtungen, deren poetischer Gehalt nicht über die Konvention einer bestimmten Zeit hinausreicht oder die schon in ihrer Anlage musikwidrig sind, hat, wie die Neapolitaner undWebers Euryanthe lehren, auch die geistvollste Musik nicht dauernd über Wasser zu halten vermocht. Dabei braucht jener poetische Goldgehalt, dessen ein Libretto zu seiner dauernden Wirkung bedarf, nicht einmal vom Dichter selbst ausgemünzt zu sein, wenn er nur überhaupt vorhanden und der Musiker genial genug ist, ihn aus allen Schlacken herauszuholen. Dies führt uns aber sofort zu der grundlegenden Frage, auf welche verschiedene Weise die Inspiration des Musikers durch den Dichter überhaupt erfolgen kann. Der idealste Fall, die Vereinigung des Dichters und des Musikers in einer Person, wie sie bei R. Wagner vorliegt, scheidet wegen seiner ungemeinen Seltenheit von vornherein aus. Aber auch die Dichter, die imstande sind, ihre Textbücher poetisch wertvoll und dabei doch aus dem Geiste der Musik heraus zu gestalten, sind in der Operngeschichte spärlich genug gesät. Calsabigi kam diesem Ideal zwar nahe, vermochte es jedoch wegen seines Mangels an ursprünglicher Schöpferkraft nicht voll zu erreichen. Erst Gluck schuf aus seinen Texten Werke von bleibender Größe, aber, wie gezeigt wurde, zunächst nicht als Musiker, sondern als dramatischer[772] Denker. Er ist der schroffste Verfechter der Anschauung, daß in der Oper die dramatisch-dichterische Konzeption die Hauptsache ist.

Ganz anders Mozart. Seine angebliche Kritiklosigkeit seinen Texten gegenüber wird nicht allein durch das Studium der »hundert Bücheln« vor der Komposition des Figaro, sondern vor allem durch die oben angeführten Bemerkungen über die Unfähigkeit der zeitgenössischen Librettisten gründlich widerlegt. Seinem scharfen Auge entging der Tiefstand der zeitgenössischen Singspieldichtung nicht, es durchschaute auch, wie der prachtvolle, echt Mozartsche Vergleich mit den »Handwerkspossen der Trompeter« lehrt, den Grund alles Übels, das stumpfsinnige Kleben an der Schablone, das Fehlen jedes frischen Luftzuges. Auch das Handwerk dieser Poeten war ihm wohl vertraut, wie seine heftigen Worte über ihr ödes Reimgeklingel beweisen. Wohl waren diese Mißstände den bedeutenderen unter seinen Vorgängern, z.B. Benda, bereits zum Bewußtsein gekommen, und an Versuchen, den Puppengestalten dieser Texte individuelleres Leben einzuhauchen, hatte es nicht gefehlt. Aber es war doch bei mehr oder minder geglückten Ansätzen geblieben – der Respekt vor den Dichtern und dem Publikum zwang jene Meister immer wieder in die alte Sphäre zurück. Mozart kennt diese Rücksicht nicht mehr. Wäre er von Gluckschem Geblüte gewesen, so hätte er sich zunächst nach einem Dichter umgesehen, der mit starker Hand den ganzen Augiasstall gereinigt und ihm Muster einer neuen, geläuterten Singspielgattung vorgelegt hätte. Aber dieses spekulative Vorgehen war nicht seine Sache. Seine ungeheure musikalische Schöpferkraft wies ihn auf einen ganz andern Weg. Der Kernsatz seiner ganzen Opernästhetik liegt in den wenigen Worten jenes Briefes: »Da ist es am besten, wenn ein guter Komponist, der das Theater versteht und selbst etwas anzugeben im Stande ist, und ein gescheiter Poet als ein wahrer Phönix zusammenkommen.« Kurz vorher stellt er den welschen komischen Opern, »in denen die Musik herrscht«, eine idealere Opernkunst entgegen, »worin der Plan der Stücke gut ausgearbeitet« ist. Von diesen beiden Stellen aus will auch jenes andere, oft angeführte und viel mißdeutete Wort verstanden sein, daß »in der Oper die Poesie schlechterdings die gehorsame Tochter der Musik sein« müsse. Der Musiker, dem sich nach Mozarts Forderung der Dichter unterzuordnen hat, ist eben nicht der nächste beste, sondern nur derjenige, der kraft einer gründlichen Kenntnis des »Theaters«, d.h. der dramatischen Dinge überhaupt, imstande ist, »etwas anzugeben«, d.h. die Initiative bei der gemeinsamen Arbeit zu ergreifen, wenn es nötig ist. Es handelt sich also hier durchaus nicht um einen Freibrief für den absoluten Musiker, der ihm gestattete, ohne Rücksicht auf den Text selbstherrlich seine Künste spielen zu lassen, sondern nur um einen Appell von dem dramatisch schlecht unterrichteten Dichter an den besser unterrichteten Musiker. Und Mozart war damit vollständig im Recht, denn er war tatsächlich den damaligen Dichtern an dramatischer Kenntnis himmelhoch überlegen, von seinem genialen psychologischen Scharfblick gar nicht zu[773] reden. Es war nur sein angestammtes Herrenrecht, das er da über sie ausübte; genügten sie doch oft kaum seiner ersten Forderung nach einem »gut ausgearbeiteten Plan«. Die Umarbeitung des Bretznerschen Textes, die Stephanie nach seinen Angaben vornehmen mußte, liefert den besten praktischen Beleg für diese Anschauungen: man sieht, wie der Plan zum Teile völlig verändert wird, und erkennt als die Hauptaufgabe des Dichters, die einzelnen Soli, Ensembles und Chöre so auf das Ganze zu verteilen, wie es dem Komponisten dramatisch am wirksamsten erscheint.

Mozart ließ sich also zunächst von seinen Texten ganz allgemein anregen, d.h. seine Phantasie in eine bestimmte Richtung lenken. Dann aber erfolgte sofort der eigentliche Schöpferakt, und der war nicht, wie bei Gluck, rein geistiger, verstandesmäßiger, sondern künstlerisch-schöpferischer, musikalischer Natur. Er nahm den dichterischen Grundriß nicht als etwas Feststehendes hin, das der Musiker nur in vollen Farben auszuführen hätte, sondern schmiedete ihn in der Glut seiner musikalisch-dramatischen Phantasie sofort um. Auf die Verse des Dichters kam es ihm dabei nicht selten überhaupt nicht an; die Musik der ersten Osminarie z.B. »spazierte bereits in seinem Kopfe herum«, ehe er den Text in den Händen hatte. Stimmte nun in derlei Fällen der Text auch nur einigermaßen mit dem ihm vorschwebenden Bilde überein, so ließ er ihn im Vertrauen auf die Macht seiner Tonsprache stehen, wo nicht, so mußte er geändert werden. Was Mozart auf diese Weise aus seinen oft banalen Texten herausholte, hat von jeher die größte Bewunderung erregt. Die ursprünglichen Verse verhalten sich dazu wie hilfloses Gestammel gegenüber der monumentalen Sprache des Genies. Seine musikalische Intuition reißt wie mit einem Zauberschlage alle diese hausbackenen Gestalten aus dem trüben Schlamme der Konvention in das Gebiet des echt Menschlichen in seiner ganzen Fülle empor. Er hat gewiß nicht die Absicht gehabt, »durch schöne Musik den Sinn ganz von den unzulänglichen Texten abzulenken«27. Sicherlich gehören Schönheit und Ebenmaß zu den Haupteigenschaften seiner Kunst, aber sie entsprachen durchaus einer allgemeinen Forderung der damaligen Zeit, der sich auch Gluck trotz seiner wachsenden Neigung zum Deklamatorischen stets gebeugt hat. Die Hauptsache ist vielmehr auch bei Mozart das Streben nach dramatischem Ausdruck. Es hat bei ihm nicht wie bei Gluck zu einer Kriegserklärung an die bestehende Formenwelt geführt, sowenig er, wie jener Brief lehrt, die überkommenen »Regeln« als etwas Unantastbares, Geheiligtes ansah. Aber jene Formen genügten seinem dramatischen Ideal, zumal in der freien Umbildung, die er ihnen zuteil werden ließ. Auch darin hat er die Ansprüche des Musikers gegen den Dichter durchzusetzen verstanden.

Jenes Ideal sah nun freilich wiederum ganz anders aus als das Glucksche. Es kennt weder die Unterordnung des Ganzen unter eine monumentale[774] Grundidee28, wie sie in den italienischen, noch die Zurückführung der Charaktere auf die einfachsten Formeln, wie sie in den französischen Reformopern Glucks zutage tritt. Wohl sind auch für ihn die Charaktere, und zwar noch weit ausschließlicher als für Gluck, die Hauptsache. Ihre Darstellung, Entwicklung und ihr Widerspiel sind für ihn der eigentliche Inhalt des Dramas, weit mehr als das dramatische Geschehen als solches. Darum konnte er sich auch bis zum Schluß mit gesprochenem Dialog und Seccorezitativ begnügen29. Seine Phantasie verschmäht es, den Gang der Handlung Schritt für Schritt in Tönen wiederzugeben, sie greift nur die entscheidenden Momente heraus und stellt an ihnen in großen, reich ausgeführten Seelengemälden die Entwicklung der einzelnen Charaktere dar. Sie vertraut darauf, daß die Kraft ihrer Tonsprache den Zuschauer auch während jener Zwischenpartien im Banne hält, bis eine neue Wendung der Handlung auch einen Wechsel jener Charakterbilder nötig macht. Findet er es aber für angemessen, einen größeren Komplex dramatischen Geschehens musikalisch voll auszugestalten, so wählt er dazu nicht etwa die Form des Orchesterrezitativs, sondern die des dramatischen Ensembles und Finales. Im Grunde kommt es ihm auch hier nicht sowohl auf den dramatischen Verlauf als solchen an, sondern auf die Eindrücke, die davon gleichzeitig auf die verschiedenen Charaktere ausstrahlen, auf die Wandlungen, die ein solches Gegenspiel bei ihnen erzeugt. Es ist kein Zufall, daß gerade Mozart bis auf den heutigen Tag als der unerreichte Meister des dramatischen Ensembles dasteht. Der ganz einzige Bund, den in seiner Persönlichkeit dichterische Intuition und musikalisches Schöpfertum eingehen, ließ ihn hier ein besonderes Vorrecht der Musik in vollendeter Weise ausnützen: die Fähigkeit, Gedanken und Gefühle, die verschiedene Personen gleichzeitig bewegen, auf einmal zum Ausdruck zu bringen und außerdem noch im Orchester die äußere Situation anzudeuten.

So ist Mozarts Dramatik in erster Linie Charakterdramatik. Aber auch der Begriff des dramatischen Charakters ist bei ihm ein anderer als bei Gluck. Die Gluckschen Charaktere gleichen verkörperten Begriffen, sie erhalten ihr ganzes Licht und Leben von der Idee, deren Träger sie sind, alle sonstigen Regungen, die damit nichts zu tun haben, werden bei der Wiedergabe streng ferngehalten30. Für Mozart dagegen, der sich auch hierin als moderner Geist erweist, ist der einzelne Charakter nicht der Vertreter einer bestimmten Idee, sondern eine unteilbare Einheit lebendiger Seelenkräfte, etwas Einmaliges, Individuelles, das seine Entwicklungsmöglichkeiten nur in sich selbst trägt. Gewiß sind auch die Mozartschen Charaktere Typen, d.h. sie weisen über sich selbst hinaus auf ein Allgemeines hin, aber sie behalten dabei doch ihr individuelles Gepräge und verlieren sich niemals ins Begriffliche oder gar Allegorische. Diese Art war aber von Hause aus auf die volle schöpferische Kraft des Musikers angewiesen. Seine Aufgabe bestand[775] eben darin, alle die vielverschlungenen Regungen ans Licht zu ziehen und in seelische Tiefen hinabzuleuchten, die den Poeten verschlossen blieben. Ein Gluckscher Charakter ist in seinen wenigen Grundzügen von vornherein fertig, alle Phasen der Handlung dienen nur dazu, dieses Grundwesen noch zu steigern. Ein Mozartscher dagegen ist bei all seiner Einheitlichkeit stets in Bewegung, er offenbart immer wieder neue Seiten, Nebenzüge, die kommen und wieder verschwinden und doch dadurch die Einheit nicht zerstören, sondern nur bekräftigen. Die Gestalten in Mozarts Singspielen und Buffoopern tragen deshalb auch weit mehr Wirklichkeitsgepräge als die Gluckschen Idealfiguren. Allerdings verstand Mozart unter Wirklichkeit nicht etwa, wie die gleichzeitigen Stürmer und Dränger in der Literatur, das Nächstliegende, »Zeitgemäße«, sondern das, was zu allen Zeiten wirklich und wahr ist. Seine Behandlung des Figarostoffes lehrt dies am deutlichsten. Diesem Realismus im höchsten Sinne ist es zu verdanken, daß seine Gestalten bis auf den heutigen Tag nichts von ihrer Wirkung eingebüßt haben. Sie gehören keiner bestimmten, sondern jeder Gegenwart an.

Der Dichter Bretzner war dagegen von Mozarts und Stephanies Bearbeitung keineswegs erbaut, sondern schrieb 1782 in der Leipziger Zeitung31:


Ein gewisser Mensch Namens Mozart in Wien hat sich erdreistet, mein Drama »Belmont und Constanze« zu einem Operntexte zu mißbrauchen. Ich protestiere hiermit feierlichst gegen diesen Eingriff in meine Rechte und behalte mir weiteres vor.

Christoph Friedrich Bretzner, Verfasser des Räuschchen.


Ein zweiter Protest folgte 178332 gegen den »ungenannten Umarbeiter«, der eine »Menge Gesänge mit gar herzbrechenden und erbaulichen Verslein« eingeschoben habe. Von weiteren Schritten des selbstbewußten Poeten ist allerdings nichts bekannt geworden.

Die oft gehörte Behauptung, Mozart habe mit der Entführung »die deutsche Oper geschaffen«, verrät mehr Begeisterung als Verständnis für die geschichtlichen Tatsachen. Das hatten Schweitzer und Holzbauer in Mannheim versucht, ohne freilich damit durchzudringen. Die Entführung dagegen ist dem Geiste wie der Form nach ein Singspiel mit dem ganzen, dieser Gattung eigenen Gemisch deutscher, französischer und italienischer Züge, ja, die Figur des Osmin hat sogar mehr italienisches Blut mitbekommen, als sonst im deutschen Singspiel üblich war. Stilistisch bringt das Werk also nichts Neues, was nicht im Keime bereits im älteren Singspiel, namentlich im Wiener, vorhanden gewesen wäre. Wohl aber mag man einen deutschen Zug in der Energie und Tiefe erblicken, womit hier der Rahmen des Unterhaltungsstücks gesprengt und mit dem Drama als einem Spiegel des menschlichen Lebens ernst gemacht wird. In dieser Hinsicht hat die Entführung der späteren deutschen Oper tatsächlich eine Vorarbeit von unermeßlichem Werte geleistet. Sie war aber zugleich auch in Mozarts[776] eigenem Schaffen das erste Werk, worin seine dramatische Muse ihre eigentümlichen Züge voll entschleierte. Darum bildet sie und nicht der Idomeneo das stolze Eingangsportal zum Tempel seiner Dramatik33.

Mozarts vertiefte Auffassung von seinem Stoffe offenbart sich schon in der Ouvertüre. Die meisten älteren Singspielouvertüren waren mehr oder weniger solid gearbeitete Musikstücke ohne individuellere Züge gewesen, eine Minderheit hatte nach französischem Vorbild eine innere Verbindung mit der ganzen Oper oder wenigstens mit ihrer ersten Szene angestrebt. Ihr folgt Mozart, aber auf eine ganz eigentümliche, hochpoetische Art. Formell ist dieses Stück ein ausgedehnter Sonatensatz, nur daß an die Stelle der Durchführung in Anlehnung an die italienische Sinfonie ein kurzer, langsamer Satz tritt. Aber dieses Andante ist wiederum viel zu kurz, um als selbständiger Satz empfunden zu werden, so daß das Ganze tatsächlich aus einem Satze, mit einer Episode in der Mitte, besteht. Diese Einheitlichkeit wird noch dadurch verstärkt, daß das Seitenthema nach J. Haydns Art keinen Gegensatz bringt, sondern aus dem Hauptthema abgeleitet wird. Auch Mozart selbst legte auf den Eindruck der Knappheit großen Wert34: »sie ist ganz kurz, wechselt immer mit forte und piano ab, wobey beim forte allzeit die türkische Musik einfällt, moduliert so durch die Töne fort, und ich glaube, man wird dabey nicht schlafen können, und sollte man eine ganze Nacht durch nicht geschlafen haben.«

Im Charakter fällt zunächst das hauptsächlich durch die Mitwirkung der Janitscharenmusik erzeugte orientalische Lokalkolorit auf. Die Idee dazu mag in Mozart besonders durch Glucks »Pilgrime von Mekka« wachgerufen worden sein35. Neu aber ist ein anderer Zug, der dem türkischen nicht allein die Waage hält, sondern weit stärker den Grundcharakter des Ganzen bestimmt. Was ist das für ein geheimnisvolles, phantastisches Flüstern und Wispern, mit dem das auf einfachen Dreiklangsintervallen sich aufbauende Thema zunächst einsetzt? Märchenstimmung umfängt uns, wie später im Allegro der Zauberflötenouvertüre, und hält uns bald mit heimlichem Raunen, bald mit hellem Flimmern bis zum Schlusse dieses genialen Stimmungsbildes in ihrem Bann. Auch der häufige, unvermittelte Wechsel von forte und piano sowie das beständige Modulieren gehören dazu, sie verstärken[777] den fremdartigen Eindruck, der gleich vom Beginn an weit hinwegführt aus der biederen Welt des alten Singspiels. Erst im neunten Takt offenbart der Eintritt der türkischen Musik, daß dieser romantische Ritt dem Orient gilt, dessen Märchenwelt Mozart ja ganz besonders liebte. Der Orient ist für seine Anschauung aber nicht allein das Land greller, berauschender Farbenpracht, sondern auch unheimlicher, schwüler Sinnlichkeit, wie in der Oper selbst Osmin zeigt; schon in der Ouvertüre deuten die plötzlich sich einschleichenden Mollpartien auf diese Sphäre hin. Da bricht das phantastische Treiben mit einem Male ab; in schwerem c-Moll betritt ein fremder Gast die Szene, von Trauer und Sehnsucht zugleich erfüllt; von tiefer Wirkung ist dabei das Konzertieren zwischen Streichern und Bläsern sowie der Ausbruch auf der Fermate, die die ganze Sehnsucht wie in einem Brennpunkt zusammenfaßt. Aber der Zuhörer hat kaum Zeit, sich in die klagenden Züge dieses Bildes zu versenken: ehe er sich dessen recht bewußt wird, steht er schon wieder mitten in dem alten Wirbel drin, dessen prickelnder Eindruck jetzt noch durch allerhand Zusätze, wie gleich der Klarinetten und des Triangels am Anfang, verstärkt wird; auch die Mollpartie des Schlusses wird erweitert und in ihrer Wirkung gesteigert. Wie hinter einem feinen Schleier verschwindet das glänzende Bild auf einem fragenden Halbschluß. Die Antwort gibt die unmittelbar folgende Arie des Belmonte: Hier soll ich Dich denn sehen, Constanze! (1). Es ist die Melodie jenes Mittelsatzes der Ouvertüre, nur jetzt in C-Dur statt in c-Moll – eine ebenso einfache wie poetische Verwendung dieses Gegensatzes, um die durch jenen Mollsatz erzeugte Spannung zu lösen. Der sehnsüchtige Klageruf, der vorhin, wie von fernher, gedrückt und gedämpft an unser Ohr gedrungen war, enthüllt sich jetzt als die Stimme Belmontes, des treuen Liebenden, der nach »allzuviel der Leiden« den Strand seiner Sehnsucht erreicht hat und wie aus dem Nebel auf uns zutritt. So gibt die Ouvertüre den äußeren Stimmungskreis der Oper wieder, deutet aber zugleich auch auf das Grundthema des Ganzen hin, die treue, unschuldsvolle Liebe, die aller feindlichen Mächte Herr werden wird36. Sie zeigt, was unter den Händen eines wirklichen Poeten aus jener französischen Verknüpfung von Ouvertüre und Oper werden konnte. Es ist weder die mehr oder minder mechanische Art mancher älteren Singspielkomponisten, noch die pittoreske Grétrys (S. 556 f.)37, sondern sie trifft den eigentlichen Lebensnerv des Stückes. Jene Arie gehört zur Ouvertüre als Erfüllung dessen, was der Mittelsatz verhieß, sie gehört aber auch, wie gleich zu zeigen sein wird, ideell sehr nahe zum folgenden; so ergibt sich ein fortlaufender Komplex, dessen Glieder alle miteinander in lebendiger Verbindung stehen. Jetzt erst begreifen wir den tieferen Sinn von Mozarts lakonischen Worten, Stephanie habe auf seinen Wunsch aus dem[778] ursprünglichen Monolog »eine Ariette gemacht«. Wenige der damaligen Komponisten hätten der Versuchung widerstanden, diese Stimmung in einer größeren, italienisch gefärbten Arie wiederzugeben. Mozarts Komposition ist ein einfaches Lied, wie das folgende von Belmontes Gegenspieler Osmin, und nur wenig länger als jener Mittelsatz. Auch hier ist der Märchenton festgehalten: in reiner, unschuldiger Herzlichkeit, ohne jede seelische Komplikation spricht dieser Ritter seine tiefe Liebe aus; nur eine edle Sehnsucht dämpft das volle Glücksgefühl, die in der kleinen, von Empfindung überströmenden Coda mit der schwellenden Bläserbegleitung ihren Höhepunkt erreicht. Und ebenso lapidar wie hier die ideale, sittliche Liebe äußert sich in Osmins folgendem Liede (2) ihr Gegenstück, die unverfälscht sinnliche, bei der der Naturtrieb mit allerhand anderen dunklen Regungen, wie Eifersucht, Gewalttätigkeit und Bosheit, gepaart ist. Osmin ist damit die erste in der Reihe der Kontrastfiguren geworden, die Mozart in seine Dramen hineinstellt, nicht um unterhaltender Episoden willen, sondern um seine Helden besser herauszumodellieren. Auch bei Osmin ist die Liebe die treibende Kraft, von seinen plumpen Zärtlichkeiten gegen Blonde bis zu den Ausbrüchen wilder Grausamkeit: nicht zufällig ist auch sein erster Gesang ein Liebeslied. Aber diese Liebe bleibt im Roh-Sinnlichen, Triebhaften stecken, die sittlichen Motive, die Belmonte leiten, sind ihr vollständig fremd. Es ist bereits die Art, die später dem Don Giovanni den Leporello zur Seite gestellt hat. Erst die Ausgestaltung Osmins zum Hauptgegenspieler des Helden hat dem Ganzen die dramatische Seele eingehaucht: ohne seinen Riesenschatten blieben auch die Lichtgestalten des Liebespaares ohne dramatische Wirkung. Auch seine komische Färbung entspringt durchaus nicht allein dem Bestreben, innerhalb der Tradition zu bleiben. Denn dieser Osmin ist weder ein hausbackener Spaßmacher im Sinne des deutschen Singspiels noch eine Karikatur in dem der opera buffa. Mozart kennt überhaupt keine Komik im älteren Sinne mehr. Es war wohl seine größte geistige Tat, daß er die Oper von dem künstlichen Gegensatz verstiegener Heroendarstellung und nicht minder unwahrer komischer Verzerrung befreite und für Tragik und Komik auf die letzte Quelle, das menschliche Leben selbst, zurückging. Er ist der größte Realist des musikalischen Dramas, seine Gestalten stehen ausschließlich auf dem Boden der Wirklichkeit und sind allein auf sie bezogen. Er hat damit die Kenntnis vom Menschen, soweit es das musikalische Drama betrifft, ganz ungeheuer erweitert, indem er Tragik und Komik in ganz eigentümlicher Weise verschmolz und das Niederste dem Höchsten zugesellte. Noch in der »Finta giardiniera« hatte er diesem Ziele in unbewußtem Drange zugestrebt, aber ohne Erfolg; das dunkel geahnte Ideal war ihm unter den Händen zergangen. Jetzt, in der Entführung, war sein Lebensblick so weit gereift, daß er es wirklich festzuhalten vermochte, jetzt erst war er im stande, den Charakteren seiner Figuren auf den Grund zu blicken und sie als individuelle, unteilbare Einheiten starker und schwacher, aufwärtsstrebender und an die Erde sich anklammernder Kräfte zu erkennen.[779] Damit wurde Mozart aber zum Schöpfer eines ganz neuen Weltbildes in der Oper. Diese Gestalten mußten ganz anders fühlen, erleben und handeln als die, die man bisher gewohnt war. Sie wollen weder bestimmte Ideen verkörpern noch Verstand und Witz belustigen, noch, wie ein Lieblingswort der rationalistischen Ästhetik lautete, »die Natur nachahmen«. Sie waren vielmehr selbst Natur, d.h. unmittelbares schöpferisches Leben. Daher sind sie auch weder gut noch böse im Sinne gemeiner Moral; sie werden nicht beständig an einem außerhalb der Wirklichkeit stehenden Sittengesetz gemessen, sondern allein an der Wirklichkeit selbst. Mozart fühlt sich nie als Richter seiner Gestalten, er faßt weder z.B. den Sturz seines Don Giovanni als ein moralisches Verdammungsurteil auf, noch will er seinen sog. »komischen« Figuren, populär gesprochen, eines »auswischen«; sein Humor ist weit weniger scharf und angriffslustig als der der Italiener, aber es fehlt ihm auch deren Kälte und Selbstgerechtigkeit. Auch diese armen Schelme sind keine bläßlichen Konstruktionen, sondern nach dem Leben gezeichnet. Man vergleiche nur z.B. den Leporello mit den einzelnen Gliedern seiner stattlichen romanischen Ahnenreihe, und man wird sofort erkennen, daß es gerade Mozart war, der dieser Figur die Maske abgerissen hat. Die Behauptung, Mozarts Oper sei im Grunde nur ein geistvolles Maskenspiel, ist deshalb so oberflächlich wie nur möglich.

Mozart ist aber auch darin ein Dramatiker weit moderneren Stils, daß er seine einzelnen Figuren genau aufeinander bezieht. Keine steht für sich da, jede ist aus dem Licht und Schatten der übrigen heraus modelliert. Daher das reich dahinströmende, ewig bewegte Leben dieser Dramen, ihr ausgeprägter Wirklichkeitscharakter, der sie heute noch so frisch und wahr erscheinen läßt wie am ersten Tag. Doch zurück zur Entführung.

Schlag auf Schlag entwickelt Mozart im ersten Teil seiner Exposition die Charaktere der beiden Gegenspieler Belmonte und Osmin zu vollster Schärfe. Ein Stück zieht das andere nach sich; Osmin, die elementare Natur, entschleiert sein Wesen zuerst (3), aber unmittelbar darauf wird auch Belmontes Charakterbild voller ausgeführt (4).

Osmins Lied hat drei variierte Strophen, die immer wieder eine neue Seite seiner Natur aufblitzen lassen. Dem Texte nach ist es als harmloses Volksliedchen gedacht, das er beim Feigenpflücken singt. Dieters Komposition38zeigt, wie die Komponisten gewöhnlichen Schlages derlei Stücke auffaßten: es ist eine etwas spießbürgerliche Weise im Volkston, ohne eigentümlicheren Zug, die ohne weiteres auch jedes Bauernmädchen bei der Ernte singen könnte. Beim Mozartschen Osmin ist dagegen schon dieser erste Gesang eine unverhohlene Äußerung seines innersten Wesens. Zum ersten Male im deutschen Singspiel wird ein ganz einfaches Lied in der Musik dem Charakter des Sängers angepaßt. Schon die Wahl der Molltonart und speziell des g-Moll, das bei Mozart stets etwas Besonderes zu sagen hat, ist[780] bezeichnend. Es liegt etwas Schwüles, Unheimliches in diesem schwerfällig sich fortbewegenden Gesang mit seinen beredten Terz-Quint-Klauseln in der Melodik, seinem selbstgefälligen Wiederholen der letzten Phrase in der unteren Oktav und endlich dem kolossalen Aufschwung in das Trallalera! hinauf, in dem mit einem Male die fanatische Bösartigkeit des Gesellen elementar hervorbricht39. Die folgenden Variationen betreffen neben harmonischen Änderungen, zu denen z.B. das unheimliche As in der zweiten Geige beim zweiten Trallalera gehört, vor allem die Instrumentation. In der zweiten Strophe tritt ein kurzes Bläsermotiv hinzu, das halb wie eine Gebärde, halb wie ein tierischer Naturlaut klingt, in der dritten wird die Färbung durch die merkwürdig erregten Oktavengänge der Bläser, zu denen noch eine Flöte tritt, noch bedeutend sinnlicher, und gerade in diesem Moment bricht der aufs höchste eifersüchtige Osmin aus dem bisherigen Tempo aus ins Allegro hinüber. Von düsterer Wildheit, ebenso unberechenbar wie schwerfällig, von stets lauernder Sinnlichkeit, so tritt uns Osmin zuerst entgegen. Das folgende Duett schließt sich unmittelbar an, indem der erzürnte Belmonte dem Osmin sein Trallalera nachplärrt. Es ist ein ganz merkwürdiges, echt Mozartsches Stück, durchaus frei in der Form (nur mit Wiederholung einzelner Motive) und ganz auffallend schwankend in seiner Tonalität. Das erzeugt eine wirksame Spannung, die durch die lebendige Charakteristik der beiden Gegner und einige besondere Züge noch gesteigert wird. Dazu gehört gleich Belmontes zweimalige Frage40. Bei der a-Moll-Stelle (Seht selber zu) mit Osmins Unisono beginnt bei diesem die Bestie bereits ihre Krallen zu zeigen. Die folgende Zankszene behandelt Mozart, wie viele ihres gleichen, nach französischen Mustern41 kanonisch, der erste Anprall wirkt wegen des heulenden Motivs und der engen Intervalle gleich recht bedenklich; sehr drastisch ist auch die Art, wie Belmontes Lob des Pedrillo von Osmin durch die Mollimitation gleich in sein Gegenteil verkehrt wird. Von der g-Moll-Stelle (Er ist fürwahr ein guter Tropf) an rücken die beiden Gegner hart aufeinander, Osmin schnattert in seiner Wut buffoartig drauf los, während Belmonte den guten Pedrillo in seinem chromatischen Abstieg halb ironisch bedauert – auch der Märchenprinz hat seine Augenblicke guter Laune. Immer heißer wird die Stimmung und entlädt sich schließlich in dem D-Dur-Presto, worin sich die beiden, jetzt von dem gleichen Wunsche beseelt, einander loszuwerden, auf Grund eines ungehobelten Motives die dicksten Grobheiten an den Kopf werfen; mit unwirschem Gepolter hinkt der Baß kanonisch nach. Eine echt italienische Zankszene mit kurzen, spitzen, immer wiederholten Motiven, langgezogenen Wutschreien und abgerissenen Drohrufen schließt das lebendige Bild[781] ab. Nun kommt auch noch der Sündenbock Pedrillo dazu, und das benützt Mozart zu einem Charaktergemälde Osmins, dessen Wurzeln, wie wir sahen, gar nicht in der Dichtung lagen, sondern allein in der von Mozart selbst geschauten dramatischen Idee (3). Der Zorn des Alten eröffnet einen wahren Hexenkessel der verschiedensten Leidenschaften, deren toller Wirbel schließlich sogar die Form sprengt. Die Grundempfindung ist dabei die der vermeintlichen absoluten Herrschaft über die Situation, das Vollgefühl der Überlegenheit, das bei einem Menschen seines Schlages alle übrigen Regungen zum Schweigen bringt und nur in seinen eigenen verschiedenen Spielarten schwelgt. Auf ein Ritornell läßt er sich gar nicht erst ein, sondern beginnt nach einem beredten pathetischen Forteakkord leise in mühsam verhaltener Wut sein unheimliches Thema mit der grotesken Koloratur, die schließlich mit knurrenden Trillern und einem bösartigen chromatischen Gang in mächtigem Crescendo auf einem Oktavensprung explodiert. Das ist ganz die naturalistische Sprache des italienischen Buffostils, namentlich Paisiellos, und ihr bleibt Osmin auch das ganze Stück hindurch treu. Der Ausbruch hat ihm selbst wohlgetan, mit selbstgefälliger Grandezza geht er den »Laffen« zu Leibe, deren Schleicherei die einander kanonisch jagenden Geigen sehr drastisch schildern. Hochpathetisch rühmt er sich seiner Menschenkenntnis, um gleich darauf seinem Selbstgefühl in greller Brutalität die Zügel schießen zu lassen (Eure Tücken, eure Ränke); die Galle bricht dabei freilich immer wieder hervor, und ganz unheimlich bösartig klingt sein letztes »sind mir ganz bekannt« mit dem Triller. Abermals mildert sich sein Toben: in dem köstlichen »ich hab auch Verstand« mit der listig schmunzelnden Oboe, das im zweiten Teil noch in die tiefsten Baßregionen hinein erweitert wird, kommt nach aller Wildheit und Dämonie noch der Philister mit seiner ganzen eitlen Selbstgerechtigkeit zu Worte. Charakteristisch ist, daß in dem ganzen Stücke sich die verschiedenen Abstufungen des einen Grundgefühls, Zorn, Prahlsucht, Gewalttätigkeit und gemeine Eitelkeit meist in ganz unvermitteltem, elementarem Wechsel ablösen, das drastische Bild einer nur von den niedersten Trieben beherrschten Seele, und dazu leistete dem Komponisten die schmiegsame italienische Buffosprache die besten Dienste. Mit dem Ende des zweiten Teils schließt die Arie regulär ab. Aber Osmin ist noch nicht fertig. Am 26. September 1781 schreibt Mozart42:


Das Drum beim Barte des Propheten etc. ist zwar im nämlichen Tempo, aber mit geschwinden Noten, und da sein Zorn immer wächst, so muß, da man glaubt, die Aria seye schon zu Ende, das Allegro assai ganz in einem andern Zeitmaß und in einem andern Ton eben den besten Effect machen. Denn ein Mensch, der sich in einem so heftigen Zorn befindet, überschreitet alle Ordnung, Maß und Ziel, er kennt sich nicht – so muß sich auch die Musik nicht mehr kennen. Weil aber die Leidenschaften, heftig oder nicht, niemals bis zum Ekel ausgedrückt seyn müssen, und die Musik, auch in der schaudervollsten Lage, das Ohr niemalen beleidigen,[782] sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musik bleiben muß, so habe ich keinen fremden Ton zum F (zum Ton der Aria), sondern einen befreundeten dazu, aber nicht den nächsten, D minor, sondern den weitern, A minor, gewählt.


Auch diese Stelle beweist, wie bewußt Mozart bei seinem Schaffen vorging. Sie jedoch als ästhetischen Kanon für alle Zeiten verkünden zu wollen43, geht nicht an; denn ihre Forderungen lassen sich nur aus der damaligen Zeit selbst erklären. Das musikalische Rokoko schließt die Darstellung der Leidenschaften zwar nicht aus, wenn es sie auch sehr leicht entweder ins Theatralische oder ins Weinerliche zieht, aber es sieht streng darauf, daß die Schönheit der melodischen Linie gewahrt bleibt. Selbst die wütendsten Medeen und Armiden vergessen das in ihren Arien niemals, und auch Mozart ist hierin durchaus ein Sohn seiner Zeit. Es ist schon sehr viel von ihm, daß er sagt, die Musik »dürfe sich hier nicht mehr kennen«. Fand doch der alte Chr. G. Krause44, daß »Zorn, Raserey und Verzweifelung« sich überhaupt nicht zur musikalischen Darstellung eigneten.

Der erste Anhang »Drum beim Barte« behält die Tonart bei und setzt demgemäß die Stimmung einfach steigernd fort; zum ersten Male bricht hier eine weitere Seite Osmins hervor: die Grausamkeit. Wohl »kennt sich« bereits hier »die Musik nicht mehr«, denn zu einer geordneten Melodiebildung kommt es überhaupt nicht: Osmin zischt seine Quinten- und Oktavensprünge nur so heraus45, obendrein noch auf einen anderen Taktteil, als das Orchester eigentlich angibt – es scheint alles aus Rand und Band zu geraten. Und dieses tolle Herumreiten auf denselben kleinen Motiven, das ebenfalls der Buffooper entstammt, beherrscht in verstärktem Grade auch das Allegro assai, das dem Bilde den letzten Zug in Form des dämonischen Fanatismus hinzufügt. Bezeichnenderweise hängt Mozart seinem Osmin jetzt erst im Orchester den orientalischen Mantel um. Diese instrumentale Hetzjagd wirkt in ihrer Eintönigkeit um so unheimlicher; einzelne naturalistische Motive verstärken den Eindruck, wie gleich zu Anfang der scharfe Mordent in den Holzbläsern, der hier wirklich einen »beißenden« Charakter hat46, und später im Blech der dumpf aufreizende Rhythmus Die Entführung aus dem Serail, der die wilde Jagd der Streicher47 und Pikkoloflöte begleitet. Der Gegensatz zwischen dem, was Osmin sein möchte, und dem, was er wirklich ist, erreicht seine höchste Schärfe, darum ist auch der Eindruck des Komischen hier am stärksten. »Der Zorn des Osmin«,[783] schreibt Mozart, »wird dadurch in das Komische gebracht, weil die türkische Musik dabey angebracht ist«.

Nach dieser Charakterarie, die selbst die besten bisherigen Singspielleistungen meilenweit hinter sich ließ, enthüllt nun aber auch Belmonte sein innerstes Wesen bestimmter als zuvor. Das A-Dur dieser Arie (4) ist im bewußten Gegensatz gegen das vorhergehende a-Moll gewählt: abermals rücken die beiden Gegenspieler ideell aufs engste zusammen. Mozart erschien sie so wichtig, daß er sie sogleich nach Empfang des Buches komponierte; er schreibt dem Vater48:


Nun die Aria von Belmont in A-Dur: O wie ängstlich o wie feurig, wissen Sie wie es ausgedrückt ist – auch ist das klopfende liebevolle Herz schon angezeigt – die 2 Violinen in Oktaven49. Dies ist die Favorit-Aria von allen die sie gehört haben, auch von mir, und ist ganz für die Stimme des Adamberger geschrieben. Man sieht das Zittern, Wanken50, man sieht, wie sich die schwellende Brust hebt, welches durch ein Crescendo exprimiert ist51, man hört das Lispeln und Seufzen, welches durch die ersten Violinen mit Sordinen und einer Flaute mit in unisono ausgedrückt ist52.


Die Arie ist ein treffliches Beispiel für die Schärfe, mit der Mozart seine Charaktere aus einer bestimmten Situation heraus zu entwickeln versteht. Belmonte weiß zwar, daß er die Geliebte sehen wird, aber daß dieses Wiedersehen so bald stattfinden soll, das überrascht ihn doch so, daß nicht allein die Wiedersehensfreude sich sofort in echt Mozartscher Weise mit schmerzlicher Erinnerung an das Vergangene und ängstlicher Besorgnis vor dem Kommenden vermischt, sondern daß dieser ganze drangvolle Schwall der Gefühle sich auch in seinem äußeren Menschen kundgibt. Daher rührt die große Rolle der Tonmalerei; sie geht zwar in ihrer äußeren Ausführung kaum über die stehenden italienischen Bilder des »palpitare, vacillare, sospirare« u.a. hinaus, ist aber so lebenswahr in der ganzen Situation begründet, daß der bei den Italienern so häufige Eindruck der äußerlichen Zutat gar nicht aufkommt. Aber noch mehr: Mozart faßt das ganze Bild so scharf, daß die Gestaltung mitunter einen fast dialogischen Charakter annimmt. Wir hören z.B. das Lispeln und Seufzen des Mädchens, und gleich darauf ringt sichs aus Belmontes Brust in vollem Überschwang los: »es wird mir so bange!« »es glüht mir die Wange!« So nimmt alles, was zur Situation gehört53, selbst das Kleinste, Gestalt an, während Andrés und Dieters Helden aus der Maske einer italienischen Kastratenarie nicht herauskommen, und schon diese Arie ist ein vollgültiges Beispiel für Mozarts neue Kunst dramatisch-psychologischer Orchesterbehandlung. Sie enthält in ihren zwei Teilen (dies ist Mozarts Lieblingsform auch in dieser Oper)[784] aber zugleich eine feine Steigerung des Affekts. Der Gedanke an »der Trennung bangen Schmerz« verschwindet im zweiten Teil, dagegen ist das Bangen vor der Zukunft breiter ausgeführt, und zum Schlusse quillt dann die mit heißer Sehnsucht gemischte Freude unverhüllt hervor; im Orchester verhallt schließlich das Lispeln der Geliebten im pp.

Der Janitscharenchor (5), der den Auftritt des Bassa begleitet, ist, wie Mozart schreibt54, »für einen Janitscharenchor alles was man verlangen kann, kurz und lustig und ganz für die Wiener geschrieben«. Er ist dreiteilig, mit einer französischen Soloepisode in der Mitte und von ausgesprochen orientalischem Gepräge. Dahin gehört nicht allein die Janitscharenmusik, sondern auch der rasselnde Rhythmus, einzelne melodische Züge, wie z.B. das hart nebeneinandergerückte f'' und fis'' des sechsten Chortaktes und namentlich der an die Ouvertüre gemahnende, scharfe Modulationswechsel55; so wird gleich am Anfang die Haupttonart C-Dur erst auf dem Umweg über das fremdartige a-Moll56 erreicht. Die Verwandtschaft mit Glucks Ouvertüre zu den »Pilgrimen« ist unverkennbar.

Die Rolle des Bassa Selim, die Mozart ursprünglich ebenfalls musikalisch ausführen wollte57, ist schließlich eine Sprechrolle geblieben. Der spätere Mozart hätte es dabei schwerlich bewenden lassen, wäre es ihm doch ein leichtes gewesen, durch Stephanie einige Arien einlegen zu lassen. Er sah indessen damals keinen Grund, von der Fassung Bretzners abzuweichen. Für seine Auffassung von seinem Stoff genügte das Liebespaar samt seinen Sekundariern und Osmin als Kontrastfigur, der Bassa dagegen verdichtete sich überhaupt nicht zu einem musikalischen Charakter. Seine Stellung als türkischer Pascha war durch sein Gefolge, seine Feindschaft gegen das Liebespaar und seine unerwiderte Liebe durch Osmin, seinen Diener, und durch die Gesänge Constanzes zur Genüge angedeutet; eine volle musikalische Ausführung dieser Figur, die den Komponisten zudem wieder in bedrohliche Nähe der opera seria, etwa im Stil des Soliman der Zaïde, führen mußte, schien ihm die einfache Herzensgeschichte des Liebespaares allzusehr zu belasten. So hielt er sie musikalisch einfach im Hintergrund, ein Verfahren, das bei der schwankenden Stellung des Singspiels zwischen Schauspiel und Oper damals durchaus nicht als anstößig empfunden wurde; noch Webers »Oberon« bietet ein Seitenstück dazu.

Selims ersten Ansturm auf ihr Herz beantwortet Constanze in einer Arie (6), deren Adagioteil mit der abgerissenen, seufzerartigen Melodik und den liegenden Bläsern bei allem Schmerze die Treue gegen den Geliebten schlicht und innig zum Ausdruck bringt. Es ist die würdige Geliebte Belmontes,[785] die sich hier ausspricht. Leider entspricht der Allegroteil diesem Anfange nicht. Mozart selbst bekennt58: »Die Aria von der Constanze habe ich ein wenig der geläufigen Gurgel der Mlle. Cavalieri aufgeopfert. Trennung war mein banges Los und nun schwimmt mein Aug in Tränen – habe ich, soviel es eine wälsche Bravouraria zuläßt, auszudrücken gesucht.« Dieses Verfahren, das freilich im Singspiel durchaus nichts Neues war, hat in Constanzes Charakterbild einen unheilvollen Riß hineingebracht, dessen beide Gegenpole später in den beiden Arien 10 und 11 noch schärfer auseinandertreten: auf der einen Seite steht die dem Belmonte entsprechende Constanze, die ihr Gefühl einfach, wahr und edel kundgibt, auf der andern ihr Zerrbild, die italienische Primadonna, die sich in das Pathos der Armiden und Medeen versteigt – ein Mangel, der es verbietet, die Entführung trotz allen ihren Vorzügen den späteren Schöpfungen ebenbürtig zur Seite zu stellen. Auch die Arien der Königin der Nacht wirken nicht so störend, da sie von einer rachedürstenden, zauberischen Fürstin und nicht von einem einfachen, liebenden Mädchen gesungen werden. Und wie stets, wenn Mozart sich auf das seiner Natur nicht besonders liegende Gebiet der opera seria wagt, verliert seine Tonsprache viel an Eindringlichkeit und Originalität. Nur einzelne Züge in der Bläserbehandlung und in der Melodik, besonders chromatischer Natur, vor allem aber die Hereinziehung des Adagioteils in den Mittelsatz, verraten die Hand des Meisters, alles übrige gibt zwar die Stimmung im allgemeinen wieder, aber ohne individuelle Charakteristik, und besonders abstoßend wirkt die sinnlose Koloratur auf dem unbetonten Worte »meinem« (Schoß). Wie anders schwelgt das »liebevolle Herz« Belmontes in dessen Arie (4) auf der Koloratur!

In dem Terzett (7) erzwingen sich Belmonte und Pedrillo dem wütenden Osmin gegenüber den Eintritt in das Haus des Bassa. Mozart berichtet dem Vater darüber59:


Nun das Terzett, nämlich der Schluß vom ersten Act. Pedrillo hat seinen Herrn für einen Baumeister ausgegeben, damit er Gelegenheit hat, mit seiner Constanze im Garten zusammenzukommen. Der Bassa hat ihn in Diensten genommen; Osmin als Aufseher und der darum nichts weiß, ist als ein grober Flegel und Erzfeind von allen Fremden impertinent und will sie nicht in dem Garten lassen. Das Erste, was angezeigt, ist sehr kurz, und weil der Text dazu Anlaß gegeben, so habe ich es so ziemlich gut dreistimmig geschrieben; dann fängt aber gleich das Major pianissimo an, welches sehr geschwind gehen muß, und der Schluß wird recht viel Lärmen machen, und das ist ja alles, was zu einem Schluß von einem Acte gehört: je mehr Lärm, je besser, – je kürzer, je besser, – damit die Leute zum Klatschen nicht kalt werden.


Diese, zum Schlusse übrigens ziemlich ironisch gefärbte, Stelle zeigt, daß es Mozart hier mehr um drastische Situationsschilderung als um feiner ausgeführte Charakteristik zu tun war. Damit, sowie mit den kurzen, schlagkräftigen Motiven und der spannenden Rhythmik steht das Stück, namentlich[786] in seinem Mollteil, ganz offensichtlich unter dem Einflusse bestimmter Ensembles der Pariser opéra comique. Auch an Einzelmalerei fehlt es nicht, wie z.B. bei dem von Osmin angestimmten Prügelmotiv (»sonst schlag ich drein«), einem Verwandten des Wagnerschen in den Meistersingern, und dann nach der Fermate bei den drohenden Baßgängen und den Bläservorhalten, zur Bezeichnung des erbitterten Ringens. Auch die Charakteristik ist wenigstens im Umriß angedeutet; vor allem ist es Osmin, der auch hier wieder, in düsterem c-Moll, den Ton angibt und auch sonst den beiden andern gegenüber meist seine eigenen Wege geht, bis zum Schluß, wo er, schon überwunden, noch sein wütendes marsch! auf den schlechten Taktteil dazwischenschreit.

Der zweite Akt führt zunächst Blondchen mit einer Arie (8) auf den Plan. Sie hat den Osmin vor, der, wie gewöhnlich, auch bei ihr zunächst durch Brutalität zum Ziele zu kommen sucht. Darum hat dieser in knappster Rondoform angelegte Satz in seinem Charakter etwas bewußt Manierliches; sie will dem täppischen Orientalen zeigen, daß man im Abendlande mit Anmut und Sitte zu werben gewohnt ist. Gewiß hat Blondchen zahlreiche Vorgängerinnen in der italienischen und besonders der französischen komischen Oper, aber es fehlt ihr jeder Stich in das Gebiet herzloser Koketterie, die bei jenen nur zu häufig die Hauptsache ist. Ihre anmutige Schalkhaftigkeit stammt nicht aus dem Kopfe, sondern aus dem Herzen, aus einem natürlichen, warmen Empfinden. Das ist ein deutscher Zug, und Jahn hat recht, wenn er hier die ersten Linien für die naiven Mädchenrollen der deutschen Oper gezogen findet60. Daß das Hauptthema der Arie altes italienisches Gut ist, sahen wir bereits früher61. Ihr Hauptreiz besteht darin, daß sie dem Alten trotz dem manierlichen Grundton verschiedene spürbare Seitenhiebe versetzt, wie z.B. bei dem vielsagenden Oktavensprung auf »in wenig Tagen« oder der scherzhaften Koloratur auf »entweicht«, die gleich abgelassenem Dampf zischend verpufft, sie geht das zweitemal bis ins e''' hinauf, ein beredtes Zeugnis für die Kunst der Mlle. Teyber. Auch die unwirschen Zweiunddreißigstelfiguren der Streicher im ersten Zwischensatz gehören hierher62; sie tauchen in ähnlicher Absicht sowohl bei Guglielmi als bei Grétry63 auf und finden sich später auch öfters bei Mozart selbst.

Im folgenden Duett (9) nimmt sich denn auch Osmin mehr zusammen. Er poltert zwar zunächst immer noch, aber in bedeutend gutmütigerem Tone. Blonde zieht jedoch jetzt erst recht vom Leder und überhäuft ihn mit einem gewaltigen Wortschwall ohne alle Pausen, so daß er überhaupt nicht mehr zum Worte kommt. Seinen letzten Trumpf, den gravitätischen Abstieg in die tiefsten Baßregionen, macht sie ihm durch drastisches Nachäffen zuschanden. Und nun stimmt er in dem langsamen c-Moll-Mittelsatz eine[787] melancholische Weise an, halb Klagelied, halb Liebkosung. Seine verschämte Art hat hier geradezu etwas Rührendes, und doch bleibt er in seiner mürrischen Ungeschlachtheit durchaus er selber; wie grotesk klingt z.B. jedesmal sein gepreßtes »geplagt und geschoren!« Blonde aber schlägt ihn auch hier mit seinen eigenen Waffen, indem sie seine Melodie halb anmutig, halb spöttisch verziert. Im zweiten Allegro, einer vollständig freien Wiederholung des ersten, hat sie ihn völlig gezähmt: sie ist es, die jetzt den Ton angibt, nicht mehr er; ihm bleibt nur noch übrig, an der Hand ihrer melodischen Gedanken sich furchtsam und unterwürfig davonzumachen; jubelnd schickt das Orchester dem verliebten Toren noch eine wahrhaftige Siegesfanfare nach.

Constanzes nächste Arie (10) wird von einem größeren Rezitativ eingeleitet, einer Form, mit der Mozart im Vergleich zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen ziemlich sparsam ist. Nach einem spannenden, mit seinem Baßgang den ganzen seelischen Druck verratenden Anfang schwebt ein Seufzermotiv heran, gefolgt von einem erregten, scharfen Synkopenmotiv. Das ausdrucksvoll deklamierte Rezitativ erreicht schließlich gegen Schluß den Höhepunkt seines Affektes, und gleich darauf beginnt die Arie mit jenem gepreßten Klageruf »Traurigkeit«, der zuerst in den Bläsern und dann in der Singstimme ertönt, ein glänzendes Beispiel für Mozarts geniale Art, den Hörer statt durch geschwätzige Ritornelle durch ein kurzes, plastisches Motiv in die Stimmung einzuführen. Die Arie gehört mit ihrem Ausdruck rührender Klage, deren resignierte Färbung bereits auf den letzten Mozart hindeutet, zu den Höhepunkten der Oper. Hier steht die Constanze vor uns, die Mozart eigentlich vorschwebte, schlicht, natürlich und ohne jedes falsche Pathos. Nicht allein der Tonart g-Moll, sondern auch dem ganzen Ausdruck nach steht das Stück auf der Linie, die von der Ilia des Idomeneo zur Pamina hinüberführt. Die Form ist abermals zweiteilig, denn die vier Überleitungstakte können nicht als selbständiger Teil gelten, so geistvoll und echt Mozartisch sie uns auch an der Hand des Hauptgedankens unvermutet wieder zum Anfang zurückführen. Dieser zweite Teil trägt insofern ebenfalls den unverkennbaren Stempel Mozarts, als er nicht bloß alle Dur-Wendungen des ersten vermeidet, sondern obendrein noch hartnäckig an der einen Tonart g-Moll festhält, die nunmehr alle Gedanken des Satzes in sich aufsaugt, als gäbe es anderswo nicht Rat noch Hilfe mehr; außerdem werden alle früheren Gedanken unter einen erhöhten seelischen Druck gestellt und in ihrem Ausdruck getrübt oder verschärft, so namentlich der (aus der Zaïde stammende) Gesang an die Lüfte, der im ersten Teil noch einen bescheidenen Lichtblick in das trübe Bild gebracht hatte. Alle melodischen und harmonischen Eigentümlichkeiten, mit denen Mozart seine g-Moll-stücke ausstattet, finden sich wieder, wie die große Rolle der sechsten und der erniedrigten zweiten Stufe, dazu kommt die echt Mozartsche Verwendung der Synkope als der Hauptträgerin der inneren Erregung, die geniale Erweiterung einer Phrase bei gleichzeitiger Verteilung auf Singstimme und[788] Instrumente (»weil ich Dir entrissen bin«) und die geheimnisvolle Einführung eines neuen Gedankens durch ein kurzes, oft bloß rhythmisch wirkendes Motiv in den Bläsern, besonders den Hörnern (so vor »Gleich der wurmzernagten Rose«), ein Zug, der ebenfalls in das Bild des »romantischen« Mozart gehört.

Dieses schöne Bild wird nun freilich alsbald durch die folgende Arie (11) empfindlich getrübt. Sie ist dramatisch, wie wir sahen, vom Übel und wirft zudem durch ihre musikalische Ausführung als italienische Bravourarie die ganze Gestalt Constanzes wieder über den Haufen. Das Orchester ist besonders reich bedacht, insofern der gewöhnlichen »großen« Besetzung mit Trompeten und Pauken auch noch ein Konzertino von Flöte, Oboe, Violine und Cello gegenübertritt. Schon das erste Ritornell nimmt sich, in krassem Gegensatz zu dem Seufzer der vorhergehenden Arie, wie das Tutti eines Konzertes aus, mit verschiedenen Themen und einer Kadenz; dabei ist auf möglichst wirksames Konzertieren Bedacht genommen. Auch die Singstimme beginnt ganz im italienischen Pathos, ja, sie verfällt sogar in die Manier der Jugendopern, indem sie gleich das Thema mit einer langen Koloratur ausstattet; ebenso gemahnt der Brauch, die Themen des Ritornells nicht alle auszunützen, sondern dafür neue einzuführen, an Mozarts ältere Art. Trotz dem anspruchsvollen Gewande macht das Stück nicht dem Dramatiker, sondern höchstens dem Musiker Mozart Ehre. Freilich behilft sich auch dieser häufig genug mit allgemeinen Phrasen und erhebt sich nur an den gesangsmäßigen Stellen und in der geistvollen Ausnützung der Konzertwirkungen zu bedeutenderer Höhe. Doch hat man auch bei diesem Zusammengehen der Singstimmen mit dem Konzertino meist den Eindruck eines virtuosen Zusammenspiels von fünf Instrumenten64.

Nun gibt Blondchen ihrer Freude über die bevorstehende Entführung in einer Arie (12) Ausdruck. Jetzt gibt sie sich, wie sie ist: voll frischen, munteren Lebens, dabei warm und herzlich; wie übermütig klingt das hohe g'', das sie am Schlusse hinausschmettert! Auch das Orchester ist ganz besonders gut gelaunt, von den munter kichernden Flöten und sprudelnden zweiten Geigen des Anfangs an über die schon fast an die Elfen der Romantik gemahnenden, huschenden Streichermotive bei »Ohne Aufschub will ich springen« hinweg bis zu dem lustigen Gelächter, das die Instrumente am Schlusse dem Mädchen nachsenden65.[789]

Ganz anders ist Blondchens Partner Pedrillo in der Arie Frisch zum Kampfe (13) gezeichnet. Die Italiener behandeln seinesgleichen entweder als Tölpel oder aber als auf allen geraden und krummen Wegen fabelhaft beschlagene, gerissene Helfershelfer ihrer Helden, als Ideale, die bei dem italienischen Volke von jeher besonders hoch im Preise standen. Mozarts Pedrillo steht dagegen abermals weit fester auf dem Boden der Wirklichkeit. Er ist ein Bursche, der das Herz auf dem rechten Flecke und den besten Willen hat, den Plan zum guten Ende zu führen. Aber auch er hat eine Stelle, wo er sterblich ist: er ist ein tüchtiger Hasenfuß, und auf der fortwährenden Kreuzung dieser beiden Gegensätze beruht der Humor des Stückes. Er beginnt mit einer wahrhaftigen Kriegsmusik mit Pauken und Trompeten, aber gleich bei der Stelle »Nur ein feiger Tropf verzagt« duckt er sich zusammen, der »feige Tropf« scheint ihm durchaus nicht unbekannt, und gleich darauf läuft ihm eine gelinde Gänsehaut über den Rücken, ja zum Schlusse knickt er sogar hörbar zusammen. Dadurch erhalten aber auch seine kriegerischen Ausbrüche etwas Gewaltsames, Krampfhaftes, als kämen sie aus keinem ganz reinen Herzen; man beachte dabei besonders die vielen Fermaten, mit denen die gegensätzlichen Partien abschließen. Geradezu köstlich ist es, wenn am Schluß, nach dem streitbaren Triller Pedrillos, die Instrumente in der Coda nochmals selbständig auf den »feigen Tropfen« zurückkommen. Man ist tatsächlich nach diesem echt Mozartschen Charakterbild nach wie vor im ungewissen, wie sich dieser brave Bursche im Ernstfall benehmen wird. Der Angriff auf den Erzfeind Osmin geschieht mit der Weinflasche in dem berühmten »Saufduett (14) (per li sigri Viennesi), welches in nichts als in meinem türkischen Zapfenstreich besteht«66. Schon die Begleitung durch das türkische Orchester mit der sinnlich prickelnden Pikkoloflöte deutet auf Osmin als Haupthelden hin, Osmin ist es aber auch, der das Thema in seiner eigentlichen Fassung singt, bezeichnenderweise erst, wenn er dem Wein tüchtig zugesprochen hat, während der nüchterne Pedrillo nur die Umrisse gibt. Das Duett weist jene überaus schmiegsame, zwischen zweiteiliger Arie und Rondo schwankende Form auf, die bei Mozart von jetzt an häufig erscheint. Osmins Bedenken schwinden rasch, was auch Pedrillos Mut zusehends erhöht, und elementar wie alle Äußerungen Osmins klingt sein aufatmendes »Nun wär's geschehen usw.«. Schon stimmt er, vom Fagott unterstützt, jubelnd in den Preis der Mädchen ein, und bald darauf rauscht unter seiner Führung der ganze »Zapfenstreich«, jetzt mit vollem Orchester, vorüber. Wiederum kommen die Mädchen dran, aber jetzt mit einer seltsam schwebenden, neuen Weise ohne Bässe, als winkten dem Alten durch das Triangelgerassel allerhand lockende Gestalten aus dem Nebel zu; der sinnliche Zug wird bedeutend verstärkt. Von da ab beteiligt sich Osmin nur noch mit kurzen, abgerissenen[790] Phrasen am Hauptthema, besonders mit dessen rollender Schlußphrase, die ihm offenbar besondere Freude macht – das einzige Anzeichen der nahenden vollständigen Betrunkenheit; auf alles weitere, namentlich das Einschlafen, hat Mozart verzichtet.

Wiederum folgt diesem Ausbruch triebhafter Sinnlichkeit eine Arie Belmontes (15), die das Glück wahrer Liebe preist, schwärmerisch versonnen im Adagio, für das der immer wiederkehrende Gedanke:


Die Entführung aus dem Serail

mit seinem Gemisch von Empfindsamkeit und Naivität bezeichnend ist, voll zarter Seligkeit über den Besitz der Geliebten im Allegretto mit seinen Bläserklängen und seinem schubertisierenden Seitenthema67.

Das durch Mozart veranlaßte Quartett am Aktschluß (16) greift sehr im Gegensatz zu dem Bretznerschen, das die Hoffnung auf gutes Gelingen des Planes ausspricht und also nur stoffliches Interesse hat, auf den Grundgedanken des Ganzen, die treue Liebe der beiden zurück. Die bevorstehende Entführung mit ihren Gefahren bleibt ziemlich im Hintergrund; die vier Personen sind ganz erfüllt vom Glück ihrer Liebe, und dessen zeitweilige Störung kommt nicht von außen, sondern von ihnen selbst und ihrer Eifersucht. Das Ganze besteht, wie ein Buffofinale, aus einer Reihe mehr oder minder umfangreicher Sätze, unterscheidet sich jedoch von den Finales sehr wesentlich dadurch, daß es nicht auf eine verwickelte, drastisch zugespitzte Situationskomik abgesehen ist, sondern auf eine innere Entwicklung, auf ein Herzensdrama im Kleinen mit dem schlichten Thema: Liebesglück, Entzweiung und Versöhnung. Daher der weit mehr lyrische als dramatische Grundcharakter dieses Ensembles, der zu dem stillen, unschuldigen Gepräge des ganzen Spiels trefflich paßt. Auf Grund eines italienischen Allerweltsmotivs, das später übrigens in Leporellos Registerarie wiederkehrt68, feiern Belmonte und Constanze ihr erstes Wiedersehen im Tone herzlicher, unschuldsvoller Freude, für die es weder vergangene noch zukünftige Schrecken mehr gibt. Der A-Dur-Mittelteil bringt Blondchen und Pedrillo in den Vordergrund. Längst miteinander vertraut, wenden sie sich praktischeren Dingen zu, nämlich der bevorstehenden Entführung, begleitet von einem spannenden, flüsternden Geigenmotiv über einer energisch aufwärtsstrebenden Mittelstimme und einem liegenden Baß69. Kaum hat Blonde[791] ihr »wär der Augenblick schon da« geflüstert, da stimmt ihr das Orchester mit derselben Phrase in vollem Jubel bei (in D-Dur!) und führt so mit echt Mozartscher Kürze in den Anfang zurück. Diese (verkürzte) Wiederholung des ersten Teils vereinigt alle vier in der Freude auf die nahe Befreiung zu einem geschlossenen Ganzen; das neue Motiv, das dabei erscheint (»voll Entzücken«) weist mitsamt der Teilung zwischen Singstimmen und Orchester auf Grétry hin. Allein bald nach diesem vollen Ausbruch des Glücksgefühles trübt sich die Stimmung. Den beiden Männern steigen leichte Zweifel an der Treue ihrer Geliebten auf, die ja in Anbetracht der Serailsgebräuche durchaus nicht so unberechtigt sind. Im Andante in g-Moll legt sich eine recht schwüle Luft über die Szene, verursacht durch das bohrende, nagende Motiv in den zweiten Geigen und Bratschen mit seinen wehen Dissonanzen und seiner Synkopenbegleitung. Was die Männer sich nicht auszusprechen getrauen, das plaudert die Oboe mit ihrem halb humoristischen Motiv beide Male aus. Sehr hübsch sind auch die kleinen Varianten bei dem Handel zwischen Pedrillo und Blondchen. Jenes bohrende Motiv fehlt, alles ist gedrängter und schlagfertiger geworden70. Nun sprechen sich die Männer näher aus, beide recht verlegen, Belmonte mit Anstand, Takt und Haltung, Pedrillo dagegen ganz unverfroren und mit ingrimmiger Hast – es steckt ein gutes Stück Humor in diesem Bekenntnis, zumal da der Schwerpunkt ganz auf den deklamatorisch gehaltenen Gesangspartien ruht. Der Erfolg ist bei beiden Mädchen derselbe, nur äußert er sich verschieden, bei Constanze in Tränen, bei Blondchen in einer Ohrfeige, die sie Pedrillo gibt. In dem Allegro assai in b-Moll trägt die Stimmung bereits einen recht bösartigen Charakter; ein unwirsches, immer wiederholtes Motiv71 ergreift Singstimmen und Orchester und bricht ratlos auf einer Fermate ab. Da rettet das resolute Blondchen die Situation, wobei es ihr, dem italienischen Schleifermotiv im Orchester zufolge, immer noch verdächtig in den Händen zuckt. Die übrigen wiederholen in ihrer Verlegenheit zunächst einfach ihr Motiv nacheinander. Dann aber folgt nach einer Generalpause im Adagio plötzlich ein ganz ungeahnter Aufschwung des Gefühls. Wir stehen hier vor einer jener Stellen, wo Mozart sich über die armseligen Reimereien seines Dichters himmelweit hinwegsetzt; sie erstreckt sich über das ganze Andantino (A-Dur 6/8) hinaus. Es ist, als schüttelten die Liebenden mit einem Ruck alles Kleinliche, Allzumenschliche ab, das ihre Sinne bisher umfing: alle vier stimmen zusammen leise jenen herrlichen Siziliano an, der den Kerngedanken der ganzen Entführung preist: die Macht der auf Treue gegründeten, unschuldigen Märchenliebe. Friede und stille Seligkeit ist in die Herzen eingezogen, Wiegen-und Weihnachtsklänge tönen durcheinander72, und über allem schwebt ein frommer Ton, der nach dem Himmel,[792] dem Ewigen und Erhabenen weist. Es ist die höchste Verklärung des volkstümlichen Singspieltones, wie sie dann erst in den Gesängen der Zauberflöte wieder auftaucht. Der kurze Satz sendet seine wärmenden Strahlen aber auch noch in das folgende Allegretto hinein, das uns wieder zur Erde zurückführt. Das helle, versöhnende A-Dur bleibt bestehen73, die Friedensstimmung, die vorher alle zusammen erfaßt hat, spricht sich nun in den einzelnen Individualitäten aus. In feiner psychologischer Absicht läßt Mozart dabei den vergangenen Zwist noch einmal, doch ohne Schärfe, an- und ausklingen. Namentlich Blondchens flinke Zunge legt sich durchaus keinen Zwang auf, sie wäscht mit dem 12/8-Takt, den sie gegen den 4/4 der übrigen festhält, ihrem Pedrillo nochmals tüchtig den Kopf, obwohl er bei seiner Bitte um Verzeihung die ganze ehrliche und gemütvolle Seite seines Wesens hervorgekehrt hat. Nach der Feiertagsstimmung des Andantinos tauchen jetzt wieder komische Züge auf, aber nicht um jene aufzuheben, sondern um sie zu ergänzen zu einem Bilde lebendigen Menschentums. Charakteristisch ist, daß, wie ehedem bei der Äußerung des Verdachtes die Männer, so hier bei der letzten Beschwichtigung die beiden Frauen das Wort führen. Schön ist gegen den Schluß die innig-schmerzliche Bitte der Männer um Verzeihung, mit der letzten Mollwendung des ganzen Finales und den flehenden Bläserfiguren. In festem und sicherem Ton wird sie gewährt und in heimlichen, stillen Klängen der Friede besiegelt. Die frohe Stimmung macht sich nun in einem nach der Sitte der Zeit, die auf wirksame Aktschlüsse sah, mehr glänzenden als tiefen Schlußteil Luft, aus dessen Geist, Rhythmik und leichter Kanonik das französische Vorbild spricht; auch ein großes Mannheimer Crescendo, mit einem Streicherunisono verbunden, hat Mozart dabei mit gutem Erfolge angebracht.

Dieses Finale ist somit alles eher als italienisch, es ballt die Handlung durchaus nicht plötzlich zu einem tollen Durcheinander zusammen, sondern ist für italienische Begriffe sogar außergewöhnlich handlungsarm. Und doch paßt es in das Mozartsche Gesamtbild vorzüglich hinein: nicht von außen her, nicht vom Bassa und nicht von Osmin droht den Liebenden die Hauptgefahr, sondern aus ihrem eigenen Innern, den kleinlichen Regungen der Eifersucht, die sich daraus hervorwagen. Sie müssen erst überwunden werden, dann werden die Liebenden auch allen äußeren Feinden und Gefahren gewachsen sein. Nicht zufällig tut sich gerade in der Mitte dieses Satzes die verklärte Welt des A-Dur-Abschnittes auf.

Auch formell geht dieses Ensemble seine eigenen Wege. Wir werden zwar bald an die Italiener, bald an die Franzosen erinnert, bald endlich auch, wie jener A-Dur-Satz zeigt, an das Singspiel mit seinem deutschen Liederton[793] Aber alle jene ausländischen Spuren haben nur die Bedeutung äußerlich aufgesetzter Lichter. Idee und Ausführung sind und bleiben Mozartisch. Jene war von Hause aus das Werk des Musikers, dem der Dichter nur noch das poetische Gerüst zu zimmern hatte: liegt doch dem Ganzen nicht wie bei Franzosen und Italienern ein äußerer, sondern ein innerer Vorgang zugrunde, der samt seinen einzelnen Phasen unmittelbar aus dem Geiste der Musik geboren scheint. Auch bei der Gestaltung der einzelnen Abschnitte spricht der Musiker das letzte Wort. Es fällt Mozart nicht ein, das Beispiel Logroscinos (S. 346 f.) nachzuahmen, sondern er hält auf klare und übersichtliche Formgebung. Das ist bei ihm nun freilich weder Gedankenlosigkeit noch Respekt vor der angeblichen »Heiligkeit« der bestehenden Formenwelt. Er verhält sich vielmehr auch der Form gegenüber durchaus aktiv und schöpferisch. Er schmiedet sie so lange um, bis sie alles hergibt, was er von ihr verlangt, variiert, erweitert oder verkürzt ihre einzelnen Glieder, fügt gelegentlich auch neue ein, doch ohne die Grundlinien zu verwischen. Die Form war ihm nichts Starres und Totes, wie den Neapolitanern ihre Da-capo-Arie, sondern etwas Lebendiges und Flüssiges, das bei jedem neuen Schöpfungsakt auch wieder neu geboren wird. Man kann deswegen auch nicht von einer typischen Form des Mozartschen Ensembles oder Finales reden, wie man etwa von einem Logroscinoschen, Piccinnischen oder Galuppischen Finale spricht, denn keiner dieser Sätze gleicht bei Mozart dem andern; gemeinsam ist ihnen nur die unübertroffene Harmonie zwischen Inhalt und Form.

Nach dieser inneren Läuterung tragen die beiden im dritten Akt noch folgenden Gesänge des Liebespaares (17, 20) einen merkwürdig hochgestimmten, verklärten Charakter. Belmontes Arie (17) ist nach dem vorhergehenden Dialoge als ein unter den Fenstern des Serails gesungenes Liebeslied aufzufassen, wie es bisher Pedrillo allabendlich gesungen hat; daher mag auch die große Rolle der Bläser nach Ständchenbrauch rühren. Die weiche Schwärmerei gemahnt an die Es-Dur-Largos Chr. Bachs, mit dem sich Mozart hier auch in der Melodik wieder berührt74. Doch fehlt jede Empfindelei, die Melodik bewegt sich meist auf Dreiklangsintervallen in breitem, männlichem Schwung dahin. Von allen Arien Belmontes nähert sich diese am meisten dem italienischen Stil, sie ist dreiteilig, mit selbständigem Mittelsatz, und macht auch von der Koloratur, offenbar mit Rücksicht auf Adamberger, einen reichlicheren Gebrauch.

Die Romanze Pedrillos (18), die textlich einen alten Lieblingstypus des Singspiels seit Hiller vertritt, behandeln André, Dieter und Knecht in dem üblichen, behaglich schlendernden, aber physiognomielosen Balladenton. Mozart hat dagegen im Bestreben, die exotische Sphäre des »Mohrenlandes« zu schildern, eine seiner eigentümlichsten Kompositionen geschaffen. Merkwürdig ist nicht allein der im nächtlichen Dunkel verhallende[794] Schluß dieser Gitarrenakkorde, sondern vor allem die beständig zwischen h-Moll, D-Dur und fis-Moll hin und her schwebende Tonalität; auch die die Gesangsmelodie stützende Harmonik ist in beständigem Gleiten75. Das alles hat etwas Unkörperliches, Gespenstisches, das zugleich das Unsichere der Lage der Flüchtlinge fühlbar zum Ausdruck bringt, läuft doch auch die Gesangsmelodie ohne Unterbrechung durch alle fünf Zeilen bis zu ihrem eigentümlichen Schluß auf der Mediante durch. Ihr anfänglich so kecker Schwung wird gegen den Schluß mit den kleinen, scharfen Intervallschritten erheblich kleinlauter. Das Stück hat in der ganzen Singspielliteratur nicht seinesgleichen mit seiner Verbindung von exotischem Reiz und enger Anpassung an den Charakter der Situation und der singenden Person76.

Die mißglückte Entführung hat Osmin ans Ziel seiner Wünsche gebracht. Sein Triumphgefühl bringt den grausamen Zug seines Wesens wieder an die Oberfläche. Mit gewohnter zügelloser Sinnlichkeit läßt er ihr in dem (Schumannisch gesprochen) hahnebüchenen Hauptthema seiner Arie (19) freien Lauf. Sehr fein verwendet Mozart dabei die Rondoform77: immer wieder schießt dieser Hauptgedanke an das Zuschnüren der Hälse empor, und zwar ganz plötzlich, ohne jeden Übergang, meist nach einer Fermate und mit einem kolossalen Sprung in die Höhe. Nur hier tritt im Orchester die Pikkoloflöte auf, die in ihren beiden Vorschlagsnoten drastisch das Abmurksen versinnbildlicht. Die beiden Mittelsätze fügen diesem Bilde teils ergänzende, teils gegensätzliche Züge hinzu, so der erste das Gefühl der[795] Befriedigung darüber, daß er jetzt endlich seine ersehnte Ruhe bekommen wird; es ist der bei aller Wildheit doch recht träge und ruheselige Philister, der hier wieder zum Durchbruch kommt. Zuerst leistet er sich noch ein schwerfälliges Siegestänzchen, dann aber geht er, wiederum wie in all seinen früheren Äußerungen, nach Paisiellos Vorbild78 gemächlich in die tiefsten Baßregionen hinabsteigend zur Ruhe79 und streckt sich erst auf dem tiefen A, dann sogar auf D aus, wobei das Orchester einzelne unheimliche Naturtöne und ein dumpfes Knurren hören läßt. Es ist das Bild einer bissigen Bestie, von der man nicht sicher ist, ob sie einem nicht plötzlich aus dem Schlafe heraus an die Gurgel springt. Weit gefährlicher und geradezu dämonisch klingt der zweite Mittelsatz (»Schleicht nur säuberlich und leise«) mit seinen grotesken Oktaven- und Nonensprüngen und den dissonierenden Vorhalten in der Begleitung: dahinter steckt nicht allein seine ganze fanatische Wildheit, sondern auch ein gutes Stück der ihm eigenen Selbstgefälligkeit. Im dritten Mittelsatz tritt zur Schilderung des »Freudenliedchens« mit ganz einziger Wirkung die Koloratur auf, schwerfällig sich wiegend, ungeschlacht in die Tiefe polternd und dann wieder im Stakkato bis zum Triller emportänzelnd – das vollendete Bild eines brutalen Sinnenmenschen, der auch in der Freude keine Kultur kennt80. Gegen den Schluß aber kommt es überhaupt zu keiner geordneten Melodiebildung mehr, Osmin greift aus seinem Hauptthema bloß noch einzelne Phrasen und Brocken heraus, auf denen er in seiner Freude über das bevorstehende Zuschnüren der Hälse wie toll herumreitet; schließlich bleiben ihm eigentlich nur noch zwei Töne, Tonika und Dominante, übrig. Noch einmal erhebt sich in dieser Arie der Gegenspieler der Liebenden, der Sklave der niederen Triebe, zu voller grotesker Größe, wenn auch bereits umspielt vom Lichte eines überlegenen Humors, und wirft den letzten Schatten auf den Weg des Paares. Der alte Kampf zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit ist es, der hier ausgefochten wird, und wie jene in der Arie Osmins ihren zügellosesten Ausdruck findet, so erhebt sich diese in dem Augenblick, wo sie auf die letzte Probe gestellt wird, im folgenden Duett (20) zu höchster Verklärung. Nur das einleitende Rezitativ weist mit dem spannenden Sforzatomotiv und besonders mit seiner unruhigen Modulation auf die drohende Lage hin. Scharf treten die beiden auseinander, Belmonte innerlich tief bewegt, Constanze ruhig und gefaßt. Dagegen findet im ersten Satz des Duettes sowohl der Schmerz um den Geliebten als auch die Gewißheit von der den Tod überwindenden Macht ihrer Liebe in Constanzes Mund einen entschieden schärferen Ausdruck. Bei ihrem emphatischen Ausbruch:


Die Entführung aus dem Serail

[796] redet sie mit einer weltentrückten Begeisterung, die in der damaligen Oper nicht ihresgleichen hat. Und nun wird die Empfindung bei beiden immer heißer und drängender und strömt schließlich in dem von Jahn81 mit Unrecht als weniger gelungen bezeichneten Allegro in voller Glut dahin, einem wundervollen, nur vielleicht etwas zu breit geratenen Hymnus auf die Macht der Liebe, der abermals die Verse des Dichters weit hinter sich läßt. Die meist aus gleich schwebenden Bogen bestehende Melodik trägt neben einzelnen italienischen auch französische Züge, dazwischen klingt jedoch auch der deutsche Volkston merklich an. Sehr zu beachten ist endlich, daß das ganze Allegro sich in einem nur durch einzelne Sforzati unterbrochenen, durchlaufenden piano, also im Tone stiller, heimlicher Verzückung abspielt, es ist somit ganz verfehlt, im Vortrag einen heroischen Zwiegesang italienischen Schlages daraus zu machen82.

Das Schlußstück der Oper beginnt nach gutem altem, von den Franzosen übernommenem Singspielbrauch mit einem Vaudeville (21)83, dessen Beginn einen damals recht bekannten Melodietypus darstellt84. Es macht ganz regelmäßig die Runde bei den einzelnen Personen85, am Schlusse jeder Strophe stimmt das Ensemble mit der Schlußmoral ein. Nur Osmin bricht aus der Reihe aus. Gereizt durch Blondchen läßt er das Ensemble nach ihrer Strophe erst gar nicht zu Worte kommen und beginnt zwar ebenfalls mit der allgemeinen Melodie, aber bald übermannt ihn die Galle: er fällt, ein willenloser Sklave seiner Triebe, in die wilde Hetzjagd des Schlusses seiner ersten Arie zurück. Auch ihm antwortet das geschlossene Ensemble, aber nicht sofort mit der alten Vaudevillemelodie, sondern mit einer merkwürdig hochgestimmten Weise, deren Ton auf gewisse Abschnitte des Quartetts hinweist. Den Schluß des Ganzen bildet ein allgemeiner Chor, der nach Kolorit und Ausführung mehr mit dem früheren (5) verwandt ist.

Daß Mozart bei der Komposition seiner Oper stark darauf bedacht war, den Wiener Geschmack zu befriedigen, gesteht er selbst. Es ist aber lehrreich, zu verfolgen, welche Züge der vielgestaltigen Wiener Singspielkunst er der Aufnahme für wert erachtet hat und welche nicht. Da fehlt vor allem der niedere volkstümliche Lokalton, der z.B. bei Umlauf und in veredelter Gestalt dann wieder in den Liedern Papagenos erscheint, es fehlt ferner dessen Gegenpol, die strenge, alte kontrapunktische Weise, die ebenfalls[797] schon bei Umlauf auftaucht und dann wiederum in der Zauberflöte ihre höchste Vergeistigung erfährt. Von den übrigen Stilelementen ist der pathetische italienische Arienton das einzige, dessen organische Einfügung in das Ganze Mozart hier noch nicht gelungen ist, dagegen geschieht in den Partien Osmins und Pedrillos die Anlehnung an den Buffostil der Italiener mit ebensoviel Nachdruck wie Erfolg, aber nicht als sklavisches Nachahmen, sondern als geniales Ausnützen und Weiterbilden im Dienste einer weit tieferen, lebendigeren Charakteristik. Auch der Einfluß der französischen opéra comique stellt sich als weit stärker heraus, als man bisher annahm; am sichtbarsten ist er da, wo es sich um die Schilderung der äußeren Umgebung sowie um die drastische Wiedergabe einer bestimmten Situation handelt, ferner in der Partie Blondchens. Dagegen ist der musikalische Träger der eigentlichen Herzensgeschichte, soweit es sich um Belmonte, die g-Moll-Arie Constanzes und die Kernpartie des Finales handelt, der veredelte deutsche Liederton, nur daß ihm, namentlich in Belmontes Gesängen, ein guter Teil warmer italienischer Melodik beigemischt ist. So vollkommen wie später bei Tamino und Pamina ist die Verschmelzung von Deutsch und Italienisch freilich noch nicht gelungen, aber die kleinen, unaufgelösten Reste wollen nichts besagen gegenüber dem ungeheuren Fortschritt im Ganzen, der in letzter Linie das Werk von Mozarts künstlerischer Intuition, der Triumph seiner einzigen Persönlichkeit und ihrer neuen Welt- und Kunstanschauung war. Sie befähigte ihn, aus den zahllosen Bausteinen, die vor ihm kleinere und größere Talente zusammengetragen hatten, ein Gebäude zu errichten, das allem Wechsel der Zeiten zu trotzen vermochte. Was den Bemühungen der Dichter versagt blieb, glückte dem musikalischen Genius. Goethe hatte recht, als er schrieb86: »Alles unser Bemühen, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren, als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem Theater von unserem so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die Rede gewesen.« Aber auch C.M.v. Weber traf das Richtige mit den schönen Worten87: »Ich getraue mir den Glauben auszusprechen, daß in der Entführung Mozarts Kunsterfahrung ihre Reife erlangt hatte und dann nur dieWelterfahrung weiterschuf. Opern wie Figaro und Don Juan war die Welt berechtigt mehrere von ihm zu erwarten. Eine Entführung konnte er mit dem besten Willen nicht wieder schreiben. In ihr glaube ich das zu erblicken, was jedem Menschen seine frohen Jünglingsjahre sind, deren Blütezeit er nie so wieder erringen kann, und wo beim Vertilgen der Mängel auch unwiederbringliche Reize fliehen.« Tatsächlich liegt der eigentümliche Reiz dieses Werkes in der an das Märchen erinnernden jugendlichen Unschuld und Frische, mit der es seinen Stoff behandelt. Alle tieferen seelischen Verwicklungen fehlen noch, Freude und Leid äußern sich bei dem Liebespaar ebenso einfach[798] wie unmittelbar, und auch Osmin hat trotz aller Wildheit durchaus nichts Problematisches. Mit dem selbstverständlichen Optimismus des Märchens, der keine Erklärung und Begründung der Dinge im einzelnen braucht, steuert die ganze Geschichte ihrem glücklichen Ende zu, Osmin verschwindet schließlich gleich einem bösen Gespensterspuk. Auch der musikalische Ausdruck im einzelnen ist von auffallender Jugendfrische, ob es sich nun um überquellende Herzensbeichten oder um Ausbrüche ingrimmigen Humors handelt. Es waren glückliche Tage für Mozart, in denen diese Oper entstand, nahm doch zur selben Zeit auch sein äußeres Schicksal eine Wendung, die ihn als Menschen auf die Höhe seines Lebens führen sollte.

Fußnoten

1 E. Kneschke, Das deutsche Lustspiel in Vergangenheit und Gegenwart 1861. Bretzners Dichtungen erschienen gesammelt 1779 als Operetten I. Band und 1796 als Singspiele in Leipzig.


2 Haas S. XXV.


3 Erschienen in Leipzig 1781. Französische Bearbeitungen lieferten Ch. Destrais 1857 und Pascal 1859 (Wilder S. 168). Über eine neugriechische Übersetzung für eine Aufführung in Alexandrien vgl. Hamburg. Musikzeitung 1889, Nr. 24.


4 Vgl. darüber W. Preibisch SIMG X 430 ff.


5 Daß sie Spanier sind, ist ebenfalls schon alt. Bereits der Hamburger »Kara Mustapha« von 1682 stellt den Türken die beiden spanischen Gefangenen Don Gasparo und Donna Manuela gegenüber.


6 Über ihre englische Nationalität s.u.


7 Preibisch zählt a.a.O. eine ganze Reihe Türkenopern auf, die allerdings, namentlich was die opera buffa anlangt, nicht vollständig ist. Zur Ergänzung mögen noch angeführt werden Paisiellos »Arabo cortese« und »Dardane«, Grétrys »Caravane du Caire« (wo ebenfalls ein Osmin und ein Stummer auftreten) und die ins Phantastische spielende »Isle sonnantes« Monsignys.


8 S.o.S. 366 f.


9 Marx, Gluck und die Oper I 271 ff. Preibisch S. 443 f.


10 H. Abert, Jommelli S. 435 ff., Preibisch S. 439 ff.


11 Albumazar droht bei Martinelli dem Räuber Giuliettas: »per li cappelli lo prenderei, con le mie mani lo graffierei, ne mai contento di strapazzarlo, di maltrattarlo, di bastonarlo, di fracassarlo farei che in polvere volasse ancor.« Abert S. 437.


12 Preibisch S. 446 ff. Merkwürdig ist allerdings die Verwandtschaft des ja ebenfalls als Engländerin bezeichneten Blondchen mit Bickerstaffes Roxelana, die dem auch hier Osmin genannten Haremswächter gegenüber die selbstbewußte Lady hervorkehrt und ihm ebenso wie Blondchen klarmacht, daß die Frauen im Abendland eine ganz andere Behandlung von den Männern gewohnt seien als im Orient.


13 Inhalt bei H. Lewy, Chr. Gottl. Neefe, Rostock 1901 (Diss.) S. 58 f.


14 Von der Komposition A.J. Kuzzis (Gerber, N. Lex. III 154) ist nichts Näheres bekannt geworden. Eine Vergleichung der vier übrigen Kompositionen bei Preibisch S. 457 ff.


15 S.o.S. 721.


16 Er wird allgemein wegen seiner schönen, echten Tenorstimme und seiner trefflichen Schule gerühmt. Nur in der Höhe fielen einige Nasentöne auf, Meyer, Schröder I 368. Gebler, Briefe 104.


17 Reichardt sagt von ihm in der Mus. Monatsschr. 1792, S. 67: »Er ist ein vortrefflicher Baßsänger; seine Stimme hat fast die Tiefe des Violoncells und die natürliche Höhe eines Tenors (ihr Umfang war C-a'), dabei ist weder seine Tiefe schnarrend noch seine Höhe dünn; die Stimme gibt mit Leichtigkeit, Sicherheit und Annehmlichkeit an. Zum Lobe seiner Singart darf man nur sagen, daß er ein braver Schüler des großen Tenoristen Raaff ist, der in der ganzen europäischen singenden Welt für den ersten Tenoristen galt und immer noch gilt. Auch hat er mehr Fertigkeit und Leichtigkeit in der Kehle als vielleicht noch je ein Baßsänger gehabt hat, und in seiner Action weiß er sich auf dem ernsthaften Theater wie auf dem komischen zu nehmen.« Gebler, Briefe 105: »Ein vortrefflicher Bassist, welcher die tiefsten Töne mit einer Völle, Leichtigkeit und Annehmlichkeit singt, die man sonsten nur bei guten Tenoristen antrifft.«


18 B II 121 f. Von den drei übrigen Komponisten hat nur Knecht die geänderte Form Mozarts benutzt.


19 Vgl. die Behandlung bei André und Dieter, Preibisch S. 471 f.


20 B II 124.


21 Das Duett zwischen Belmont und Pedrillo vor der Romanze ist zum größten Teil in der Skizze vorhanden (K.-V. 389, S. XXIV. 42).


22 Cramer, Magaz. d. Mus. II 1057.


23 Oper und Drama, Ges. Schriften III 246.


24 B II 127 ff.


25 In der Arie der Constanze (6) heißt es:


Doch im Hui schwand meine Freude,

Trennung war mein banges Los;

Und nun schwimmt mein Aug' in Tränen,

Kummer ruht in meinem Schoß.


Man beachte auch hier die Kritik dem unlogischen »ruhenden Kummer« gegenüber. Über das »Hui« hatte Mozart seinem Vater schon vorher geschrieben (26. September 1781): »Das Hui habe ich in schnell verändert, also: Doch wie schnell schwand meine Freude etc. Ich weiß nicht, was sich unsere deutschen Dichter denken; wenn sie schon das Theater nicht verstehen, was die Opern anbelangt, so sollten sie doch wenigstens die Leute nicht reden lassen, als wenn Schweine vor ihnen stünden. Hui Sau!«


26 Reichardt verwirft in seinem Brief über die musikalische Poesie (Anhang seiner kleinen Schrift über die deutsche komische Oper, Leipzig 1774), S. 115 ebenfalls den Reim.


27 A. Schweitzer, J.S. Bach, 2. Aufl. 1915, S. 432 f.


28 Nur die Zauberflöte macht hiervon eine Ausnahme.


29 Bezeichnend dafür ist die geringe Rolle, die bei Mozart das Orchesterrezitativ spielt.


30 S.o.S. 563 ff.


31 Wurzbach, Mozartbuch 1869, S. 261.


32 Berliner Literatur- und Theaterzeitung 1783, II 398 ff., vgl. Jahn I4 759.


33 Die Originalpartitur der Oper (K.-V. 384, S.V. 15 mit Wüllners R.-B.) schenkte Mozart seiner Schwägerin Hofer, als sie ihm eines Abends besonders zu Dank gesungen hatte. Später gelangte sie in den Besitz Paul v. Mendelssohn-Bartholdys in Berlin und befindet sich jetzt auf der dortigen Staatsbibliothek. Von den Beiblättern ist aber nur ein Teil in Andrés Sammlung erhalten. Am 20. Juli 1782 schreibt Mozart dem Vater (B II 173): »Sie werden viel Ausgestrichenes darin finden, das ist, weil ich gewußt habe, daß hier gleich die Partitur copirt wird; mithin ließ ich meinen Gedanken freyen Lauf, und bevor ich es zum Schreiben gab, machte ich erst hie und da meine Veränderungen und Abkürzungen.« In der Tat sind diese umfangreicher und bedeutender als in den meisten Mozartschen Partituren.


34 B II 123.


35 Die musikalischen Gedanken selbst tragen, im Durchschnitt wenigstens, ein weit weniger exotisches Gepräge als in der Gluckschen Ouvertüre, dem Janitscharenchor (5) und Mozarts bekanntem Rondo Alla turca aus der A-Dur-Sonate.


36 Auch Wagner, Ges. Schr. I 195 betont diesen bestimmten Charakter der Ouvertüre.


37 Über Bendas Holzhauer vgl. S. 758. Die äußere Form beider Stücke ist genau dieselbe, und doch fehlt dem Bendaschen die zwingende poetische Kraft, die in der Wiederholung des Ouvertürenmittelsatzes durch die Singstimme liegt, auch fehlt der Gegensatz von Moll zu Dur.


38 Anfang bei Preibisch S. 459, vollständig bei H. Abert, Herzog Karl Eugen v. Württ. Heft 7, Anhang.


39 Auch die Mozartsche Betonung trallaléra weicht von der herkömmlichen ab. Dieter und die übrigen deklamieren regelmäßig trállălĕrá. Eine ähnliche, schwüle Stimmung mit unmittelbarem melodischem Anklang an Mozart bei Piccinni »Notte critica« I 1.


40 Ihr Orchestermotiv mit der in gestoßenen Achteln liegen bleibenden Oberstimme ist eine Reminiszenz an Chr. Bach, vgl. dessen »Catone« I 6 und »Orione«, Arie »Solcar pensa un mar sicuro«.


41 Vgl. Monsigny, Belle Arsène III 5. Grétry, Silvain-Ouvertüre.


42 B II 122.


43 Jahn I4 769 identifiziert hier wiederum die Mozartsche mit »aller wahren« Kunst.


44 Von der musikal. Poesie 1752.


45 Ganz ähnlich in Paisiellos »Somiglianza de' Numi« 15 (Arie »Se mi scaldo, m'infurio, m'impesto«). Dieselbe Oper enthält in der Arie I 1 auch lehrreiche Parallelen für Osmins »Eure Tücken, Eure Ränke« und »Mich zu hintergehen«. Natürlich sind das keine bewußten Entlehnungen, sondern nur Beweise dafür, wie stark Mozart für seinen Osmin auf die Buffooper zurückgegriffen hat.


46 Ähnlich erscheint er im Hochzeitsmarsch des Figaro, ebenfalls des fremdartigen Kolorits wegen.


47 Ganz dasselbe, unaufhörlich wiederholte Unisonomotiv, das hier das Stück beschließt, findet sich auch in Paisiellos »Astuzie amorose« II 3 auf die Worte »che brutto fracasso ve faccio vedè«. Die Häufung der Drohungen auch in Paisiellos »Frascatana« II 7.


48 B II 122.


49 Part. S. 59, T. 5 ff.


50 P.S. 60, T. 9 ff.


51 P.S. 61, T. 3 ff.


52 P.S. 61, T. 8 ff. Das Hauptthema der Arie erinnert stark an den Seitengedanken der Arie Pupille amate in Chr. Bachs Lucio Silla III 5.


53 Hierher gehört das in seiner Kürze elementar wirkende kleine Rezitativ und namentlich das in ein Piano ausmündende kleine Crescendo der ersten beiden Arientakte.


54 B II 122 f.


55 Ulibischeff (II 375 ff.) erinnert dafür an gewisse russische Volksmelodien, die Mozart vielleicht beim Fürsten Galitzin kennenlernte.


56 a-Moll benützt Mozart gerne für derartige exotische Bilder, vgl. den Schluß der Arie Osmins und das Alla turca der A-Dur-Sonate (K.-V. 331), das auch im Rhythmus an diesen Chor gemahnt.


57 Darauf deutet die Erwähnung des Sängers Walther in dem Briefe vom 1. August 1781 hin (B II 105).


58 B II 123.


59 B II 123.


60 I4 775.


61 S.o.S. 223, 354.


62 Sie kamen in der ersten Fassung der Arie zweimal vor. Vgl. zu diesen Kürzungen die G.-A. Anh. 293.


63 Guglielmi, »Matrimonio in contrasto« I 4. Grétry, »Tableau parlant« 7.


64 Die ursprüngliche, längere Fassung G.-A.S. 294 ff. Rochlitz erzählt (AMZ I 145), Mozart habe in späteren Jahren eine strenge Rezension der Entführung vorgenommen, in welcher er vieles abgeändert, besonders abgekürzt habe. »Ich hörte ihn eine Hauptarie der Constanze nach beiden Recensionen spielen und bedauerte einige weggestrichene Stellen. – Beim Klavier mags wohl so angehen, sagte er, aber nicht auf dem Theater. Als ich dies schrieb, hörte ich mich noch selbst zu gern und konnte das Ende immer nicht finden.« Was es damit für eine Bewandtnis hat, ist nicht festzustellen; es war nicht Mozarts Art, seine Werke später in dieser Weise zu ändern.


65 Auch diese Arie ist gekürzt, vgl. G.-A.S. 296.


66 Diese Briefstelle (B II 123) deutet auf die Verwendung eines älteren Stückes hin, von dem freilich weiter nichts bekannt ist. Auch der bekannte, rasselnde Rhythmus in gleichen Achteln gehört zum türkischen Kolorit.


67 Beide Teile haben in der endgültigen Fassung bedeutende Abkürzungen erfahren, denen im ersten ein ganzes Thema, im zweiten eine rollende Koloraturpartie zum Opfer fiel. Vgl. G.-A. Anh. 297.


68 Vgl. auch H. Abert, Jommelli S. 195, 416.


69 Ein ganz ähnliches Motiv erscheint im zweiten Finale des Figaro bei Figaros »Mente il ceffo, io già non mento«.


70 Vgl. auch Blondchens Stakkatostreicher gegenüber dem Legato Constanzes.


71 Dasselbe Motiv bei Anfossi, Geloso in cimento, Arie des Perrichetto III 4.


72 Man beachte namentlich das in der Oberstimme der beiden ersten Takte trotz dem Harmonienwechsel festgehaltene e', das wie Glockengeläute wirkt.


73 Die Tonart A-Dur ist nach den vorangehenden b-Moll-Tonarten von schlagender Wirkung, wie überhaupt die Wahl der Tonarten in diesem Quartett, die dem Wechsel der Stimmungen entsprechend von D-Dur über die dunkeln B-Tonarten bis nach b-Moll hinein nach A- und schließlich nach D-Dur zurückführt, für Mozarts Tonartenästhetik sehr lehrreich ist.


74 Vgl. dessen »Temistocle« I 10, Arie »Non m'alletta«.


75 Sie baut sich auf drei stufenweise absteigenden Sequenzen auf (D-Dur-A-Dur, C-Dur-G-Dur, h-Moll-fis-Moll), nur daß die dritte auf die Hälfte der Taktzahl verkürzt und in dieser Gestalt wiederholt wird.


76 Die Pariser opéra comique liebt derartige lokalgefärbte Stimmungsbildchen, vgl. das marokkanische Liedchen bei Monsigny, »On ne s'avise jamais du tout« 7 (Objet divin, femme feconde) und das provenzalische bei Philidor »L'amant déguisé« 5 (Toute fille en Provence). Zur Harmonik vgl. Galuppis »Bagni d'Abano« II 4:


Die Entführung aus dem Serail

Die erniedrigte Sekunde ist den Siciliani der italienischen Buffonisten ganz geläufig, vgl. Paisiello, »Osteria del Marecchiaro« III 1 und 7.


77 Vermischt mit der Arienform, an die die Modulationsordnung sowie die Wiederholung des ersten Zwischensatzes gemahnt.


78 Vgl. die Partie des Pillottola im ersten Finale des »Idolo cinese«, wo auch das Ausweichen nach der Molltonart der Unterdominante vertreten ist. Vgl. auch Catuozzos Arie »Scherzi d'amore« I 6.


79 Ganz eigentümlich und ohne Seitenstück in der gleichzeitigen Oper ist die Verwendung der Klarinette an dieser Stelle, die mit der Singstimme zusammen in die Tiefe steigt.


80 Auch das Orchester begleitet in primitivem Unisono.


81 I4 767.


82 Ein begeistertes Urteil bei Tieck, Dramaturg. Blätter II 315 und bei Berlioz, A travers chants p. 243.


83 Ein berühmtes Beispiel dafür aus dem ernsten Musikdrama bietet der Schlußgesang des Gluckschen »Orfeo«.


84 Vgl. z.B. Traëtta, »Cavaliere errante« I 7. Grétry, »Zémire et Azor« II 4.


85 Die Instrumentation wechselt in den einzelnen Strophen: Belmonte hat nur Streicher, bei Constanze tritt ein Fagott, bei Pedrillo eine Oboe, bei Blondchen eine Flöte hinzu.


86 Ital. Reise, Bericht vom November 1787.


87 M. Maria v. Weber, C.M.v. Weber III 1866, 191. In neuester Zeit hat M. Schillings den Dialog als Secco komponiert und dadurch ein italienisches Buffoelement in die Oper hineingetragen.


Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. 799.
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