Gegenwärtiger Zustand der Musik in Deutschland, den Niederlanden und in den vereinigten Provinzen.
St. Omer.

[6] Ich muß gestehn, daß mich nach französischer Musik eben nicht sonderlich lüsterte, als ich itzt, den 6ten Jul. 1772. ans feste Land trat. Weil ich indessen einen Tag länger in St. Omer aufgehalten wurde, als ich dachte, so besuchte ich hier einige Kirchen und das Theater; nirgends aber bekam ich Etwas zu hören, das mich hätte geneigt machen können, meine Meinung von dem National-Geschmacke der Franzosen in der Musik zu ändern.

Ein von Dünkirchen hier gekommener Trupp reisender Komödianten, gab den Abend meiner Ankunft ein Trauerspiel und ein Lustspiel. Ich ging nach dem Theater, welches ich klein und schmutzig befand; das Trauerspiel war schon halb zu Ende, und dennoch war keine andere Gesellschaft in den Logen, als ein Paar engländische Familien, und etliche wenige Officiere von der Besatzung. Einem Engländer ist es unmöglich,[7] ein richtiges Urtheil von der französischen Action und Declamation zu fällen; allein diese Akteurs schienen mit ihrem Körper weit weniger verlegen zu seyn, und näherten sich dem Charakter vielmehr, den sie vorzustellen hatten, als die Akteurs auf dem englischen Theater, welche, ein Paar der Besten ausgenommen, gemeiniglich so steif und unnatürlich sind, daß sie alle Täuschung stören.

Die Cathedralkirche zu St. Omer hat eine sehr schöne sechszehnfüssige Orgel, welche eine Priester, Pater Thomas, in einem meisterhaften, aber alten Style spielt. Dieser Pater giebt sowohl vielen Engländern als auch andren Einwohnern der Stadt auf dem Clavier Unterricht. Das beträchtlichste Instrument aber, sowohl an Figur als Grösse, ist hier die Orgel in der Abtey St. Bertin. Sie ist vor fünf Jahren von einem Mechanikum vom Lande gebauet, der weder schreiben noch lesen, noch auf dem Instrumente spielen konnte, da ers fertig gemacht hatte. Ich hatte bis dahin nichts gesehen, daß so elegant und prächtig gewesen, als die Einfassung und Zierrathen dieser Orgel. Sie hat viele Register, und die Tangenten lassen sich leicht und ohne sonderliches Geräusch bewegen; sie hat ein Pedal aber keinen Schweller, oder grosse Verändrungen in den Soloregistern, auch kommt mir ihr Ton nicht so angenehm vor, als der von der Cathedralkirche. Die beste Orgel aber in diesem Theile der Welt, in Ansehung des Tones, ist ein altes Instrument in dem Kloster Clairmarais, ungefehr eine[8] Meile weit von St. Omer. Der Organist an derselben ist ein Mönch, und der an der Abtey St. Bertin ist ein Neffe und Schüler des Pater Thomas.

Auf dem Altarchore der Abtey steht ein Positiv, das nicht mehr als vier Stimmen enthält, und bey gemeinen Gelegenheiten gebraucht wird. Es ist ungefehr von eben der Art, als ich mich erinnre, in der Kirche des heil. Johannes im Lateran, zu Rom, eins gesehen und gehört zu haben welches Colista spielte.

Bey der Wachtparade auf dem grossen Marktplatze zu St. Omer bemerkte ich, daß die Hoboisten ein Serpent, als einen Unterbaß zu einer grossen Anzahl Bassons, Hörnern und Hoboen brauchten, und daß solches eine sehr gute Wirkung that.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. II]: Durch Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, Hamburg 1773 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 6-9.
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