Lille.

[9] Personen, die nur eine kurze Zeit in Städten sich aufhalten, worinn französische Besatzung liegt, finden beym Militare Zeitvertreib genug. Gegenwärtig liegen in dieser Stadt nicht über vier Battaillons, oder zwey tausend Mann, anstatt die Besatzung sonst gewöhnlich aus zehn tausend zu bestehn pflegt. Es ist an und für sich selbst, ein angenehmes lustiges Schauspiel, die Wachtparade auf dem grossen Platze aufziehn zu sehn; allein ich kann mich nicht erwehren, allemal betrübt und traurig zu werden, wenn ich mehr Soldaten,[9] als Bürger erblicke. Ein so mancher handfester, starker Kerl, der dem Pfluge entzogen ist, muß dem gemeinen Wesen sehr lästig fallen, denn in Friedenszeiten besonders sind sie doch zu allem übrigen völlig unnütz, als etwan Furcht und Schrecken einzujagen.

Da ich diese Stadt erst 1770. wegen musikalischer Nachforschungen besucht hatte, so erwartete ich eben nicht, etwas wichtiges Neues zu finden; gleichwohl ging ich die Regimentsmusik zu hören, welche sich, seitdem ich das Letztemal in Frankreich gewesen bin, sehr verändert hat. Die Märsche sowohl, als die Hoboisten sind mehrentheils Deutsche. Man braucht hier das crotolum, so wie ich zu Florenz gesehen hatte. Es thut gute Dienste, den Tackt im Marschiren zu bemerken, ob es gleich nur Einen Ton giebt, wie die Trommel. Es ist dasselbe Instrument, welches die AltenCymbalum nannten. Unter den Neuern waren die Türken die Ersten, die es bey ihrer Armee einführten; es hat ungefehr die Gestalt eines runden Beckens, oder eines Deckels einer Schüssel, für jede Hand eins. Es ist von Kupfer oder Messing, aber dadurch, daß man es mit der Hand fest hält, wird die Zittrung dergestalt gehemmt, daß man es kein klingend Instrument nennen kann; es klatscht mehr als es tönt: gleichwohl bemerken die Schläge den Tackt so nachdrücklich, daß man solche vor dem betäubenden Lärmen von vierzig Trommeln voraus hört.[10]

Bey Gelegenheit, da ich von der Kriegsmusik spreche, scheint es der Bemerkung nicht unwürdig, daß die Trommeln so monotonisch sie sind, öfters zweystimmig spielen. Ich habe heute bey Gelegenheit der Vergadderung angemerkt, daß von vierzig Trommeln, welche anfingen isochronich, oder gleichzeitig zu schlagen, die eine Halfte mit den Schlägen des Marsches fortfuhr, und die andere Hälfte mit einem fortwährenden Wirbel viele Tackte lang accompagnirte: die Wirkung hiervon ist vortreflich, indem es die Truppen animirt, ohne die Eintheilung des Tacktes zu stören, nach welchem sie ihre Schritte abzumessen haben. In andern Musiken verliert man, während einer langen Note, man mag sie wachsen oder abnehmen lassen, oder in einem ununterbrochenen Triller unterhalten, das Zeitmaaß völlig, wofern es nicht durch eine andre Parthie angegeben wird; ein einziger Trommelschläger hingegen, indessen er mit der einen Hand fortwirbelt, kann mit der andern die einzelnen Schläge des Tacktes angeben. Beym Marschiren sowohl, als beym Tanzen ist die Musik mehr dazu, die Tritte zu heben, als das Ohr zu vergnügen, und zu beyden Zwecken sind vielleicht die Trommel und die kleine Handpauke die besten Instrumente, obgleich keins von beyden mehr als einen Ton angiebt.

Nach Molierens Männerschule hörte ich hier die Freundschaft auf der Probe, welche Favart aus einer von Marmontels moralischen Erzählungen genommen hat, mit Arietten[11] von Gretry: die Musik ist voll artiger Einfälle, und es macht den Franzosen Ehre, daß sie die Arbeiten dieses sinnreichen Komponisten bewundern, welcher sich dagegen aus Dankbarkeit dem National Geschmacke so sehr zu nähern scheint, als er nur immer kann; obgleich seine Melodien häufiger italiänisch als französisch, und seine Wendungen und Begleitungen neu und gefällig sind. Die Aufführung dieser hübschen Operette kritisiren wollen, hiesse sein Pulver nach Sperlingen verschiessen. Bey diesem harten Tadel muß ich gleichwohl die Akteurs von den Sängern, und die Stimmen von dem Verderben und Mißbrauche derselben unterscheiden.

Beyde Stücke wurden gut agirt; das Singen aber konnte nicht elender seyn; und bey alle dem war kein Sänger darunter, der eine schlechte Stimme hatte. Eine von den jungen Schauspielerinnen hatte sogar einen rührenden Ton in der Stimme, die von grossen Umfange war; aber die Arien waren für sie zu schwer, und sie mißhandelte ihre Stimme so gut wie die andern, nach der Nationalgewohnheit, mit Schreyen, Kreischen, und falschem Geschmack, und der unheilbaren und unausstehlichen Expression die das Ohr eines jeden Fremden beleidigen, er mag Musik verstehn oder nicht.

Bey meinen Reisen durch die französischen Niederlande ist mir die Anmerkung aufgefallen, daß die Singart des gemeinen Mannes stark nach dem plein chant schmeckt, den er so häufig in der Kirche[12] hört. Alle Arbeitsleute und kleine Bürger gehen jeden Werkeltag, so bald der Tag anbricht, in die Frühmesse, an Sonn- und Festtagen gehn sie zwey oder dreymal in die Kirche, dergestalt hören sie den Priester so oft, und singen so oft mit ihm, daß die Art, Melodie und der Ausdruck, der in der Kirche gebräuchlich ist, ihnen natürlich wird, und sie solche in ihren Liedern in den Werkstätten und auf den Gassen anwenden.

Ob ich gleich auf meinem Wege durch die französischen Niederlande keine Gelegenheit versäumte, so vielerley Musiken zu hören, als ich nur konnte, so hat mir solches doch keine neue Ideen oder Betrachtungen, weder über den Geschmack noch den Styl der französischen Musiken an die Hand gegeben. Wenn ich solche also beschreiben wollte, müßte ich nur wiederholen, was ich in meiner vorigen Reise durch diese Gegenden bereits gesagt habe. Indessen kann ich nicht in Abrede seyn, und es würde einen völligen Mangel an Aufrichtigkeit verrathen, daß auf Clavierinstrumenten, und auf dem Flügel besonders, die Franzosen an Nettigkeit, Präcision und brillanter Execution, von keiner andren Nation in ganz Europa übertroffen werden; und eben so ist es blosse Billigkeit, anzumerken, daß die französische Militairmusik, nicht allein an und für sich selbst viel besser ist, sondern auch besser ausgeführt wird, als vor einigen Jahren. Ein sehr einsichtsvoller engländischer Officier, der mit mir auf der Wachtparade war, machte eben dieselbe Anmerkung in[13] Ansehung der Mannszucht, der Kleidung und des Ansehens der französischen Truppen, seit eben demselben Zeitraume. Die Mannschaft ist itzt ausgewählt, die Handgriffe verkürzt, und selbst der gemeine Soldat hat beydes, etwas Martialisches und Wohlgezogenes in seinem Wesen.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 9-14.
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