Singparthien.

[199] Mit Beziehung auf das, was ich schon von seinen Melodien sagte, hier nur noch dieses wenige. Sein Gesang ist überall einfach, natürlich, kraftvoll, reiner Ausdruck der Empfindung und Individualität der Person und ihrer Lage; der Sinn des Textes ist immer so richtig, so genau getroffen, daß man die Musik selbst sprechen hört. Aber dann erst scheint sich Mozart selbst zu übertreffen, wenn er Gesang für mehrere Stimmen dichtet. Welcher Reichthum, welche Mannichfaltigkeit in[200] Wendungen und Veränderungen in seinen Terzetten, Quintetten, und überhaupt in jedem mehrstimmigen Stücke, vorzüglich in seinen unerreichbaren, wahrlich einzigen Operfinalen! Wie schlingt sich da eine Stimme um die andere, wie schön vereinigen sie sich zum schönen Ganzen, zur neuen Harmonie! Und doch sagt jede nur ihre eigne, oft den andern ganz entgegen gesetzte Empfindung1! Hier ist die größte Mannichfaltigkeit mit der strengsten edelsten Simplizität vereinigt.

Der Sänger darf nur genau auf den Gang seines Gesanges acht geben, um die Richtigkeit seiner Deklamazion zu finden. Jedes Wort hat seine richtige Akzentuazion, während die Begleitung[201] die Akzion vormahlt, und der Schauspieler muß wahrlich ein sehr unempfindsamer, hölzerner Mensch seyn, wenn er die Akzion nicht wieder heraus findet, die Mozart hinein legte.

Jede Stelle spricht, jede empfindet, jede gestikulirt. Man erlaube mir, nur einige Stellen anzuführen. In der Oper, Figaro's Hochzeit, welche überhaupt voll solcher Mahlereien ist, die Stelle, wo Figaro vorgiebt, im Hinunterspringen das Bein zerbrochen zu haben, und zu hinken anfängt. Die Musik hinkt selbst, der Schauspieler braucht hier blos Marionette zu seyn und dem Takte der Instrumente nachzuhinken. Auch Don Juan ist voll solcher agirenden Stellen.

Man kann behaupten, daß Mozart jeder Empfindung Meister war, daß er[202] gleich stark, mit gleicher Grazie jedes Gefühl zu schildern verstand. Man werfe einen vergleichenden Blick auf nachstehende Karakterstücke, wo sich seine Empfindung am deutlichsten anfärbt:


Das: Domine Jesu Christe im Requiem.

Vivat Bacchus! Bacchus lebe etc. In der Entführung aus dem Serail.

Braußt der Champagner.

(Fin ch'han dal vino) Im Don Juan.

Der Höllen Rache kocht in meinem Herzen. In der Zauberflöte.

Die ihr der Liebe Qualen kennt.

(Voi che sapete che sei Amor). Aus Figaro.

Prendi l'anello. Terzett aus Cosi fan tutti.

Traurigkeit ward mir zum Looße. Aus der Entführung.[203]

Das Chor der Schiffer im Idomeneo: Placido e il mare,

und in derselben Oper: Fuor del mar.

Martern aller Arten. Aus der Entführung.

Deh prendi un dolce amplesso.

(In deinem Arm zu weilen) Aus Clemenza.

Die Geisterszene im Don Juan.

Die Priesterszenen in der Zauberflöte.

Se all impero.

(Steht die Herrschaft ihr guten Götters) Aus Titus.

An dem schönsten Frühlingsmorgen. Aus la finta giardiniera.

Erst geköpft und dann gehangen. Aus der Entführung.

Das rührende Agnus Dei in der Messe C dur.

Das Final im Titus.[204]

Das Getümmel und der Marsch zur Schlacht im Idomeneo.

Non piu di fiori in Clemenza di Tito.


Wie verschiedenartig sind die hierin enthaltenen Gefühle, und wie hell sind sie prononzirt!

Ich habe nur die auffallendsten Stellen ausgehoben. Oft kömmt in seinen Werken eine und dieselbe Empfindung mehrmals vor; und immer neu, immer schön geschildert; aber im Gange der Melodie so unähnlich und doch so treffend.

Man nehme das Gefühl liebender Sehnsucht, das in der Entführung weht. Pamimens Schmachten, Elvirens Leiden (vorzüglich in der später eingelegten Arie: Mich verläßt der Undankbare etc.) wie übereinstimmend in der Empfindung, und wie[205] verschieden ausgeführt! Man weiß nicht, welchem man den Preiß zuerkennen soll. In jedem fühlt man zugleich die verschiedenen Motive, aus denen sich das Gefühl entwickelt. Und welches Ineinanderschlingen, Entgegenkommen und Auseinandertreten der Singparthien in den Finals und Sextetten! Welche kanonische Regeln sind hier befolgt! welche Aufgaben gelöst! welche Harmonien-Gebäude! Die Chöre im Titus, die Finals im Figaro und das große Sextett des zweiten Akts im Don Juan: wie wahr, wie sprechend ist jede Stelle geschildert ohne dem reinen Satze, ohne dem strengen Kontrapunkte auch nur das Geringste zu vergeben!

Nun von diesen hoch empor geschossenen Eichbäumen einen Blick auf die lieblichen Blümchen des Thals. – Der Gesang an Chloe, das Veilchen, Abendempfindung,[206] das Bändchen: wie herzig, wie lieblich sind seine Melodien! wie rein, wie wahr! Man weiß nicht, ob man ihn im grösten Aufwande der Kunst, oder der höchsten Einfachheit am mehrsten bewundern soll. Auch im kleinsten Singstücke lebt der große Mozart, auch im leicht verhallenden Liede singt sein unendlicher Geist!

Fußnoten

1 Wie z.B. das Schlußquartett des zweiten Akts der Entführung aus dem Serail, das große Sextett und die Finale im Figaro.


Quelle:
Arnold, Ignaz Ferdinand Cajetan: Mozarts Geist. Erfurt 1803, S. 207.
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