Antwerpen.

[26] Es war in dieser Stadt, wo ich die wichtigsten Materialien zur Geschichte des Contrapunkts, oder vielstimmiger Musik, zu finden hofte, denn hier, sagt Lodovico Guicciardino und nach ihm viele andre die es auf guten Glauben annehmen, wurden die guten flämischen Komponisten gebildet, welche im sechszehnten Jahrhunderte ganz Europa überzogen. Ich langte hier den 17. Jul. auf einen Freytagabend an. Es ist eine Stadt, die das Gemüth mit mehr melancholischer Betrachtung über die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge und die Richtigkeit der irdischen Herrlichkeit anfüllt, als irgend eine andre in den neuern Zeiten. Die Börse, welche dem Sir Th. Gresham zum Model diente, als er die Londoner Börse bauete, ist zwar noch völlig vorhanden, den Einwohnern aber eben so unnütz als[26] das vespasianische Colosäum den Römern. Das Rathhaus, welches als ein Gerichtshof für einen Magistrat erbauet ward, der einer Anzahl von zweymalhunderttausend Einwohnern vorstund, und die itzt keine zwanzig tausend mehr ausmachen; die Kirchen, die Palläste, die Marktplätze und ganze Gassen, welche, vor noch nicht zwey hundert Jahren kaum hinreichten, die Leute zu fassen, für welche sie bestimmt waren, und itzt fast gänzlich leer sind; die geräumigen und bequemen Cajen,3 die vielen Canäle, welche mit so viel Mühe und Kosten gegraben sind, der prächtige Scheldefluß, breiter als die Themse zu Chelseareach, welcher mit Schiffen aus allen Weltgegenden bedeckt zu seyn pflegt, und auf welchem man gegenwärtig kaum einen Fischerboth erblickt; alles trägt dazu bey, die Unbeständigkeit des Glücks deutlich zu machen und einem zu erinnern, daß die blühendsten Städte unserer Zeit einst unvermeidlicher Weise das werden müssen, was Babilon, Carthago, Athen und Palmira schon sind!

Die Hauptkirche, zu unser lieben Frauen, brannte im Jahr 1533. bis aufs Chor nach, ab, wie ein grosser Theil von Rom sechs Jahr vorher abgebrannt war, und das macht es so schwer, in einer von diesen beyden Städten geschriebene Musikalien zu finden, die älter wären, als diese Perioden.[27]

Die Kirche ward das folgende Jahr wieder viel schöner erbauet, als sie vorher gewesen war, und wird für das vorzüglichste vor allen gothischen Gebäuden dieses Landes gehalten, besonders der Thurm, welcher ausserordentlich leicht und zierlich von Ansehn ist. Sie ward indessen im Jahr 1560. von den Bilderstürmern, wie man die holländischen Rebellen oder Ketzer zu nennen pflegte, geplündert und sehr verwüstet. Allein seit Anno 1584. da der Herzog von Parma Antwerpen einnahm, ist sie von Zeit zu Zeit mit prächtigen Altären, Monumenten und mit Gemählden von den besten Meistern bereichert. Sie ist fünf hundert Fuß lang, und zwey hundert und vierzig breit, und drey hundert und sechzig hoch, und hat hundert fünf und zwanzig Pfeiler zu Stützen. Sie ward zum Erstenmale im dreyzehnten Jahrhunderte erbauet. Der Kaiser Carl der Fünfte legte den ersten Stein zu dem Chore, der itzt noch steht. Das Domcapitel ward 1521. gestiftet, von Gottfried von Boulogne, König von Jerusalem; die Anzahl der Chorherrn war anfänglich nicht mehr als zwölfe, jetzt aber geht solche bis vier und zwanzig. Canonici Minores hat es acht, dabey eine Menge Capelläne u.s.w. welches in Allem eine Zahl von siebenzig präbendirten Geistlichen auf dem Chore zusammen bringt. Man findet drey Orgeln in dieser Kirche, eine sehr grosse, rechter Hand zur Westseite des Chors, und eine kleine zu jeder Seite des grossen Gewölbes in eine Capelle.[28] Gegenwärtig ist dabey Organist, Herr van dem Bosch, ein feuriger meisterhafter Spieler. Der Gesang wird hier, wie in andern Kirchen des hiesigen Landes, von einem Contraviolon und Serpent begleitet; Sonnabends Nachmittags, den 13. Jul. ward aus einem gedruckten Buche eine vortrefliche Vesper gesungen, welches zum Titel hatte:


»Octo Cantica Divæ Mariæ Virginis, fecundum Octo Modos, Aućtore Arturo Aux-Coteaux. Parißis, 1641.«


Im Iesuitercollegio ward mir mit vieler Höflichkeit begegnet, und in meinen Nachsuchungen von dem gelehrten Pater Sesquiere geholfen, wie auch von den beyden Patres Newton und Blithe, zween Engländern von diesem Collegio. Der Erste zeigte mir eine Abhandlung von der Musik in Manuscript, welches nach den Buchstabenzügen für neun hundert Jahr alt geschätzt wird; und eine feine alte Handschrift von unsrer berühmten Magna-Charta. Beyde scheinen von England herüber gebracht, oder wenigstens in dem Besitze eines Engländers gewesen zu seyn, weil in beyden der Name John Corton geschrieben steht.

In der Kirche der Dominikaner befinden sich zwey Orgeln, welche für die besten in der Stadt gehalten werden. Die eine ist sehr groß, von 54 Stimmen, drey vollen Clavieren von C bis c, und hat ein Pedal. Sie ist 1654. gebauet. Die Pfeifen in diesem Werke befand ich von gutem[29] Tone, aber so jämmerlich verstimmt, daß sie dem Zuhörern mehr Schmerz als Vergnügen verursachten. Einer von den vier Mönchen, welche die Organisten vorstellen, der mich sehr verbindlicher Weise herumführte, schützte die Armuth des Klosters vor, warum die Orgel nicht gestimmt wäre, und sagte, sie könnten nicht so viel aufbringen, ihr Werk oft stimmen und in Ordnung bringen zu lassen.

Da hier kein Gemählde, das des Sehens werth ist, unter ein oder ein paar Brabandter Schillingsstücken einen Fremden gezeigt wird, weil vor jedem eine Gardine hängt, die nur die Simonie wegziehn kann; so fragt' ich, (in der That nicht in der Erwartung, daß man es nehmen würde) ob ichs wagen dürfte, der vorbesagten ehrwürdigen Person Etwas anzubieten, und nach einer bejahenden Antwort, brachte ich mein unterthäniges Opfer, welches, wie an andern Orten mit vieler Leutseligkeit und Herablassung angenommen wurde.

Sonntags, den 19ten. Diesen Morgen ging ich um sieben Uhr nach der ersten Messe. Ich fand einige wenige Violinen, zwey Bassons und einen Contreviolon mit den Sängern auf dem Orgelchore, über der westlichen Thüre des hohen Chors. Ehe diese aber begannen, ward ein grosser Theil der Messe im Canto fermo gesungen, welchen bloß ein Serpent und zwey Bassons begleiteten; und hernach erst sangen die Sänger auf der Orgel ihre drey oder vierstimmige Messe mit[30] Instrumentalbegleitung. Indessen thaten in einem so grossen Gebäude die geringe Anzahl von Violinen, die noch dazu nicht von der besten Classe waren, eine sehr geringe Wirkung.

Um neun Uhr ging die hohe Messe an, und währte ungefähr zwo Stunden. Ich ging während derselben aufs hohe Chor, an verschiedene Stellen in der Kirche, und auf die Orgel, um die Musik und ihre Wirkung in verschiedenen Entfernungen und Stellungen zu hören, ich fand aber keine, die mir gefallen hätte. Ich war in Italien und sogar in London an viel bessre Kirchenmusiken gewöhnt. Was für Verdienste auch die Antwerper gehabt, in was für Künsten, Wissenschaft und Handel sie vor ein paar hundert Jahren vor dem übrigen Europa mögen einen Vorzug behauptet haben: so ist doch gegenwärtig von ihrer alten Grösse nichts mehr sichtbar, als in ihrer Kirche. Hier blickt noch in der That eben so viel Pracht, Reichthum und Aufwand hervor, als jemals, obgleich die Musik an diesem Aufwande einen sehr geringen Antheil hat. Die Einkünfte der Kirche werden verwendet an dem Unterhalt der verschiedenen Classen von Geistlichen, auf die fast unzählige Menge immer fort brennender Wachslichter, und auf diese kostbaren Gewände und Prunk, Zierrathen, mit welchen man die Augen des grossen Haufens blendet. Was aber die Musik anbetrift, da sind sie schon so lange an eine unordentliche und plumpe Execution gewöhnt, daß es scheint, sie haben alles Unterscheidungsvermögen[31] verloren. In der ganzen Stadt hab' ich nicht eine einige rein gestimmte Orgel angetroffen, und die Geiger, die in der Kirche gebraucht werden, sind blosse Fiedler. Die gewöhnlichen Bassonbläser sind noch schlechter, als die Nachtbläser, welche des Winters die Gassen von London, unter dem Namen von Waits, (Wächtern) durchwandeln, und der Serpent ist nicht nur ganz falsch, und wird nicht nur überblasen, sondern giebt genau eben denselben Ton, als ein grosses hungriges, oder vielmehr böse gemachtes Kalb.

Ehe der Dienst auf dem Chore mit der Orgel begann, gingen die Canonici mit den Chorknaben in Procession rund in der Kirche herum, jeder mit einem brennenden Lichte in der Hand, wobey sie Psalme in vier Stimmen sangen, und die oben gedachten zwey Bassons und den Serpent zur Begleitung hatten. Aber alles war so mißtönend und falsch, daß, ungeachtet die Kirche äusserst groß und dem Schalle sehr vortheilhaft ist, indem sie solchen nicht nur verstärkt, sondern auch verbessert, und Trotz zwey oder drey schönen und hellen Stimmen unter den Knaben, mir das Ganze unerträglich ward; ob ich gleich auf dem Chore geblieben war, und mich an dem natürlichen Diminuendo und Crescendo zu vergnügen dachte, das ein aus so vielen Stimmen zusammengesetzter Gesang machen muß, wenn er sich so langsam entfernt oder nähert.

Während daß der Theil der Musik, der auf diese Procession folgte, aufgeführt ward, begab[32] ich mich auf die Orgel, wo mir Herr van dem Bosch sehr höflich begegnete. Er ist ein Mann von vorzüglichen Verdiensten in seiner Kunst; seine Spielart ist modern,4 und er hat viele Fertigkeit auf dem Pedale. Dieses Werk in der lieben Frauenkirche hat an 50 Stimmen, und hat den vollen Umfang: es ist vor ungefehr hundert und fünfzig Jahren gebauet, und hätte einen schönen Ton, wenn es nur gestimmt wäre.

Nach geendigtem Gottesdienst ging ich mit Hrn. van dem Bosch nach Hause, der so verbindlich war, mir seine Instrumente und Bücher zu zeigen. Einige Kompositions von diesem Meister, für den Flügel, sind zu Paris gestochen. Er hat einen guten Geschmack und sehr viel Feuer, beydes im Schreiben und Spielen.[33]

Bey meinen Nachforschungen nach alter Musik an diesem Orte, verwies man mich an Monsieur – einen Franzosen und Singmeister an der St. Johanniskirche. Es führte mich wirklich einer von den Canonicis sehr verbindlicher Weise nach seinem Hause, und als ich ihm mein Gesuch eröfnete, und ihm die Frage vorlegte, die ich, ohne sonderliche Gnüge zu erhalten, schon vorher an alle Musiker und Gelehrte hatte ergehen lassen, die ich nur in Frankreich und Italien angetroffen hatte, nemlich: »Wo, und wann nahm der Contra-Punkt, oder die moderne Harmonie ihren Anfang?« war die Antwort des Abbe's schnell und entscheidend: »O mein Herr, der Contrapunkt ist zuverlässig in Frankreich erfunden.« »Allein, sagte ich, L. Guicciardini und der Abt du Bos schrieben ihn den Flamländern zu?« Dies machte aber gar keinen Eindruck auf meinen tapfern Abbe', der mich immerfort nach Frankreich verwies, um Materialien zu finden, die seine Behauptung bestätigten. »Allein, mein Herr, sagt' ich, nach was für einem Theile von Frankreich muß ich gehen? Ich habe in dieser Reise schon alle Nachsuchung angestellt, und man hat mir die Ehre erlaubt, länger als einen Monath in der Bibliotheque du Roi, zu Paris nachzusuchen, in Hofnung, daß ich etwas zu meinem Zwecke finden würde, aber vergebens; und da Sie im Besitze der alten Manuscripte sind, die ihrer Kirche zugehören, so war ich geneigt, es für möglich zu haken, daß[34] Sie mir eine oder die andre Komposition würden vorzeigen können, die, wo nicht die Erste, die im Contrapunkte geschrieben, doch älter wäre, als die, welche ich schon anderwärts gefunden habe.« »Mais, Monsieur, foyez fûr que tout cela éroit inventé en France.« Dies war die ganze Antwort, die ich von ihm herausbringen konnte, und als ich noch weiter in ihn drang, mir zu sagen, wo ich Beweise für seine Behauptung finden konnte, war alles, was er sagte: »Ah, ma foi, je n'en çais rien.«

Ich hatte mich schon seit einiger Zeit der Thüre genähert, um mich von diesem unwissenden Haasenfusse wegzubegeben, allein itzt flog ich nach derselben so geschwind ich konnte, nachdem ich ihm erst meinen Bückling gemacht und aufrichtig versichert hatte, es thäte mir sehr leid, ihm so viel Unruhe gemacht zu haben.

Des Nachmittags ging ich nach der lieben Frauenkirche zur Vesper. Die Musik war stärker besetzt als den Vormittag, sonst wars aber noch immer dasselbe, Die Responsas werden hier in der Cathedrale, wie überhaupt in allen Kirchen in Flandern, wo Instrumentalmusik ist, vierstimmig gesungen; aber die Instrumentisten machen dabey ein so heftiges Runda und Gekreische, wie auf unserm englischen Theater, wenn der König Richard der Dritte auftritt, oder der König Claudius auf Hamlets Gesundheit trinkt; welches nach meiner Meinung einen barbarischen Geschmack und einen gänzlichen Mangel an Wohlanständigkeit[35] verräth. Das einzige Vergnügen, das ich von der Musik hatte, war über ein langes Präludium, welches Herr van dem Bosch so gut war, auf mein Verlangen zu spielen, nachdem der Gottesdienst geendigt war, und worin er grosse Geschicklichkeit bewies.

Hierauf ging ich nach einem sehr grossen Gebäude, auf einer Cajen, an einem Armen von der Schelde, welches das Oosters Suys genannt wird. Es ward ehedem als ein Packhaus für die Kaufleute gebraucht, die nach Hamburg und Lübeck und den Hanseestädten handelten. Es ist von recht guter Bauart, und hat in Kriegszeiten eine Barracke für zwey Tausend Mann abgegeben. Ich würde nichts davon erwähnen, daß ich dieses Gebäude besehen hätte, wenn ich nicht eine grosse Menge musikalische Instrumente von sonderbarer Bauart darin gefunden hätte. Es sind zwischen dreissig bis vierzig Stück von der gewöhnlichen Art Flöten, die aber das Besondre haben, daß die längern darunter Esse und Klappen haben, wie die Hoboen und Bassons. Sie waren zu Hamburg gemacht, alle von einerley Holz und von Einem Instrumentenmacher, Namens: Caspar Rauchs Schratenbach, welches auf die messingene Ringe gestochen war, welche um die meisten von diesen Instrumenten gelegt waren. Die grossen waren mit breiten durchgebrochenen Messing belegt, auf deren etliche rechte gute Figuren eingegraben stunden. Diese letztern sind länger, als ein Basson seyn würde, wenn seine[36] Röhre gerade ausginge.5 Die Einwohner sagen, daß es länger als hundert Jahre ist, daß diese Instrumente gebraucht worden, und daß sich jetzt kein Musikus in der Stadt befindet, der darauf zu spielen wisse, weil sie von allen, die jetzt im Gebrauch sind, völlig verschieden sind. Zu den Zeiten, da noch der Handel in dieser Stadt blühete, wurden diese Instrumente täglich gebraucht, indem eine Bande Musikanten, die nach den Hanseestädten handelnden Kaufleute in Procession, mit Musik, nach der Börse führte. Jtzt hängen sie in einem Cabinette oder vielmehr Schranke mit doppelten Thüren an hölzernen Haaken, das eigentlich dazu gemacht ist; obgleich noch vor demselben ein einziges grosses Futteral auf der Erde liegt, das von einem schweren dunkeln und festen Holze und dergestalt gemacht ist, daß sie alle hinein gelegt werden können, welches aber, wenn die Instrumente hinein gepackt sind, so schwer ist, daß acht Mann erfodert werden, um es von der Erde aufzuheben. Es war von einer so ungewöhnlichen Gestalt, daß ich nicht errathen konnte, was es wäre, bis man mirs sagte.

Diesen Abend um sechs Uhr ging eine ansehnliche Procession, zur Ehre eines Heiligen durch die Gassen; sie bestund aus einer grossen Menge von Priestern, welche mit Wachskerzen in der[37] Hand, den ganzen Weg bis zur Kirche Psalme sangen, zuweilen im Contrepunkt, die meiste Zeit aber im Canto fermo, mit Waldhörnern und Serpents. Ein grosses silbernes Crucifix und eine Mutter Maria mit dem Kinde, von eben dem Metalle, machte die Dekoration dieses feyerlichen Aufzugs.

Die Spanier haben den guten Leuten hier eine artige Portion Stolz und Aberglauben hinterlassen. Der erste zeigt sich in der Tracht und Unthätigkeit des Adels, und der andre in der Bigotterie und dem treuherzigen Andachtswesen der übrigen. Es giebt hier in und ausser den Kirchen mehr Crucifixe und heilige Jungfrauen, als ich in irgend einer andern römisch, catholischen Stadt bemerkt habe.

Die ebengedachte Procession schien dem gemeinen Manne eben so viel Anlaß zum Schwelgen und Schwärmen gegeben zu haben, als Bier und Freyheit, worin sich der engländische Pöbel in einer lustigen Nacht in London gewöhnlich berauscht. Es gab durch die ganze Stadt Freudenfeure, und die Husseh's, Racketen, Schwärmer, Kanonenschläge und dergl. waren in dem Place de mer, wo ich logirte, die ganze Nacht durch so häufig und so laut, daß ich kein Auge zu thun konnte, und um zwey Uhr des Morgens war der Johann Hagel so wild, und schrie so heftig, daß ich nicht anders dachte, als alle Einwohner der Stadt lägen sich einander in den Haaren; und dennoch darf andre Abende kein Bürger ohne eine besondre Erlaubniß[38] des Gouverneurs, später als halb eilf Uhr auf den Gassen gehen.

Diesen Morgen ging ich um sieben Uhr zum Singemeister der St. Andreaskirche, Herrn Blaviere, gebürtig aus Lüttich, weil ich hofte, daß ich in den alten Manuscripten, die er unter Händen hätte, Beyspiele von dem frühern Fortgange finden würde, den die Flamländer im Contrapunkt gemacht haben sollen. Ich fand an ihm einen Mann, der viel Verstand und Einsicht besaß, und in musikalischen Schriften sehr belesen war, wovon er mir verschiedene vorzeigte; es war aber nur ein einziges Buch darunter, das ich noch nicht gesehen hatte, und das war ein italiänischer Tracktat, von Francesco Penna, Bolognese, gedruckt zu Antwerpen, 1688. Er zeigte mir auch verschiedene von seinen Kompositionen für die Kirche, welche mich überzeugten, daß er sehr emsig studirt hätte, und ein geschickter Contrapunktist wäre.

Den übrigen Theil des Vormittags brachte ich in der Bibliothek der Jesuiten zu, mit Pater Newton und Pater Gesquiere, welche unermüdet waren, Bücher und Manuscripte für mich aufzustöbern, wovon zu vermuthen stund, daß sie nur Etwas Zweckmässiges für mein Werk enthielten. Der Letzte ist einer von den verschiedenen Jesuiten, die schon lange an dem Leben der Heiligen arbeiten müssen, die in dem römischen Calender auf alle Monate im Jahre stehen. Die Absicht dieser Autoren ist, die Biographien, die sie schreiben, von[39] allen den Fabeln zu säubern, welche sich in die Erzählung der Legende der Heiligen eingeschlichen haben. Gegen fünfzig Bände in Folio sind bereits gedruckt, und mehr als zwanzig sind noch zurück. Das Werk ist in Latein geschrieben, und hat den Titel: Acta fantorum a Johanne Bollando, S.J. Collegi felicita cæpta a Godfredo Henschenio, & Daniele Pabebrockio, aucta, digesta & illustrat. Antwerpiæ, 1768. Ich schlug verschiedene Artikel in den bereits gedruckten Bänden auf, um Nachricht von der frühesten Einführung des Gesanges in der Kirche, von der Reformation desselben durch dem Pabst Gregorius, und von andern auf die Geschichte der Kirchenmusik sich beziehenden besondern Umständen zu suchen; einige derselben leisteten mir mehr Genüge, als andere Bücher, die ich mit eben dieser Absicht so häufig gelesen habe.

Die, wegen ihrer schönen Clavecins so lange in ganz Europa berühmten Claviermacher, Rükker, haben in dieser Stadt gewohnt. Ihrer waren drey. Der Erste, und der Vater der übrigen beyden, welcher im Anfange des vorigen Jahrhunderts lebte, hieß Sanns Rücker. Seine Instrumente wurden vorzüglich gesucht und unterschieden sich durch die Lieblichkeit und Fülle ihres Klanges. An der linken Hand des Schalllochs im Sangboden setzte er sein MerkzeichenH. Sein ältester Sohn bezeichnete seine Instrumente mit einem A im Schallloche, von seinem Namen[40] Andreas. Die grossen Flügel, die dieser machte, werden nicht so hoch geschätzt, als die von seinem Vater und jüngeren Bruder, seine kleinen aber, als Spinets und dergl. sind vortreflich. Die Flügel des jüngsten, Namens Johann, die man an einem J. im Schallloche erkennen kann, sind zwar nicht so schön, als die von seinem Vater, werden aber doch wegen ihres besonders delikaten Tons sehr hoch geschätzt. Der beste Flügelmacher nach diesen Dreyen war, I. Dan. Dulken, ein Hesse. Gegenwärtig wohnt ein Mann in Antwerpen, der Bull heißt, und sehr gute Arbeiten macht. Er hat von Dulken gelernt, und verkauft seine Doppelflügel, die ohne Schweller oder Antritt zum Piano und Forte, auch bloß auswendig angestrichen sind, das Stück zu hundert Dukaten. Van der Eschens, eines Niederländers Instrumente, haben ungemein viel Gutes; überhaupt aber sind die Instrumente, die hiesiger Gegend nach Rückers Model gemacht werden, dünn und schwach vom Tone, und lange nicht so gut, als die von unsern besten Meistern in England.

Ich kann diese Stadt nicht verlassen, ohne einer besondern Höflichkeit zu erwähnen, womit mich der Pater Gesquire den Abend vor meiner Abreise beehrte. Des Morgens hatte er mir ein sehr altes lateinisches Manuscript, das von der Musik handelte, mitgetheilt. Die Schriftzüge bewiesen sein hohes Alter, allein wir konnten doch die eigentliche Zeit, wann es geschrieben, nicht mit Gewißheit[41] bestimmen. Auch hatte es einige Buchstaben, die als musikalische Zeichen gebraucht waren, die wir schwerlich herausbringen konnten, weil die drey Buchstaben A, O und D sich in der Handschrift so ähnlich sahen, daß man Mühe brauchte, sie von einander zu unterscheiden. Aus einer, in zierlichem Latein geschriebenen Note aber, die er so gütig war, mir des Abends zuzustellen, ersah ich, daß diese Schwierigkeiten ihm den ganzen Tag im Kopfe gelegen hatten. Es schien wirklich, daß er ihn ganz mit dem Versuche zugebracht hatte, die erste ins Reine zu bringen, und bot mir seine künftigen Dienste an, die letzte aus dem Wege zu räumen.

3

Cajen, das eigentliche deutsche Wort für Quais, bezeichnet eine Gasse an einem Wasser, oder Canale.

4

Wenn ich die Beywörter alt oder neu brauche, so meine ich mit keinen von beyden etwas nachtheiliges oder tadelndes, sondern bloß dem Leser zu sagen, in was für einem Style ein Stück gedacht oder geschrieben ist; und er mag es nach eignem Gefallen für schlechter oder besser halten. In Italien hält man freylich eine alte Oper für nichts besser und nichts mehr werth, als einen Calender vom vorigen Jahre; wenn indessen eine alte Komposition die beste aus der Zeit ist, worin sie verfertigt worden: so werde ich allemal mit Hochachtung davon sprechen; eine altväterische Spielart aber, sie sey nun eine Folge der Unwissenheit oder des Eigensinns, möchte vielleicht nicht so viele Nachsicht zu erwarten haben.

5

Die lange Trompete, die neulich in London jemand geblasen hat, scheint eine gewöhnliche, aber nicht krumm gebogne Trompete gewesen zu seyn.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 26-42.
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