Gegenwärtiger Zustand der Musik in Frankreich und Italien.
Lille.

Da ich mich nirgends lange aufgehalten hatte, bis ich diesen Ort, die Hauptstadt im französischen Flandern erreichte: so machte ich hier den Anfang meiner Untersuchungen. Ich bemühete mich zuerst die Art, den gregorianischen Gesang zu singen, welcher durch ganz Frankreich in den Dom- und Stift-Kirchen üblich ist, ausfindig zu machen. Er wird öfter ohne Orgel, als mit derselben gesungen; und obgleich hier und im ganzem Königreiche in allen grossen Kirchen Orgeln sind, so finde ich doch, daß man sie, wie in unsern Pfarrkirchen nur des Sonntags und an hohen Festen gebraucht. Ich bin überzeugt, daß unsre alten Kirchengesänge und Antiphonen nicht von Tallis zur Zeit der Reformation neu gesetzt, sondern nur nach den englischen Worten eingerichtet worden; denn das Bischen Melodie, welches darin liegt, ist beynahe mit der in allen auswärtigen catholischen Kirchen einerley. Bloß des Sonntags und an Festtägen fügt man zu dem Choralgesange, (Canto fermo oder plain chant) noch mehr Stimmen hinzu; sonst singen alle im Einklange. Die Bücher,[1] woraus die Priester singen, sind durchgehends auf Pergament in gregorianischen Noten, das ist, mit den alten rautenförmigen Notenzeichen, bloß auf vier Linien und Zwischenräumen geschrieben. Um mich hievon näher zu unterrichten, machte ich mit Herr Devillers, Organisten bey der Hauptkirche zu St. Peter, einem angenehmen und in seiner Kunst geschickten Manne Bekanntschaft. Ich hatte mit ihm eine lange Unterredung über den Gebrauch des Choralgesanges, wovon er mir erzählte, daß die Chorknaben ihn nach den gregorianischen Noten erlernten, und daß keine andere bey den Geistlichen gebräuchlich wären.

Man hat in den französischen Kirchen auf beyden Seiten des Chors ein Instrument, welches ohne Zweifel seiner Gestalt wegen Serpent8 genannt wird, weil es einer sich bewegenden Schlange ähnlich sieht. Es giebt beym Singen den Ton, und man spielt den Baß darauf, wenn in verschiedenen Stimmen gesungen wird. Meistentheils wird es schlecht gespielt, doch könnte es, mit Verstande gebraucht, gute Wirkung thun. Allein so wird es gewöhnlich überblasen, und seine Begleitung ist für die Stimmen zu stark. Sonst vermischt es sich besser mit ihnen, als die Orgel, indem es den Ton verstärken oder schwächen kann, und weniger Gefahr dabey ist, daß eine schlechte Temperatur die Vollkommenheit,[2] deren die Menschenstimme allein fähig ist, unterdrücke oder zerstöre.

Die Orgel in dieser Kirche ist doppelt und sehr groß. Sie hat vier Claviere und vier und sechzig Register, und dabey, welches etwas Ausserordentliches ist, dreyzehn Reihen Pfeiffen im Gesichte. Sie ist vor etwa sechzig Jahren gebauet worden. Das Gehäuse ist artig verziert, und die Vorderpfeiffen sind, wie überhaupt hier zu Lande, weiß und von der natürlichen Farbe des Metalls; da man sie hingegen in England vergolden muß, damit sie nicht anlaufen. Ich habe durchgehends gefunden, daß man von der Orgel in Frankreich nur wenigen Gebrauch macht, selbst an den Tagen, wenn man sich ihrer noch am meisten bedient. Das Serpent erhält die Sänger im Tone.

Da eben ein Jubiläum9 war, als ich nach Lisle kam, so hoffte ich bessre Musik, als die gewöhnliche zu hören, aber ich fand mich in meiner Hoffnung betrogen.

Herrn Anneuse, Organisten an der Marien-Kirche, welcher blind ist, habe ich nicht kennen lernen. Ich wünschte auch seines Unterrichts zu[3] geniessen; denn ich habe immer gefunden, die beste Weise, von der itzigen Musik Nachricht zu erhalten, sey die, mit iztlebenden Musikern darüber zu sprechen. Gelehrte Männer und Bücher können von der alten Musik Nachricht geben. Doch kostete mich meine Methode, wenn ich keine Empfehlungsschreiben hatte, Geld, Dreistigkeit und sehr viel Mühe.

Diejenigen, welche der Mahlerey, Bildhauerey und Baukunst wegen, nach Italien reisen, thun wohl, dasjenige vorher zubesehen, was diese Künste in Frankreich hervorbringen, denn sonst werden sie so eckel werden, daß ihnen nur weniges von den französischen Werken der Kunst gefallen wird. Damit ich nicht bey meiner Zurückkunst aus Italien von eben solchen Vorurtheilen oder Empfindungen hingerissen würde, hielt ich für gut, der französischen Musik zuerst in der Hauptstadt, und sodann an den beyden äussersten Enden des Königreichs, zu Lisle und Lyon ein geneigtes Gehör zu geben. Ich lag zu Cambray still, besah die dasigen Kirchen, aber ward in der Hoffnung, daselbst bessere Musik zu hören, betrogen; denn der Gottesdienst ward ganz ohne Gesang und ohne Orgel gehalten. Man sagte mir, des Nachmittags würde gesungen werden, allein ich konnte mich nicht dabey aufhalten, und die Ideen, welche mir einige Einwohner von den Sängern machten, reitzte mich auch eben nicht: ich gieng also gerades Weges nach

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In Kircheri Musurgia T.I.p. 505. steht eine Beschreibung und Abbildung davon.

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Ein Jubiläum nennt man gewöhnlich ein Kirchenfest, welches angestellet wird, um Ablaß vom Pabste zu erhalten. Ausserdem giebt es besondere Jubelfeste in einigen Städten, wenn gewisse Feyertage zusammen fallen, Z.B. wenn Maria Verkündigung auf den stillen Freytag, oder Johannistag auf das Frohnleichnamsfest fällt. S. Encyclopedie. Art. Jubilée.

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. I]: durch Frankreich und Italien, Hamburg 1772 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 1-4.
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