Einleitung.

[6] Es ist etwas Sonderbarer, daß unter der Menge von Reisenden, welche das reizende Land Italien aus verschiedenen, entweder neugierigen oder gewinnsüchtigen Ursachen, besucht, und ihre gemachten Anmerkungen haben drucken lassen, sich bisher noch keiner befunden hat, der seine Absichten und Untersuchungen auf den Ursprung und Fortgang, oder den gegenwärtigen Zustand der Musik in dem Theile der Welt eingeschränkt hätte, woselbst solche mit so vielem Glücke kultivirt worden, und woher das übrige Europa nicht nur mit den besten Komponisten und musikalischen Künstlern versehen worden, sondern von dem es sogar seine Begriffe[7] vom Schönen und Vortreflichen in dieser Kunst entlehnt hat.

Es ist wohl kein einziges Gemählde, keine Statue oder kein merkwürdiges Gebäude vorhanden, die nicht beschrieben, oder eine Inscription zu finden, die nicht abgeschrieben worden, indessen daß der Conservatorien oder Musikschulen, der Opern oder Oratorien kaum beyläufig erwähnt wird: und obgleich jeder Buchladen oder jede Bibliothek eine Menge von Geschichten der Mahlerey und andrer Künste sowohl, als Lebensbeschreibungen der berühmtesten Künstler vorzuweisen hat: so hat man doch die Musik und ihre Künstler gänzlich übergangen. Dieser Umstand ist um desto unerklärbarer, in sofern gegenwärtig keine von den schönen Künsten mit so vielem Fleisse getrieben wird, oder die Italiäner in irgend einer Sache über das übrige Europa sich eines solchen Vorzugs rühmen könnte, als in ihren musikalischen Erfindungen und Ausübungen; denn weder ihre Mahler, Bildhauer,[8] Baumeister, Geschichtschreiber, Dichter noch Philosophen, des gegenwärtigen, Jahrhunderts, übertreffen ihre Zeitgenossen jenseits der Alpen soweit, um eine grosse Begierde zu erwecken, zu ihnen zu reisen und ihren Unterricht zu suchen.

Die Musik aber lebt bis auf den heutigen Tag in Italien, da schon die andern Künste eine todte Sprache reden; welche zwar freylich gelehrt und klassisch ist, aber auch weniger lieblich und nützlich für angehende Künstler, als zu Leo des X. Zeiten, als Italien einen eben so grossen Vorzug vor der übrigen Welt hatte, und deswegen eben so sehr verdiente, daß man es besuchte, als Griechenland zu den Zeiten Perikles oder Alexanders.

Zu sagen, daß die Musik über ganz Europa niemals in einem so hohen Werthe gehalten, oder so gut verstanden worden, als in unsern Tagen, das hiesse bloß etwas vorbringen, das eben[9] so unwidersprechlich ist, als die bekannte Wahrheit, daß itzt die Menschen in Europa, überhaupt genommen, gesitteter und civilisirter sind, als in irgend einer andern Periode der Geschichte der Menschheit.

Vielleicht daß finstre Weisen die Musik als eine eitle und weibischmachende Ergötzung betrachten; allein Montesquieu hat schon zu ihrer Vertheidigung gesagt: »Sie ist die einzige von allen Künsten, welche das Gemüth nicht verdirbt.«1 Der Elektricität räumt man es allgemein ein, daß sie eine unterhaltende und bewundernswürdige Erscheinung sey; man hat aber auch häufig darüber geklaget, daß sie noch niemals mit Gewißheit zu irgend einem sehr nützlichen Zwecke angewendet worden. Eben dieselbe Anmerkung, hat man ohne Zweifel, oft in Ansehung der Musik gemacht. Für den reichen und üppigen Theil der Welt ist es ein vortrefliches Zufluchtsmittel, in einer müßigen Stunde.[10] Allein, sagte der Milzsüchtige und der Mann von Geschäften, was für Nutzen bringt sie dem übrigen Menschenkindern? Hierauf kann man antworten, daß es leicht ist, (vielleicht in England mehr, als in einem andern Reiche,) die wichtigen und menschenfreundlichen Zwecke anzuzeigen, zu welchen man sie angewendet hat. Der ehrwürdigste Orden in diesem Königreiche hat ihren Beystand zu Hülfe gerufen, um die Beutel der Reichen, zur Unterstützung der dürftigen Nachkommenschaft ihrer verstorbnen Brüder zu öfnen.2 Manche Waise findet durch ihren Einfluß Beystand.3 Die Schmerzen der Gebährerinnen werden durch die Wirkung ihrer Macht gemildert, und weniger gefährlich und fürchterlich gemacht.4 Sie trägt das ihrige[11] ihrige bey, wo möglich der verwüstenden Seuche Einhalt zu thun, welche selbst die Quelle des Lebens antastet.5 Und endlich setzt sie ihre eignen Künstler in den Stand, das zu thun, wessen sich wenige andre rühmen können – ihre eigne Armen zu unterhalten, und zwar durch das vortrefliche, und schön dirigirte Institut, welches unter dem Namen: The Society for the Support of decayed Musicians and their Families.6 bekannt ist.

Die Musik ist noch immer das Vergnügen vortreflicher Prinzen, und der wohlgewählteste Zeitvertreib der gesittesten Höfe gewesen: Gegenwärtig aber ist sie dergestallt sowohl mit wichtigen und heiligen Dingen, als mit unsern vernünftigen Ergötzlichkeiten verwebt, daß es scheint, die Menschen würden gänzlich unfähig seyn, ihrer zu entbehren. Sie macht einen ansehnlichen Theil[12] Theil unsers Gottesdienstes in unsern Kirchen aus: Sie ist der militarischen Einrichtung wesentlich; und ohne Musik würden unsre Schaubühnen sehr langweilig seyn. Man setze noch hinzu, daß in einer gesitteten Nation schwerlich eine Familie seyn wird, die nicht ihre Flöte, Geige, Clavier, oder Zither habe; daß sie zur Arbeit Munterkeit giebt, die Schmerzen lindert; und dadurch der Menschheit noch wohl, thätiger wird, daß sie uns von der Grausamkeit entwöhnt, oder auch die Last der Sorgen erleichtert.

Hätten mir die Bücher, die ich bisher in nicht geringer Anzahl zu Rathe gezogen habe, die Nachrichten an die Hand gegeben, welcher ich zu der Geschichte der Musik, worauf ich so lange bedacht gewesen, benöthigt bin: so hätte ich keine Reise unternommen, die mir so viele Beschwerlichkeiten, Unkosten und Versäumung andrer Geschäfte verursachen mußte.[13]

Allein diese Bücher sind, überhaupt genommen, eins dem andern so getreulich nachgeschrieben, daß man nur zwey oder drey lesen darf, um das wesentlichste zu wissen was in so viel hunderten steht. In der Hofnung also, meiner vorhabenden Geschichte einiges Originalgepräge, oder wenigstens einen Stempel der Neuheit aufzudrücken, entschloß ich mich, meinen Durst nach Wissenschaft an der Quelle zu löschen und in Italien solche Züge zu schöpfen, welche in England nicht zu finden sind. Dort, beschloß ich, mit meinen eignen Ohren zu hören, und mit meinen eignen Augen zu sehen; und, wo möglich, nichts zu hören und nichts zu sehen als Musik. Ich hätte freylich meine Zeit sehr angenehm mit Untersuchung von Gemählden, Statuen und Gebäuden zubringen können: allein, da ich für alle diese Sachen nicht Musse genug erübrigen konnte, ohne das vornehmste Geschäfte meiner Reise zu verabsäumen; so war ich meinem Vorsatze getreu: mich von meinem Zwecke, durch keine andre Neubegierde oder[14] Forschsucht, abwendig machen zu lassen.7

Mit diesen Absichten verließ ich London im Anfang des Monats Junius 1770. Und da mein Vorsatz nicht war, daß mein Werk lokal seyn sollte: so beschloß ich, aus meinem Wege nach Italien, so viel Materialien, als möglich, zu einer Geschichte, die französische Musik betreffend, zu sammlen, und zugleich nach ihrem gegenwärtigen Zustande mich selbst zu erkundigen. Ich würde aber zugleich verwegen und ungerecht gewesen seyn, wenn ich dieses nach den wenigen Wochen hätte wagen wollen, die ich mich in Frankreich aushalten konnte, wäre ich nicht vorher[15] her schon zweymal zu Paris gewesen, zu welcher Zeit ich die öffentlichen Oerter daselbst sehr fleissig besuchte, und hätte ich nicht seit den letzten zwanzig Jahren, die Werke der besten Komponisten, und die Schriften der besten Autoren, über die Musik in diesem Reiche, beständig zugesandt erhalten.[16]

1

Esprit des Loix.

2

Beym Feast of the sons of the Clergy, oder der Kinder der Geistlichen.

3

Alle Jahre wird das Oratorium: der Meßias, für das Fündlingshospital ausgeführt.

4

Für das Spital der armen Wöchnerinnen in Brownlow street, wird jährlich ein Concert gegeben.

5

Das Concert für das Lockhospital.

6

Die Gesellschaft zur Unterhaltung zurückgekommener Musiker und ihrer Frauen und Kinder.

7

Während meiner Reise nachher, war mirs gleichwohl sehr lieb, als ich fand, daß ich meiner Liebe zur Mahlerey und Bildhauerkunst, selbst beym Aussuchen musikalischer Materialien einiges Genügen leisten konnte. Denn eben von ihnen habe ich meine Ideen und Zeichnungen der Instrumente, sowohl der Alten, als der Frühzeitigsten unter den Neuern, erworben.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. I]: durch Frankreich und Italien, Hamburg 1772 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. VI6-XVII17.
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