Lyon.

[32] Weil dieser Ort so nahe an Italien gränzt, so hätte man natürlicher Weise schließen sollen, daß hier der musikalische Geschmack mehr italiänisches an sich genommen habe, als zu Paris; aber ich fand gerade das Gegentheil, was zu Paris schlecht ist, ist hier noch schlimmer. Auf dem Theater, welches recht artig ist, hörte ich ein abscheuliches Gesinge: inzwischen unterhielt mich eine italiänische Familie aus dem Koffeehause, welche sich gewiß in Italien nur auf der Gasse dürfte hören lassen, deren Musik aber hier sehr reitzend war. Der Vater spielte die erste Geige und zwar mit vielem Feuer, die zweyte, und das Violonschell spielten seine beyden Söhne; die Singstimme übernahmen seine[32] zwo Töchter, die eins ums andere Arien und Duetten sangen. Die Wirthinn verlangte nichts dafür, als daß man etwas verzehrte; die beyden Mädchen giengen mit einem Teller herum und sammleten was die Freygebigkeit der neuhinzugekommenen, ihnen mittheilte, allein dieß mochte, wenn man nach der Aufmercksamkeit der Zuhörer auf die Musik urtheilen soll, sehr wenig seyn; denn nie habe ich unter den geschwätzigsten alten Weibern, so ein unaufhörliches Geschwätz gehört, als die Gesellschaft, nicht die Zuhörer hier, während der schönsten Stücke die gespielt wurden, machten.

Der erste Violinnist dieser Stadt ist ein alter Venetianer, Sgr. Carminati, einer von Tartini's ältesten Schülern. Der vornehmste Clavicembalist aber ist Sgr. Leoni. Beyde sind hier lange genug gewesen, um sich nach der Musik und dem Geschmacke dieses Landes etwas umzuformen.

Ich gieng zweymahl nach der Kathedralkirche des h. Johannes, um den plain chant à la Romaine zu hören, und fand sowohl die Musik, als die Kirche so simpel und ohne allen Zierrath von Gemälden, Statuen, Harmonie und Geschmack, als ich je in einer protestantischen Kirche gefunden habe. Die Domherrn, welche hier alle Comtes genannt werden, die Canonici nebst vier und zwanzig Chorknaben, singen alle im Einklange ohne Orgel oder Bücher.[33]

Quelle:
Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch einer Musikalischen Reise. [Bd. I]: durch Frankreich und Italien, Hamburg 1772 [Nachdruck: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise. Kassel 2003], S. 32-34.
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