3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle. Der Lehrer Fr.W. Zachau.

[21] Bald nach seiner Zurückkunft von Weißenfels ging Georg Händel zu dem anerkannt tüchtigsten Musiklehrer in Halle, zu dem Organisten Zachau und besprach mit ihm seines Sohnes musikalische Lectionen. Die andern Studien hatten dabei ihren ungestörten Fortgang. Der Knabe kam rechtzeitig in die lateinische Schule und durchlief alle Klassen.

Von Friedrich Wilhelm Zachau's Compositionen ist soviel auf die Nachwelt gekommen, daß wir in den Stand gesetzt sind, seine Kunst beurtheilen zu können. Weil er der einzige eigentliche Lehrer war, den Händel gehabt hat, ist das sehr erwünscht, zur Abwehr von Irrthümern fast nothwendig, denn man stößt auf Aeußerungen, welche ihm eine höchst übertriebene Bedeutung beilegen. Als Mainwaring Händel's Verdienste abschätzte und ihn in den Chören mit Instrumentalbegleitung, überhaupt in der vollstimmigen Kirchenmusik über Alle erhaben nannte, fügte Mattheson hinzu: »Dieses hat seine Richtigkeit; es rührte aber Alles vom Zachau und vom Orgelschlagen her«1. In vielen Büchern wird seiner mit Ehren gedacht, er stand wegen seiner Kunst und vielleicht noch mehr wegen seiner Lehrgeschicklichkeit in großem Ansehen.

Was über sein Leben bekannt geworden ist, hat Walther überliefert, dessen kurze Mittheilung ich hier erneuere. »Zachau war gebohren Anno 1663 den 19. November in Leipzig, woselbst und nachgehends in Eilenburg sein Vater Stadt-Musicus gewesen, erlernete, nebst Abwartung der Schule, sowohl die Organisten- als Stadt-Pfeiffer-Kunst[21] ex fundamento; wurde Anno 1684 zum Organisten an die L. Frauen-Kirche in Halle vociret, welche function er auch, bis an seinAn. 1721 den 14. Augusti plötzlich erfolgtes Ende, mit großem Ruhm verwaltet hat, indem er nicht nur viele Kirchen- und Clavier-Stücke gesetzet, sondern auch verschiedene brave Leute, und unter solchen insonderheit den weltberühmten Capellmeister, Hrn. Hendel, gezogen.«2 Hier ist alles richtig bis auf die Angabe des Todesjahres. Zachau starb nicht 1721, sondern schon im August 1712. Bei Walther wird ein bloßer Druckfehler zu Grunde liegen, den später Dreyhaupt mit denselben Worten wiederholte3, ein neuer Beweis, daß dessen Angaben über Halle'sche Musiker nicht auf eigener Forschung beruhen. Auch die Zahl 1714 bei Gerber4 und bei Winterfeld5 bedarf der Berichtigung.

Walther's Druckfehler hat besonders in Bach's Leben eine kleine Verwüstung angerichtet, ich lege daher den Sachverhalt aus den Acten der Liebfrauenkirche kurz dar, ohne mich bei den unrichtigen Angaben der Bach'schen Biographen weiter aufzuhalten. Es handelt sich um die Zeit, wann Bach eine Berufung nach Halle erhielt, und die Umstände unter denen es geschah. Als Zachau starb, war die große Orgel dem Einsturz nahe. Der »berühmte Orgelmacher« Christoph Cuntzius baute für 6300 Thaler in drei Jahren eine neue; Bach in Weimar machte die Disposition. Diesem wurde die Stelle zuerst angetragen. Die in Aussicht stehende Musterorgel erweckte ihm Luft dazu. Gegen Ende des Jahres 1713 reiste er nach Halle, machte den Leuten seine Aufwartung, ließ sich auf den vorhandenen Orgeln hören und componirte auf »höfliches anhalten« des Hauptpastors eine Kirchencantate, vermuthlich das Stück »Ich hatte viel Bekümmerniß in meinem Herzen«6. Dann reiste er heim, bekam im Januar 1714 die Vocation nachgesandt, schickte sie indeß wieder zurück, hatte darüber noch einen kleinen Strauß mit den Kirchenältesten, aus dem er sich aber, wie zwei Briefe von ihm beweisen, aufs[22] schönste herauswickelte. Die Dienstverhältnisse sagten ihm nicht zu, besonders war das Einkommen – 140 Thlr. Sold, 24 Thlr. zur Wohnung, 171/2 Thlr. für Holz, »vor die Composition der Catechismus-Musique jedesmahl 1 Thlr.,« für jede Brautmesse auch 1 Thlr. – mindestens nicht höher als in Weimar. Sein Fürst verlieh ihm jetzt den Titel Concertmeister und behielt ihn dafür noch mehrere Jahre in seinen Diensten. Trotz dieser Erörterungen hatten die Hallenser doch so vielen Respect vor Bach's Kunst und Unparteilichkeit, daß sie ihn 1716 nebst Kuhnau aus Leipzig und Rolle aus Quedlinburg zur Revision der neuen Orgel einluden. Gottfried Kirchhoff war inzwischen (1714) Organist geworden, nachdem auch Valentin Hausmann und Melchior Hofmann, weil sie »das Fixum sehr schwach« fanden7, die Stelle ausgeschlagen hatten. Die näheren Verhandlungen nebst den Bach'schen Briefen werde ich gelegentlich an einem passenden Orte mittheilen.

Auch in Lübeck lebte um diese Zeit angeblich ein Musikus Namens Zachau, Schüler von Theile und Rathsmusikant daselbst8. Ein Vorname ist nirgends angegeben, man wäre versucht beide für eine Person zu halten, was u. A. Hawkins auch gethan hat9, wenn nicht Moller ausdrücklich bemerkte: »Petrus Zachou, Musicus & Cornicen Senatorius Lubecensis.«10 Also nicht Zachau, sondern Zachon, mithin auch kein Bruder.

Zachau hatte kaum das 30ste Lebensjahr überschritten, als ihm Händel zugewiesen wurde. Dieses muß man wohl beachten. Ein anderes ist es, ob der Lehrer mit Allem abgeschlossen hat, oder ob er selber noch rüstig an seiner Durchbildung arbeitet. Von Zachau's Werken machte Winterfeld in den Nachträgen zum letzten Bande seines Evangelischen Kirchengesanges fünf Cantaten namhaft und besprach drei davon mit Rücksicht auf die Behandlung des Chorals ein wenig. Seit der Zeit hat sich mehr finden lassen, besonders an Compositionen für die Orgel über den Kirchenchoral. Diese wollen wir uns zunächst etwas näher ansehen.


Choralbehandlungen für die Orgel.

[23] Die Sätze über sieben verschiedene Choräle hat uns der unermüdliche Lexicograph, Organist Walther zu Weimar erhalten. Dieser schrieb sich von seinen Vorgängern und Zeitgenossen zusammen, was ihm der Aufbewahrung werth schien, ordnete es nach den Chorälen und fügte schließlich seine eigenen Productionen bei. Die handschriftliche Sammlung, jetzt nebst allen übrigen Werken Zachau's in der Berliner öffentl. Bibliothek, ist dieser vergleichenden Zusammenstellung wegen ungemein lehrreich.

Das Adventslied »Nun komm, der Heiden Heiland« hat Zachau in drei Sätzen behandelt. Der erste (in der Handschrift der zweite) benutzt den ganzen Choral und setzt dazu einen bewegteren Contrapunkt. Der zweite macht aus der ersten Melodiezeile ein Fugenthema, das aber nur zweimal die vier Stimmen durchläuft. Der dritte Satz ist eine »Choralverän derung« nach damaligem Ausdruck, spielt den Gesang einmal in der Oberstimme durch und macht darüber drei Variationen, in denen sich zwar keine starke Phantasie, aber auch kein wildes Draufeinhauen kundgiebt. Wie viel reicher an Ton und Erfindung sind die Sätze von Buxtehude und Bach! Schon die kleine Aenderung, welche Bach gleich zu Anfang mit dem Thema vornimmt, setzt ein tieferes Musikgefühl voraus, als Zachau besaß.

Es folgen drei Weihnachtsgesänge. »Vom Himmel hoch da komm ich her« ist ein kleines dreistimmiges Präludium mit der Melodie in der Oberstimme und, von kleinen Vorandeutungen der Melodie in den unteren Stimmen abgesehen, freier Begleitung; scheinbar kunstlos, doch recht ansprechend. Bach und Walther gaben ihrem Vorspiel hier einen ähnlichen Bau, aber bei dem ersten waltet ein freudigerer Geist. Auch hier ist ein zweiter Satz oder Vers vorhanden: die Melodie ist in den Baß verlegt, jede Choralzeile wird von den begleitenden Stimmen vorgedeutet, doch ist die Arbeit um so viel steifer geworden, als sie künstlicher erscheint. »In dulci jubilo« kommt dem von Buxtehude durchaus nicht gleich, obwohl in der Form Verwandtschaft herrscht. Die erste Zeile des Gesanges »Wir Christenleut habn jetzund Freud« ist fugenartig behandelt[24] und recht weit ausgeführt; das Thema und dessen Umkehrung erscheinen einmal zu gleicher Zeit, aber kühne Gedanken sind nirgends zu finden.

Die erste Zeile von Simeon's Gesang »Mit Fried und Freud ich fahr dahin« veranlaßte den Tonsetzer zu einer vierstimmigen Fuge, die als solche nicht übel ist, aber keine Spur von Geist offenbart. Bei tieferem Eingehen auf diesen herrlichen Choral muß man schon die Anlage, den Bau des Ganzen für ungeeignet halten, denn nur bei Benutzung der vollen Melodie läßt sich die Versenkung in den Gedanken des Abscheidens genügend ausdrücken. Das wußte niemand besser als Bach.

Für das Pfingstfest setzte Zachau das Präludium »Komm heiliger Geist Herre Gott.« Der Choral liegt in der Oberstimme und hat einen recht schönen, ebenmäßig fortfließenden freien Contrapunkt. Buxtehude's Vorspiel ist geistreicher, funkelnder. Der kurze Satz über »Komm Gott Schöpfer heiliger Geist« hat eine ähnliche Anlage, auch hier ist durchgehends Achtelbewegung vorhanden; den Sätzen von Walther und Bach gegenüber erscheint er steif und kunstlos. Besonders Bach stellt hier wieder alle Andern in Schatten, bei reichster Mannigfaltigkeit weiß grade er das Grundgefühl der (mixolydischen) Tonart wie keiner neben ihm zur Geltung zu bringen. Bach, gleich Händel 22 Jahre jünger als Zachau, ist freilich mehr sein Nachfolger als sein Zeitgenosse, aber auch mit den eigentlichen Zeitgenossen Buxtehude Pachelbel Kuhnau und Reinken konnte sich Zachau in der Orgelkunst nicht messen.


Missa über: »Christ lag in Todesbanden.«

Diese Composition geringen Umfanges besteht aus 6 Sätzen. Für ein Meisterstück kann man sie nicht ausgeben. Schon die Benutzung des deutschen Chorals für diesen lateinischen Text scheint nicht glücklich zu sein, noch weniger die Art wie er benutzt ist; denn er zieht sich durch die verschiedenen Sätze, so daßKyrie eleison und Et in terra pax hominibus undLaudamus te benedicimus te und Quoniam tu solus sanctus alle nach derselben Melodiezeile abgesungen werden. Man kann in diesem Stücke eher eine Versteinerung des Palestrina-Styls, als eine lebendige Wiedergabe oder berechtigte[25] Weiterbildung desselben erkennen. Auch gegen den Contrapunkt an sich wäre einzuwenden musikalisch, daß er nicht klingt, technisch, daß er nicht von untadeliger Correctheit ist, und ästhetisch, daß Geist und Schönheit fehlen. Die Abschrift ist von neuerem Datum, Zachau's Urheberschaft ist also nicht sicher beglaubigt; doch sehe ich auch keinen Grund, weßhalb er diese Choralmesse nicht könnte gemacht haben. Bei den Kirchencantaten müssen wir etwas länger verweilen.


Kirchencantaten.

Das Stück in Amoll oder vielmehr in der äolischen Tonart »Herr wenn ich nur dich habe« für 4 Singstimmen, Saiteninstrumente, Orgel und Harfe scheint mir von den erhaltenen das älteste zu sein. In der Abschrift erkennt man eine jugendliche Hand und – Händel's Züge. So mag dieser etwa in seinem dreizehnten Jahre geschrieben haben, es ist die älteste Handschrift, welche wir von ihm besitzen. Bei vollkommener Ueberzeugung von den Mängeln dieser Cantate läßt sich doch wohl begreifen, daß sie unserm Händel damals werth war. Sie trägt alle Spuren einer frühen Zeit an sich, nicht eben wegen besonderer Unreife, sondern wegen ihres Styls. Die Melodiebildung, die Behandlung der Tonart, die Accordfolge, die Instrumentation, Alles zeigt noch starke Spuren von einer Weise des Tonsatzes, über die man seit 1700 schnell hinausschritt. Die Betonung der Worte bietet manche Blößen dar, so ist gleich der Anfang »Herr wenn ich nur dich – Pause – Herr wenn ich nur dich – Pause – nur dich – Pause – nur dich habe« ungeschickt genug. Indeß ist der Anfangschor bei der Abwechslung contrastirender Klangmassen einigermaßen befriedigend, besonders wenn man nicht zu genau das Einzelne und nicht zu oft das Ganze hört. Der Tonwechsel erscheint etwas hart und unbeholfen: ein Erbe aus früherer Zeit, welches aber doch nur von denen angetreten wurde, die sich nicht anders zu helfen wußten. Eine Stelle in der Mitte des Chores ist ihrer zarten, ruhend-harmonischen Haltung wegen von sehr guter Wirkung:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

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[29] Mit der Behandlung der Worte »so bist du doch Gott allezeit meines Herzens Trost« wird man hier am wenigsten einverstanden sein können; diese Versicherung, auf der die geistige, die religiöse Wirkung des ganzen Gesanges beruht, hätte doch eindringlicher, erhabener, fester ausgesprochen werden sollen. Auf den Chor folgt Einzelgesang, »Aria,« in vier Absätzen: zuerst für Cantus, dann für Baß, hierauf für Tenor, und endlich für Alt. Der Organist mußte den hervorragenden Sängern in jeder Stimme etwas geben, um die Herren Gymnasiasten bei Laune zu erhalten. Die vier Arien bilden vier Strophen, an Text und Melodie ein Mittelding zwischen dem alten deutschen Liede und der neuaufkommenden Arie. Gegen Ende der ersten Strophe fällt die Harfe ein, bei den folgenden haben die Geigen ein kleines Vorspiel, alles übrige besorgt der Orgelbaß allein. Der Ausdruck ist weich, mehr gemüthlich als gemüthvoll, der Melodie gehen noch alle Feinheiten ab, die ihr bald in Italien und in Deutschland zu Theil werden sollten. Am Schlusse der Arien folgt eine Bemerkung, derzufolge der Anfangschor in seiner ganzen Länge wiederholt wurde. Auf diese Weise ist der Einzelgesang in den Chor gleichsam eingewickelt, die ganze Cantate erhält die Gestalt der späteren Aria da capo oder (wie ich diese musikalische Form deutsch nennen werde) Rundstrophe, wobei man den Chor als den zu wiederholenden Haupttheil und die Einzelgesänge als die schwächere Mittelpartie ansehen muß. Hier haben wir das Urbild jener »schier unendlichen Cantaten und langen langen Arien,« mit denen Händel Anno 1703 dem weisen Mattheson in Hamburg seine Aufwartung machte. Daß dem Zachau diese Art des Tonsatzes besonders gefiel, zeigt ein anderes Stück von ganz gleicher Anlage:

»Ich will mich mit dir verloben,« Cdur, auch für vier Stimmen, mit Saiten Clarinen und Orgel. Dem Einzelgesange sind hier ebenfalls vier Strophen zugetheilt, der Componist hat aber diesmal drei Duette daraus gemacht: Vers 1 für Alt und Tenor, Vers 2 und 3 für Discant und Baß zu einer zweiten Melodie, Vers 4 wieder für Alt und Tenor zu der ersten Melodie. Er hat es hier wieder so einzurichten gewußt, daß keine Stimme den Vorzug hatte und keine sich über Zurücksetzung beklagen konnte. Trotz der Uebereinstimmung wird diese Cantate einige Jahre später entstanden[30] sein. Schon die Benutzung des zweistimmigen Satzes läßt solches vermuthen. Es sind zwar von jeher Duette gesetzt worden, aber in Deutschland doch erst häufiger, als die musterhaften klangreichen zweistimmigen Gesänge des Italieners Steffani zu Hannover allgemein beliebt wurden; nun legte sich Jeder auf das Duett. Für einen Tonsetzer wie Zachau, dessen Werke mehr durch äußere Anregung als durch bewußte freie Wahl ihre Gestalt empfingen, fällt ein solcher Umstand schon in's Gewicht. Die Behauptung wird noch durch andere Merkmale unterstützt. Die Melodie hat sich gegen früher außerordentlich herausgeputzt. Sangbar sind die Duette fast durchgehends, auch hat Zachau sich äußerst angelegen sein lassen, die Singstimmen unter sich und mit den Instrumenten zu verflechten. Man muß sie loben, und doch bekennen, daß er sich der Gesetze dieser Compositionsgattung nicht recht bewußt war, daher auch nicht die schöne Ordnung und reiche Fülle, welche ein gutes Duett aufweist, erlangen konnte. Er fühlte hier nicht einmal das Bedürfniß, das zweite Duett in eine andere Tonart zu verlegen, sondern hält beide in Cdur; die Armuth wird dadurch noch größer, daß auch die Melodien ihrer Gleichförmigkeit wegen nicht den geringsten Gegensatz bilden. Der vollstimmige Chor, mit welchem angefangen und geschlossen wird, ist eine nicht eben rühmliche, aber lehrreiche Arbeit. »Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit« fängt der Baß mit einem sehr ausdruckslosen Thema an. Dasselbe wird in allen vier Stimmen nach Fugenart regelrecht durchgenommen, man erwartet also eine Fuge. Aber schon nach der ersten Durchführung läßt es sich ziemlich armselig an, und Takt 16 haben wir einen vollen Schluß auf der Dominante, womit es vorläufig zu Ende ist. Zu den Worten »ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit,« die das obige noch einmal aussprechen, nur weitschweifiger, setzt gleich auf dem zweiten Viertel dieses Taktes ein neues Thema ein, dem vorigen ähnlich wie der Sinn der Worte, und es erfolgt abermals eine fugirte Durchführung. Zum Unterschiede fängt diesmal der Discant an; nach je drei Takten kommt das Thema immer wieder zum Vorschein, also erfordert die erste Durchführung 12 Takte; die zweite Durchführung kann sich auch nicht anders behelfen, denn das Thema will stets seine 3 Takte haben,[31] sind auch 12, macht also 24 Takte; hierauf hebt der Baß die dritte Durchführung an, aber die andern Stimmen haben keine Lust mehr, kaum daß sie sich herbeilassen mit ihm noch drei Takte lang in bekannten Figuren zu contrapunktiren, sind 6 Takte, macht zusammen 30; hierauf zwei Takte Brimborium, macht 32, und mit dem 33sten Takte ist auch diese Fuge vorbei. Nach einem Zwischenspiel von vier Takten setzt ein drittes Thema ein: »Ja ja, im Glauben will ich mich mit dir verloben«: in den Worten wie in der Musik wieder dasselbe, in einem Chor dreimal dasselbe! Der Alt macht den Führer, der Gefährte bemüht sich canonisch zu gehen; wegen der Engführung kommt das Ganze nur um so schneller zu Ende: es ist in 12 Takten abgethan. Die drei letzten Takte machen einen pathetischen Schluß. Nun ist wahr, auch in vollstimmigen Kirchenchören kann man lang und kunstvoll ausgeführte Fugen umgehen und doch gute Musik machen; aber wer die erste Durchführung nach der Regel vorlegt, der kündigt dadurch die ordentliche Fuge an, und auch in der Musik ist darauf zu halten, daß geleistet werde was versprochen ist. Das Ungeschick dem Texte gegenüber ist uns bei Zachau schon wiederholt aufgefallen: hier bemerken wir es wieder, und zwar in der Wahl des Textes. Solche Worte muß Niemand wählen oder annehmen,. am wenigsten für einen Chor. Noch eine andere Cantate:

»Vom Himmel kam der Engel Schaar«, in C, hat dieselbe Anlage. Im übrigen weicht diese vollstimmige Weihnachtsmusik für »4 Clarini, Tamburi, 2 Violini, 3 Violette, Fag. C.A.T.B. con il Basso Continuo« dadurch von allen andern ab, daß der Kirchenchoral »Vom Himmel hoch da komm ich her« zu Grunde gelegt ist und in allen Sätzen verändert und umschrieben wieder zum Vorschein kommt. Auch die zehn Takte Vorspiel sind aus dem Choral, aus der ersten Melodiezeile zusammengeflochten. In dem Anfangs- und Schlußchor führt die Oberstimme den Kirchengesang, den Cantus firmus, die drei unteren Singstimmen machen dazu eine aus dem Choral geschöpfte Figuration. Die zweite Zeile schließt sinnreich auf der Quinte von Adur, und von hieraus hebt sich die dritte auf folgende Weise hervor:
[32]

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

[33] Die 6 Takte sind die lichte Stelle in diesem Choralchor. Um das kleine Beispiel für vollkommen erklären zu können, hätte die zweite Stimme bei den Worten »ein Kindlein« ununterbrochen fortgeführt und in der ganzen Figuration die Achtelbewegung regelmäßiger geltend gemacht werden müssen. Freilich sind wir in diesen Dingen durch Bach verwöhnt, aber wer möchte es beklagen. Winterfeld findet den ganzen Chor, besonders die Figuration »fließend, angenehm[34] und durchaus würdig gehalten«11; meines Erachtens ist damit zuviel gesagt. Das fugenweise Vorangehen der Figuralstimmen in dem obigen Beispiel lehrt, daß unserm Zachau das eigentliche Wesen des figurirten Chorals allerdings nach einigen Seiten hin zum Verständniß gekommen war, aber ebenso unzweideutig sehen wir aus dem weiteren Verlaufe, daß er die ganze Aufgabe nicht zu bewältigen vermochte. Bei dem figurirten Choral muß der Tonsetzer Stimmen bilden die, in sich selbständig, einem gemeinsamen höheren Mittelpunkte zustreben, und dieser Mittelpunkt muß in der festen Grundmelodie des Chorals vorhanden sein, gleichviel ob sie oben in der ersten Stimme leuchtet, oder milder im Alt, oder im Tenor wie ein Held im dichten Haufen, oder in der ernsten Tiefe des Basses. Die Nebenstimmen müssen der Grundmelodie in verwandten leichteren Gängen zur Seite stehen, sie vorbilden, austönen, überall spiegeln und abbilden, durch jeden Gang ihren Gehalt offenbaren, ihre Wirkung erhöhen: so daß in dem Verein des Starken und Schwachen, des bewußt Selbständigen und des zart sich Anschmiegenden ein Tonkörper voll Leben und innerer Kraft emporwachse, fähig dem opferfreudigen Sinne der Gemeinde zum Ausdruck zu dienen. Ich sagte, nach einigen Seiten hin werde Zachau dieses erkannt haben; das volle Verständniß davon hatte er nicht. Die Schlußzeile »das liegt dort in der Krippen hart« läßt er unmittelbar nach obigem Beispiele von den Nebenstimmen vortragen ohne daß der Cantus firmus sich daran betheiligt, da es doch Gesetz ist, daß die Figuralstimmen nichts ohne ihn, nichts selbständig durchführen können; es folgt sogar ein Zwischenspiel der Instrumente von anderthalb Takten, und dann erst verkünden unter Vorgang der Melodie alle Stimmen »das liegt dort in der Krippen hart«, ganz vergessend, daß es schon einmal gesagt ist. Ferner ist es Note für Note derselbe Satz, der am Schlusse zu anderen Worten wieder vorkommt. Auch das kann nicht angehen; eine derartige Ausbreitung des Chorals hat nur Sinn unter Anregung ganz bestimmter Worte, sie setzt stets nur die eine Strophe und nur den einen Text voraus. Wer Kirchenlieder von mehreren Versen absingen will, muß bei dem einfachen Choral bleiben. Die Sologesänge[35] können wir übergehen. Nach Winterfeld wären hier Gesänge »für die einzelnen Stimmen, mit Ausschluß des Altes«12, was auf einem Versehen beruhen muß, denn der Alt hat die letzte Arie. Ueber die Entstehungszeit dieser Cantate läßt sich aus ihrer Form kein sicherer Schluß machen; doch möchte ich sie lieber kurz nach, als vor 1700 setzen. Sie erscheint als ein Versuch, auch in dieser Art der Choralvariation, die besonders um 1700 beliebt war, sich hervorzuthun.

»Das ist das ewige Leben« für den Trinitatissonntag ist von abweichender Form. Zwei Oboen, Basson, Saiten und Orgel haben die Begleitung; ein freier Chor macht den Anfang, ein Choralchor den Schluß, dazwischen stehen drei Arien in der Rundstrophe und drei Sätzchen Recitativ. Schon diese Anlage deutet auf eine spätere Zeit, wir haben hier wesentlich die Form der Bach'schen Kirchencantaten. Die Composition wird um 1710 entstanden sein. Ihre Aechtheit ist zwiefach verbürgt: durch Zachau's Handschrift, und durch eine Bemerkung in Mattheson's Critica Musica. Hier tadelt der Cantor Bokemeyer in einer Abhandlung von der Wiederholung des Textes den »sonst berühmten Zachau«, daß er mit den Anfangsworten unserer Cantate auf ungeschickte Weise verfahren sei, und Mattheson fügt hinzu: »Damit der ehrliche Zachau (Händel's Lehrmeister) Gesellschaft habe, und nicht so gar allein da stehe, soll ihm ein sonst braver Practicus hodiernus zur Seiten gesetzet werden, der repetirt nicht für die lange Weile also: Ich, ich, ich, ich hatte viel Bekümmerniß, ich hatte viel Bekümmerniß, in meinem Hertzen, in meinem Hertzen etc.«13. Er zielt auf Bach, auf die oben Seite 22 genannte und nun gedruckte Cantate, die vortrefflich, aber nicht makellos ist. Bach führte sie, eigener Bemerkung zufolge, am dritten Trinitatissonntage zu Weimar auf14; entstand sie in Halle bei der Bewerbung, so erklärt sich leicht, daß sie in Ruf kommen und sobald nach Hamburg vordringen konnte. Mattheson hat hier, in seiner Art meisterhaft, mit einem einzigen Satze Zachau getadelt und Bach getadelt und zugleich auf Händel gestichelt. Zachau's Textbehandlung[36] ist freilich nichts weniger als musterhaft: »Das, das, das, das, das ist das ewige Leben« – Pause – »das ist das ewige Leben« – wiederholt, Zwischenspiel, hierauf das Ganze in der Tonart der Dominante noch einmal wiederholt; dann »daß sie dich Vater« dreimal, »daß du allein wahrer Gott bist«, Schlußcadenz in Hmoll und drei Takte Zwischenspiel, endlich »und den du gesandt hast Jesum Christum erkennen« für sich in einer vierstimmigen Fuge durchgejagt! Daß er die Anfangsworte »das ist das ewige Leben« zum Schluß ebenso wiederholt, ist das einzige womit man einverstanden sein kann; übrigens will der ganze Chor nicht viel bedeuten. Das Folgende hat zu demselben nicht die geringste Beziehung, theilt in den gereimten Recitativen und Arien Seitenhiebe aus auf die Naturwissenschaften, die allerdings anfingen den damaligen Frommen in Halle unbequem zu werden, will das »A und O« lernen und lehren, hat in die ganz elende Sprache viele Schulausdrücke eingeflochten, und ist der Musik nach völlig theatralisch. Man sieht, Zachau war den Einwirkungen des seit 1700 allgemein verbreiteten deutschen Singspiels erlegen. Der kleine Schlußchor nimmt zu der Weise »Wie schön leuchtet der Morgenstern« einen Vers aus dem Gesangbuche »Wie bin ich doch so herzlich froh daß mein Schatz ist das A und O.« Die ersten Takte desselben, mit einer Nachahmung der Melodie in den unteren Stimmen anhebend bis im Cantus der reine Choral erscheint, stellen eine kunstvolle figurirte Behandlung in Aussicht, aber man wird bald enttäuscht, denn schon Takt 9 fällt er dem kahlen puncto contra punctum anheim. Zachau starb schon im 50sten Lebensjahre und vermochte dennoch nicht bis an sein Ende mit den deutschen Kunstgenossen gleichen Schritt zu halten.

Zwei Cantaten »Meine Seele erhebt den Herren« und »Siehe ich bin bei euch alle Tage« werden ihm von Pölchau zugeschrieben. Ich halte beide für unächt, die letztere auch für bedeutend jünger. Die Darlegung meiner Gründe würde uns hier unnütz aufhalten.

Gewissermaßen das merkwürdigste aller seiner Singstücke, »Ruhe Friede Freud und Wonne«, besprechen wir zuletzt. Es ist wieder von Zachau's Hand geschrieben, »di Zacchau« unterzeichnet er sich hier. Diese Pfingstmusik ist ziemlich reich begleitet, nach Zachau's Angabe von vier Oboen, d.h. aber von zwei Oboen Taille und[37] Basson, und in 16 Sätzen ziemlich weit ausgesponnen. Die Anlage ist einigermaßen dramatisch, was der Cantate ein besonderes Interesse verleiht. Leider ist der Text wieder so verschwommen, daß man annehmen muß, Dichter und Componist haben halb gedankenlos darauflos gearbeitet. Es scheint ihnen zwar etwas von der alten Anschauung vorzuschweben, nach welcher die Welt vor Christus das wahre geistige Glück, die Erlösung, nur durch ihn erhalten konnte, nach welcher besonders die Frommen in Israel seiner beständig harrten, auch zuletzt von ihm aus der Hölle gerissen wurden; aber ernstlich hat sich der Textmacher nicht darauf eingelassen, sonst würde er gefunden haben, daß sich der Text für Ostern, für den Herrn Christum, und nicht für den heil. Geist eignet. Zachau sah bloß, ob in dem Gereime einige knallende opernmäßige Gegensätze vorhanden waren, und als er diese fand, ging er ohne weiteres an die Composition. Auf die Instrumental-»Sonata« folgt ein simpler Gesang für den ersten Tenor, den ich als Probe einer Zachau'schen Aria mittheile:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

[38] Dieser Tenor soll den König David vorstellen, wie aus dem Folgenden hervorgeht. Man weiß aber nicht, ob der Bassist, der unmittelbar hierauf »Ach und Weh... o ihr Berge fallt auf mich etc.« schreit, auch im Namen einer bestimmten Person fungirt oder nur eingeführt ist um David zu der Versicherung Anlaß zu geben »Welt und Hölle mögen trauren, ich will dennoch freudig seyn«. Aber


Sichrer David freustu dich,

bist du nicht in Sünd empfangen

und was hastu seit der Zeit

wider deinen Gott begangen?
[39]

ruft ihm ein Chor zu, hinweisend auf das schon erhobene feurige Schwert Gottes. Es ist eine versuchende Stimme, die ihm den freudigen Muth rauben und seine Seele zur Wüste machen will, damit die bösen Geister leicht einziehen können. Solches gelingt auch einigermaßen, bis ein Engel (Alt) die »betrübte Höllen Nacht«, die »verdammten Trauergeister« verscheucht. Dem David ruft er tröstliche Worte zu:


David wisse, Gottes Macht

hält in Acht

deine Seele, Leib und Leben,

Jesus, der dein Freudenmeister,

ist bereit

seine Gnade dir zu geben;


worauf dieser den »wehrten Freudengeist« in einer Arie besingt, die von den Einzelgesängen am breitesten ausgeführt ist und auch durch eine feste Form, die Rundstrophe, sich von allen übrigen vortheilhaft abhebt. Nach einigen Worten des Engels, der aber als solcher nirgends ausdrücklich genannt wird, folgt der verhältnißmäßig lange Schlußchor. Bei diesem tritt uns wieder die gedankenlose Behandlung des Textes störend entgegen. Die Worte »Lob und Preis und Dank und Ehre« 3/2 Takt füllen in steter Wiederholung fünf Seiten ohne daß etwas anderes dazu kommt, erst Seite 6 beim Taktwechsel geht es weiter »sei dir wehrter Heilger Geist.« Im Verfolg wird der heil. Geist gebeten, Hülfe und Ruhe zu schaffen »wenn die Wellen an dem Schiff der wahren Kirche mit gehäuften Fluten schwellen«, sodann wird der Lobgesang in die Anfangstöne zurückgeleitet und damit der Beschluß gemacht. Ohne Zweifel war es für damalige Hörer ein klangreiches und erbauliches oder, wie man sich auszudrücken pflegte, geistlich ergötzliches Tonstück; für uns ist es eine entsetzlich pietistische Musik. In den andern Cantaten machte Zachau nur von vier Singstimmen Gebrauch, hier sind deren sechs angespannt. Besondere Kunst ist in ihrer Behandlung nicht zu bemerken, es läuft vielmehr auf bloße harmonische Ausfüllung hinaus, und bei einer zwölf Takte fortgehenden Imitation in der Mitte des Chores stehen ihm zwei davon entschieden im Wege. Fugen sind in der ganzen langen Cantate nicht anzutreffen, ein Zeichen daß diese keineswegs sein beständiges Morgen- und Abendbrod bildeten, wie die Händel'schen[40] Biographen, die nie eine Note von Zachau sahen, uns möchten glauben machen; indeß wechseln kleine Nachahmungen ganz richtig mit einfach harmonisch gehaltenen Stellen. Die meisten Sätze dieser Cantate tragen das formlose Gepräge, welches die deutsche Musik von 1670–1710 überhaupt kennzeichnet; im übrigen spricht ebenfalls der Text dafür, daß sie in die nächsten Jahre nach 1700 zu verlegen ist, wo man, wie wir weiterhin sehen werden, sich auch in Hamburg an ähnlichen geistlichen Musikdramen versuchte. Große Formen, die das ganze Tonstück gleichsam in Heft und Band bringen, fehlten der Musik dieser Zeiten noch sehr, am meisten der Vocalmusik und wieder am meisten in Deutschland, da man die Formen der Schütz'schen Tonsätze gänzlich Preis gab. In der Kette derjenigen zahlreichen Compositionen, welche dieser Uebergangszeit angehören und dem Neuen und Besseren zustreben, bilden Zachau's Cantaten immerhin beachtenswerthe und für die musikalische Jugend anregende Versuche, aber eine selbständige Bedeutung haben sie niemals gehabt. Zachau ist kein Tondichter, er ist Musikus in einseitiger Beziehung. Wir sehen auch, wie er nach und nach mit Vorliebe der anti-contrapunktischen, theatralisch melodiösen Musik sich zuneigt. Diese entsprach allerdings seiner Natur am meisten; das Tiefe und Erhabene faßte er selten recht, dagegen weiß er die Töne weltlicher Beweglichkeit, angenehmer, leichter, so zu sagen sentimentaler Melodie ziemlich zu treffen. Freilich ist das, was er bietet, nicht der wahre Gesang, es sind Organisten-Melodien: aber welcher deutsche Organist konnte sich rühmen den wahren Gesang zu kennen?

Die genannten Werke erschöpfen die Zahl derjenigen Compositionen, die mir von Zachau zugänglich waren. Besonders über seine im eigentlichen Sinne so zu nennende gemein-kirchliche Wirksamkeit war nichts zu finden, weder an Nachrichten noch an Choralbüchern; nur vermuthen können wir, er vornämlich habe zu den »erfahrenen Musicis« gehört, deren Beihülfe Freylinghausen, der Sänger der Halle'schen Pietisten, 1710 bei der 5. Auflage seines Gesangbuches dankbar anerkennt15.

Solcher Art also sind die Compositionen des Mannes, bei dem[41] Händel in die Schule gehen sollte. Man wird nun auch zu beurtheilen im Stande sein, was Zachau ihm aus eigenem Vermögen beibringen, worin er ihm als Componist Vorbild werden konnte. Beider Naturen waren grundverschieden; doch trafen sie sich in der glücklichen Zeit, wo Zachau noch frisch und Händel sich seiner abweichenden Art noch nicht bewußt war. Wer im Hinblick auf obige Compositionen den Nutzen der Zachau'schen Unterweisung nicht besonders hoch anschlagen möchte, der bedenke, daß er als Lehrer mancherlei Vorzüge kann besessen haben, die sich aus seiner Musik nicht herauslesen lassen. Konnte er sich weder für einen fruchtbaren noch für einen originellen Tonsetzer halten, so lag es nahe, den Schüler so bald als möglich von seinen eigenen Exempeln weg zu denen anderer Meister zu führen. Daß er von den verschiedenen Satzarten Nachricht zu geben und Muster vorzulegen wußte, zeigen seine eigenen Versuche, und mehr war nicht nöthig. Wir bleiben also mit gutem Grunde bei der allgemeinen Annahme, Händel habe in ihm einen geschickten treuen und liebevollen Präceptor gefunden. Zachau's Vocalwerke zeigen allerdings, wie viel Händel noch zu lernen hatte, als er seine Schule verließ, und wie viel er rein aus eigenem Antriebe gelernt hat. Für Orgel und Clavier hatte er treffliche Muster, zum Theil an Zachau selber, aber das Beste, das Eigentliche fehlte ihm noch, als dieser ihn für reif erklärte. Wäre ihm hier nicht sein ältester bester Lehrer, der mächtige Genius der ihm schon im Flügelkleide über das Machtgebot des Vaters unversehrt hinweghalf, beigesprungen, so würde er zwar die Bahnen der deutschen Organisten mit Ruhm gewandelt, aber nimmer sich selber in der Vergeistigung des Textes und im wahren Gesange eine neue Bahn gebrochen haben. Sein dankbares Gemüth und sein edler großer Sinn ließen es nicht zu, daß er über Zachau anders als lobend sich äußerte, obwohl er besser als wir alle den beschränkten Standpunkt des Mannes erkannte; und der Respect vor Händel's Lobspruch veranlaßte namentlich in England den gründlichen Irrthum, Zachau sei ein besonderer Verehrer des Contrapunkts, ein ruhmwürdiger Stammhalter der »alten Schule« gewesen.

Was der Lehrer an in- und ausländischen Musikalien besaß, wurde bei passender Gelegenheit hervorgesucht. Er zeigte dem kleinen[42] Händel die mannigfaltigen Schreibarten verschiedener Völker nebst eines jeden Verfassers Vorzügen und Mängeln, so viel er davon verstand, und war für den erpichten Schüler natürlich ein Orakel. Rare Sachen wurden abgeschrieben, damit sich durch anhaltende Betrachtung deren Vortrefflichkeit noch besser einpräge. Eins der so entstandenen Musikbücher, datirt 1698 und mit »G.F.H.« bezeichnet, hat Händel lebenslang aufbewahrt. Es enthielt verschiedene Arien, Chöre, Capricci, Fugen und andere Musikstücke angeblich von Zachau, Alberti [Heinrich Albert], Froberger, Krieger, Kerl, Ebner, Strunch [Adam Strunck] und wohl noch von andern deutschen Meistern. Nach Händel's Tode blieb das Buch in den Händen seines Gehülfen Smith, in dessen Familie bei Lady Rivers es sich noch befand als die Anecdotes gedruckt wurden16. Aber als dieser Smith'sche Nachlaß 1856 in Victor Schölcher's Besitz gelangte, war die merkwürdige Reliquie nicht mehr dabei17. Mit dem Abschreiben und Untersuchen fremder Erzeugnisse wechselten eigene Ausarbeitungen über gegebene Themen. Aufzeichnungen freier Erfindungen kamen gar bald hinzu. Orgel und Clavier ruhten nimmer, auch Oboe, Violine und so nach und nach das ganze Orchester wurde in freien Stunden zur Hand genommen. Durch solche beständige Arbeit und bei seinem Geiste gewann Händel so unglaublich schnell jene grundfeste Sicherheit und reife Erfahrung in seiner Kunst, die viel mehr zu bewundern ist, als das frühzeitige Musiciren und Componiren. Denn in letzterer Hinsicht fand er unter seinen Zeitgenossen musikalische Talente, die ihm nichts nachgaben, in der inneren Reise hatte er seines Gleichen nicht, selbst Bach, an Jahren gleich, entwickelte sich langsamer.

Das Componiren ging ihm schnell von der Hand. Orgelstücke und Kirchencantaten waren das Gewöhnliche, auch mußte Woche für Woche etwas Neues aufgetragen werden. Von diesen frühesten Cantaten ist noch nichts wieder zum Vorschein gekommen. Dagegen fand der Graf von Marchmont (Lord Polwarth) auf seinen Reisen durch Deutschland eine kleine Sammlung dreistimmiger Sonaten[43] für zwei Oboen und Baß, sechs Stück, die Händel im zehnten Jahre verfaßte, und verehrte sie seinem Flötenlehrer, dem berühmten Weidemann, einem Mitgliede des Händel'schen Orchesters. Weidemann rückte gelegentlich damit hervor und zeigte sie Händel, der sie mit Heiterkeit ansah. Lachend sagte er: »Ich componirte damals wie der Teufel, am meisten für die Oboe die mein Lieblingsinstrument war.«18 Die Oboe kann also wohl nicht, wie Winterfeld meint, erst »später Händel's Lieblingsinstrument« geworden sein.19 Diese Erstlinge kamen hernach in die königliche Sammlung, indeß war Burney der erste und letzte der sie dort sah; sie sind durch Händel's Aeußerung hinreichend charakterisirt. Verschollen ist mit den übrigen auch die Kunde von mancherlei närrischen Umständen, unter denen sie vor die Oeffentlichkeit gelangt sein werden. Hier ist der Dichtung ein freier Spielraum und bei Kenntniß der damaligen deutschen Verhältnisse auch ein außerordentlich reicher Stoff geboten. Indeß, wir haben die Selbstbekenntnisse des nur vier Jahre älteren Telemann, die, was Unterhaltung anlangt, keinem Roman nachstehen, ein treues Bild der Zeit geben und wegen ihrer merkwürdigen Verbindung mit Händel's Leben uns hier doppelt willkommen sein müssen. Ich gebe die Erzählung, die schon wegen eines solchen Componisten selbständigen Werth hat, unverkürzt, sie wird uns unvermuthet auf Händel zurückleiten.

»Ich – Georg Philipp Telemann – bin in Magdeburg 1681 den 14. Märtz gebohren, und den 17ten darauf Evangelisch-Lutherisch getauft worden. Mein Vater, Henricus, war Prediger daselbst an der Kirche zum H. Geist, und starb 1685 den 17. Jenner, als er kaum 39 Jahr erlebet; ich aber noch nicht das vierte erreichet hatte. Meine Mutter, Maria, stammte gleichfalls von einem Pastore aus Altendorff, Johann Haltmeyer, her, und verblich 1710.

In den kleinern Schulen lernte ich das gewöhnliche, nemlich Lesen, Schreiben, den Catechismum und etwas Latein; ergriff aber[44] auch zuletzt die Violine, Flöte und Cither, womit ich die Nachbarn belustigte, ohne zu wissen, ob Noten in der Welt wären. Die große altstädter-Schule, so ich im zehnten Jahre betrat, verschaffte mir die höhere Unterweisung, vom Cantore, Hrn. Benedicto Christiani, biß in die oberste Classe des Hrn. Rectoris, Anton Werner Cuno, endlich auch diejenige des Hrn.N. Müllers, Rectoris am Dom, welcher mir die erste Liebe zur deutschen Dichtkunst einpflantzete. Gesamte Lehrer aber waren mit meinem Fleisse, oder vielmehr mit meiner Fähigkeit bald zu fassen, sehr zufrieden, und gaben mir das Zeugniß, daß ich im Lateinischen, besonders aber im Griechischen, einen guten Grund geleget hatte. Allein, was vergisst man nicht ohne Uebung.

In der Musik hatte ich, binnen wenig Wochen so viel begriffen, daß der Cantor mich, an seiner Statt, die Singestunden halten hieß, ob gleich meine Untergebne weit über mir hervorrageten. Während dieser Zeit componirte er; so bald er aber den Rücken wandte, besahe ich seine Partituren, und fand immer etwas darin, so mich ergetzte; warum aber? das war mir verborgen. Gnug, ich wurde dadurch veranlasset, allerhand Musik zusammen zu raffen, die ich in Partituren schrieb, und emsig in selbigen laß, mithin immer mehr Licht bekam: biß ich endlich, mit Ehren zu melden, selbst anfing zu componiren; aber doch in aller Stille.

Inzwischen wuste ich, mit Unterschreibung eines erdichteten Nahmens, mein Machwerk in des Cantoris und Präfecti20 Hände zu spielen, da ich es denn theils in der Kirche, theils auf der Gasse, und auch zugleich den neuen Verfasser aufs beste loben hörte. Dies machte mich so kühn, daß ich eine ertappte hamburger Oper, Sigismundus21, etwa im zwölfften Jahre meines Alters, in die Musik setzte, welche auch auf einer errichteten Bühne toll genug abgesungen wurde, und wobei ich selbst meinen Held ziemlich trotzig vorstellte. Ich mögte diese Musik wohl itzt sehen, wenn mir der Kopf nicht recht stehet.[45]

Bevor ich zu solchem Vermögen gelanget war, ließ ich mich auf dem Clavier unterrichten; gerieth aber zum Unglück an einen Organisten, der mich mit der deutschen Tabulatur erschreckte, die er eben so steiff spielte, wie vieleicht sein Großvater gethan, von dem er sie geerbet hatte. In meinem Kopffe spuckten schon muntrere Töngens, als ich hier hörte. Also schied ich, nach einer vierzehntägigen Marter, von ihm; und nach der Zeit habe ich, durch Unterweisung, in der Musik nichts mehr gelernet.

Ach! aber, welch ein Ungewitter zog ich mir durch besagte Oper über den Hals! die Musik-Feinde kamen mit Schaaren zu meiner Mutter, und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltäntzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. werden, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, gethan! mir wurden Noten, Instrumente, und mit ihnen das halbe Leben genommen. Damit ich aber desto mehr davon abgezogen würde, so ward beschlossen, mich nach Zellerfeld auf dem Hartze in die Schule zu schicken: weil meine Notentyrannen vieleicht glaubten, hinterm Blockberge duldeten die Hexen keine Musik.

Ich ging, etwa 13 Jahr alt, mit einem Empfehlungs-Briefe an den Superintendenten, Hr. Caspar Calvör, begleitet, der mich zum Studiren sorgfältig anhalten sollte, welches auch geschahe, und ich nahm in selbigem, besonders in der Feldmessung, merklich zu; aber auch diese hat das Schicksal des vorhingedachten Griechischen gehabt.

Nach einigem Zeitverlaufe sollte ein Bergfest gefeiret werden, und der Cantor zu einer ihm gegebenen Poesie die Musik verfertigen; allein er lag am Podagra. Immittelst hatte ich einem meiner Schulgesellen vertrauet, daß ich Tone zusammen zu setzen wüste. Dieser eröffnete es jenem; ich wurde gerufen, und übernahm, auf dessen Ansuchen, solche Verrichtung. Der Tag der Aufführung nahete heran; mein Cantor aber mußte annoch das Bette hüten: also kam das Tactgeben an mich, als an eine Figur von 4 Fuß und etlichen Zollen, welcher man ein Bänckgen untersetzte, damit sie gesehen werden könnte. Die Musik war gut besetzet, und klang. Die treuhertzigen Bergleute, mehr durch meine Gestalt, als durch die Harmonie gerührt, wollten mir, nach geendigtem Gottesdienste, ihre Liebe bezeugen,[46] und brachten mich hauffenweise nach meiner Wohnung; einer aber von ihnen trug mich auf dem Arme dahin, wobey ich mich mit ihrem gewöhnlichen Lobspruche: Du kleiner, artiger Boß! zum öfftern beehren hörte.

Mein lateinischer Hüter, der brave Hr. Calvör, ließ mich zu sich fordern, eröffnete sein Vergnügen über meine Musik, und ermahnte mich, ferner darin fortzufahren; zeigte mir auch die Verwandtschafft der Meskunst mit der Musik: wie denn seine Schrifften hernach gewiesen haben, daß er in beyden ein gantzer Meister gewesen sey. Dies schien das meiner Mutter gegebene Versprechen aufzuheben, und verleitete mich zu einem unschuldigen Ungehorsam: also, daß ich das Clavier wieder hervorsuchte, und im Generalbasse zu grübeln anfing, wovon ich mir eigne Regeln niederschrieb. Denn, ich wuste noch nicht, daß Bücher davon wären, und den Organisten wollte ich auch nicht fragen, weil der magdeburgische, fürchterlichen Andenckens, mir noch unvergessen war. Daneben wurden Violine und Flöte auch nicht hintangesetzt, zur Kirche aber verfertigte ich fast alle Sonntage ein Stück: fürs Chor Moteten; und für den Stadt-Musikanten allerhand Bratensymphonien.

Nach einem vierjährigen Auffenthalt allhier begehrte des hildesheimischen damahls-berühmten Gymnasii Director, Hr. Mag. Loßius, mich dahin, welches mir auch von Magdeburg aus bewilliget ward, wohin mein mehrgedachter Gönner mogte geschrieben haben. Der Hr. Loßius pflegte jährlich ein oder zwey Schauspiele poetisch zu verfassen und aufzuführen, also, daß die Recitative geredet, die Arien aber gesungen wurden; und zu diesen muste ich die Musik setzen, die vieleicht bloß darum gefiel, weil ich immer nur noch ein Stück vom menschlichen Cörper war.

Die Schulstunden verabsäumte ich nicht, es müßte denn die Logic seyn, mit deren Barbara, Celarent, ich mich nicht vertragen konnte. Genug, ich stieg, unter einer Anzahl von 150 Schülern, die die erste Classe ausmachten, biß zum dritten Platze von oben.

Die Sätze von Steffani und Rosenmüller, von Corelli und Caldara erwählte ich mir hier zu Mustern, um meine künfftige Kirchen- und Instrumental-Musik darnach einzurichten, in welchen beiden Gattungen denn kein Tag ohne Linie vorbey ging. Die zwo[47] benachbarten Capellen, zu Hanover und Braunschweig [-Wolfenbüttel], die ich bey besondern Festen, bey allen Messen, und sonst mehrmals besuchte, gaben mir Gelegenheit, dort die französische Schreibart, und hier die theatralische, bey beiden aber überhaupt die italiänische näher kennen, und unterscheiden zu lernen. Auch brachten mir, die hie und dort befindliche, trefliche Instrumentenspieler die Begierde bey, auf den meinigen stärcker zu werden; worin ich aber weiter gegangen wäre, wenn nicht ein zu hefftiges Feuer mich angetrieben hätte, ausser Clavier, Violine und Flöte, mich annoch mit dem Hoboe, der Traverse, dem Schalümo, der Gambe etc. biß auf den Contrabaß und die Quint-Posaune, bekannt zu machen.

Der damahlige jesuitische Musikdirector in der römischcatholischen Kirche, Pater Crispus, dem ich öffters, bey seinen Aufführungen, zum Scherwentzel im Singen und Spielen gedienet, hatte mich lieb gewonnen, und trat, nachdem er durch brünstige Ueberredungen an meiner Wiederkehr zum Schoosse seiner Kirche vergebens gearbeitet, mir dennoch, aus danckbarem Gemüthe, das godehardiner Kloster, eines von den wichtigsten daselbst, ab, wo ich alles mit Evangelischen bestellete, deutsche Zwischencantaten einführte, die nicht selten Religionsstreitigkeiten enthielten, und alles das vermied, was der unsrigen anstößig seyn konnte: wie ich denn auch zu dieser Verwaltung die Einwilligung des sonst eifrigen Superintendenten, Hrn. D. Johann RiemersA1, erhielt.

Endlich ward ich der Manteljahre satt, und sehnte mich nach einer hohen Schule, wozu ich Leipzig erkiesete. Ich reisete nach meiner Vaterstadt, um hiezu das benöthigte in Ordnung zu bringen. Ein veranstaltetes Examen brachte den Ausspruch zu Wege, daß ich ein Jurist werden, und der Musik gäntzlich absagen sollte. Jenes war ohne dies meine Absicht; und zu diesem bequemte ich mich ohne allen Widerspruch, mit dem festen Vorsatze, auf einen geheimen Rath loß zu studiren: hinterließ auch meine gantze musikalische Haushaltung,[48] und begab mich 1701 nach Leipzig, da ich unterwegens in Halle, durch die Bekanntschaft mit dem damahls schon wichtigen Hrn. Georg Fried. Händel, beynahe wieder Notengifft eingesogen hätte. Allein ich hielt fest, und nahm meine vorige Gedancken wieder mit auf den Weg. Ich langte an, und kam am schwartzen Brete mit einem ansehnlichen Studioso überein, dessen Stubenpürsch zu werden. Mein Reisegeräthe ward geholet; aber wie klopffte mir das Hertz, als ich Wände und Winckel der Stube mit musikalischen Instrumenten versehen fand! mir wurde alle Abend was vorgemusiciret, welches ich bewunderte; ob ich es gleich selbst weit besser konnte.

Ich fing indes meine Collegia an, und hörte bey dreien Professorn und Doctorn, als beym ältern Hrn. Otto Menken, und bey Hrn. Andreas Mylius Juridica; bey Hrn.N. Weidling die Rednerkunst, und bey Hrn. Magister N. Calvisius die Philosophie.

Mittlerweile kömt mein Stubenpürsch einst über meinen Coffre, und findet den von mir componirten sechsten Psalm, der, ich weiß nicht wie, unter mein Leinenzeug gerathen war. Ich verständigte ihn meines Vorhabens, welches er billigte; bat sich aber den Psalm aus, um ihn am nähesten Sonntage in St. Thomaskirche musiciren zu lassen. Der damahlige Bürgermeister und geheime Rath, Hr.D. Romanus, findet Geschmack daran, und beredet mich, alle 14 Tage ein Stück für besagte Kirche zu setzen; wogegen ich mit einem erklecklichen Legat versehen wurde, ohne die Hoffnung, so man mir zu grössern Vortheilen machte: doch ging dessen fernerer Rath dahin, daß ich die andern Studien nicht niederlegen sollte.

Itzo fiel mir meine Mutter, deren Befehle ich ehrete, wieder ein, eben als ich von ihr einen neuen Geldwechsel empfing. Ich schickte solchen wieder zurück, meldete meine übrigen Umstände, und bat um Aenderung ihres Willens, in Ansehung der Musik. Ihr Seegen zu meiner neuen Arbeit erfolgte: und nun war ich auf der einen Achsel wieder ein Musikus.

Bald darauf gewann ich die Direction über die Opern, deren ich insgesamt, auch noch von Sorau und Franckfurt aus, etliche und zwantzig, und zu vielen davon ebenfalls die Verse, gemacht habe. Für den weissenfelsischen Hof verfertigte ich etwa vier Opern, und[49] richtete endlich in Leipzig das noch [Anno 1740] stehende Musikcollegium an.

Die Orgel in der neuen Kirche wurde fertig, und ich darüber, als Organist, wie auch zum Musikdirectore bestallet. Jene habe nur bey der Einweihung berühret, hernach aber solche verschiedenen Studiosis unter die Hände gegeben, die sich darum zanckten. Die Feder des vortreflichen Hn. Johann Kuhnau diente mir hier zur Nachfolge in Fugen und Contrapuncten; in melodischen Sätzen aber, und deren Untersuchung, hatten Händel und ich, bey öfftern Besuchen auf beiden Seiten, wie auch schrifftlich, eine stete Beschäftigung.«22

So sind wir denn auf dem Gange durch das Jugendleben eines Andern wieder bei unserm Helden angelangt. Obwohl erst sechzehn Jahre alt, steht er da als eine für Stadt und Land wichtige Autorität, an die jener muntere zwanzigjährige Jüngling sich anlehnen konnte. Mattheson mochte dem »lieben Telemann« nicht gern berichtigend in die Rede fallen, wäre es ein anderer gewesen, so würde er gleich beigedruckt haben, was er später in sein Handexemplar schrieb: »Händel war damals und lange hernach ein Fremdling in der Melodie; wußte hingegen von Fugen und Contrapunkten viel mehr, als Kuhnau.« Obgleich er die Versicherung wegen Händel's Unbekanntschaft mit der Melodie noch öfter wiederholt, hat Telemann doch Recht. Was für eine Art von Melodie gemeint war, erklärt Mattheson wider Willen selber, wenn er im Vollk. Capellmeister bei der Verhandlung über Fugen und Fugenmänner Kuhnau und Händel zusammenbringt, und nachdem der erste abgethan ist, also fortfährt: »Ein paar Proben aus Händel's Suites pour le Clavecin dürfften hier nicht undienlich seyn, indem doch ein gantz andrer Geist daraus hervorleuchtet, und zwar ein solcher, der alle Auswege der Harmonie dergestalt kennet und besitzet, daß er nur damit zu schertzen oder zu spielen scheinet, wenns andern arbeitsam vorkömmt.«23 Auf diese »muntreren Töngens«, wie Telemann bekennt, oder in Händel's Sinne gesprochen auf diesen »anderen Geist«, auf die Gewinnung[50] eines völlig freien und rein musikalischen Ausdruckes waren ihre gemeinsamen Untersuchungen gerichtet.

Der vielseitig gebildete, in allen Satteln eingerittene Telemann wird uns noch öfter begegnen. Er hat der Masse nach allein ebensoviel gesetzt, als Bach und Händel zusammen. Bei seinen Zeitgenossen stand er in größtem Ansehen: erst als er 1723 es ablehnte, Cantor zu St. Thomas in Leipzig und damit Kuhnau's Nachfolger zu werden, wurde der große Bach nebst drei andern zur Probe zugelassen! Daß er durch seine zweite Heirath 1714 zu Frankfurt mit der ältesten Tochter (Maria Catharina) des dortigen Rathskornschreibers Andreas Textor24 in den Göthe'schen Stammbaum hineingewachsen ist, wird unsern Göthe-Scholiasten neu sein. Von Händel sprach er bis in sein hohes Alter mit Verständniß und Begeisterung. Eschenburg25 hörte ihn auch noch oft mit Vergnügen von dieser Jugendfreundschaft erzählen. Und Händel seinerseits pflegte zu sagen, Telemann setze ein achtstimmiges Kirchenstück mit derselben Geschwindigkeit auf, mit der ein Anderer einen Brief schreibe – was Hawkins ermuthigte, ihn kurzum den größten deutschen Kirchencomponisten zu nennen.26

Händel war zu dieser Zeit Zachau's Unterweisung schon entwachsen. Sein Lehrer hatte ihn wirklich vielfach gefördert, hatte ihm nicht, wie der des Telemann, die »alte Leier« verleidet; auch wurden seine Jünglingsjahre nicht in gleichem Maße durch allerlei Pläne hin und her geschaukelt: so eben war es gut für seinen ernsteren Geist, wenn dieser, wie innerer Trieb es heischte, durchaus stetig und unaufhaltsam zur Vollkommenheit aufsteigen sollte. Dabei wurde ihm sowenig als einem Andern erspart, gelegentlich versuchsweise dies und das zu unternehmen, um sich die passende äußere Stellung in der Welt auszuwirken. Einen Ausflug hatte er schon gemacht, nämlich nach der Hauptstadt. Berlin mußte für eine erste Kunstreise von Halle aus in mehrfacher Beziehung der geeignetste Ort sein. Die Churfürstin Sophia Charlotte, Prinzessin von Hannover und[51] Schülerin von Steffani, wegen ihrer metaphysischen Untersuchungen mit Leibnitz die philosophische Königin genannt, konnte sich mit manchem Capellmeister messen. Durch sie kam die Musik am preußischen Hofe schnell in die Mode, nachdem sie dort fast ein Jahrhundert hindurch wenig beachtet war. Die Churfürstin, seit 1701 Königin, pflegte vom Clavier aus die Concerte und Opern zu dirigiren, während Prinzen und Prinzessinnen mit sangen, spielten und tanzten. Das Orchester war großentheils mit Capell- und Concertmeistern aus aller Herren Ländern besetzt27. An sicher begründete Kunstleistungen ist dabei wohl kaum zu denken: es waren vorschnell gezeitigte Blüthen, als die ernste Kriegszeit des großen Churfürsten so eben vorüber war, die daher auch leicht welkten und hinfielen sowie Sophie Charlotte starb und mit König Friedrich Wilhelm I. das sparsamere Philisterregiment begann. Musikalische Virtuosen fanden dort eine warme Aufnahme, ohne Ansehen der Nationen, doch würde man von dem Knaben Händel, wenn er aus Italien gekommen wäre, sicherlich noch mehr Aufhebens gemacht haben.

Nach Mainwaring, der hier wieder einen mehr geschmückten als historisch treuen Bericht vorlegt, war Händel 1698 in Berlin; es muß aber schon 1696, im zwölften Jahre seines Alters gewesen sein, wenn die übrigen Umstände passen sollen. Ein Freund des Vaters führte ihn am dortigen Hofe ein. Man fand sein Clavierspiel bewundernswerth, nicht bloß in Betracht seiner Jahre. Unter den Musikern standen die Italiener an Zahl, mindestens an Bedeutung obenan, von denen uns hier nur Giovanni Bononcini und Attilio Ariosti angehen. Es hat sich noch nicht urkundlich nachweisen lassen, daß sie schon 1696 in Berlin waren28, doch müssen wir solches annehmen bis das Gegentheil erwiesen ist. Giovanni Bononcini soll in der Bande der beste Componist und Pater Attilio der beste Clavierspieler gewesen sein. Ich bemerke aber, daß Giovanni's älterer Bruder Antonio auch mit dabei war, und daß dieser, nach den erhaltenen Werken zu urtheilen, seinem Bruder mindestens die[52] Stange halten konnte; in England war er niemals ordentlich bekannt, daher thut Mainwaring, der immer nur von Hörensagen urtheilte, als ob er gar nicht in der Welt gewesen. Pater Attilio, ein herzlich gutmüthiger Mann, seinem Stande nach ein Priester, soll den kleinen Händel so lieb gewonnen haben, daß er sich stundenlang von ihm vorspielen ließ, wobei er ihn mitunter auf dem Schooße hatte und ihm manchen lehrreichen Wink ertheilte. Für solche Güte blieb ihm Händel lange dankbar. Ganz anders benahm sich der hochfahrende Gio. Bononcini. Er hörte, Händel sei an Jahren ein Kind, also hielt er ihn auch in der Kunst dafür, auf nähere Prüfung ließ er sich nicht ein. Als er nun doch tagtäglich zu seinem Aerger vernehmen mußte, wie seine Collegen des Kindes Fähigkeiten, namentlich im Generalbaß, herausstrichen, ersann er eine exemplarische Probe, setzte eine chromatische Cantate mit einem Grundbaß für das Clavier und legte sie dem Händel zur Begleitung vor. Auf Zureden der Musiker versuchte dieser es vom Blatte weg: und als er hierbei das, woran ein gewiegter Meister seine volle Ladung hatte, nicht nur hurtig abfertigte, sondern auch noch mit Nachdruck, richtiger Betonung und einer gewissen Sauberkeit vortrug, zog Bononcini andere Saiten auf. Doch behielt der verbindliche Ton, in welchem er fortan zu ihm redete, zuviel von kalter Höflichkeit, um das Herz des feurigen Knaben gewinnen zu können. Es ist derselbe Bononcini, dem Händel später in England zehn Jahre und länger als unbezwinglicher siegreicher Nebenbuhler gegenüberstand. Sicherlich wurde er unangenehm berührt von den Anzeichen einer so bedeutenden musikalischen Kraft, deren Dasein ihm um so unerklärlicher sein mußte, da sie sich in einem der verachteten Deutschen offenbarte, und ohne schon damals eine förmliche Eifersucht für möglich zu halten, kann man doch mit vollem Rechte annehmen, daß schon hier in Berlin der Saame zu ihrer Verfeindung ausgestreut worden. Als erster Zusammenstoß mit Bononcini und mit italienischer Musik ist der Berliner Aufenthalt denkwürdig.

Es ist erklärlich, daß der Churfürst, der spätere König Friedrich I., Verlangen trug den kleinen Händel in seinen besonderen Schutz zu nehmen, da dieser sein geborner Unterthan war und es ihm schmeicheln mußte, in seinem eigenen Lande einen Musiker von solcher[53] Begabung emporkommen zu sehen. Er gedachte den Knaben sobald als möglich nach Italien zu senden, sobald als möglich wieder heim zu holen und dann gleichsam als einen Leibeigenen beständig im Dienste seines Hofes, also im Dienste des Vaterlandes, zu behalten. Dem Vater wurde dieses Begehren zur Entschließung übermittelt, worauf nach sorgfältig gepflogenem Familienrathe diese Antwort einlief: Er, der alte Vater, müsse es zwar allemal mit der größesten Ehrerbietung anerkennen, daß Ihro Churfl. Durchlaucht ein so gar gnädiges Auge auf seinen Sohn zu schlagen geruheten; weil er aber den Wunsch hege, die kurze Zeit über so ihm noch zu leben vergönnet, den Sohn zur Seiten zu haben, so hoffe er Churfl. Durchl. werden allergnädigst verzeihen, wenn er die hohe Gnade, die ihm auf Dero Befehl angetragen sei, in Unterthänigkeit verbitte.29 Der Brief ist, wie schon die Quelle zeigt, in dieser Fassung natürlich nicht Acten-, sondern Phantasiestück. Will man ihm Glauben schenken, so ist die Frage, was den greisen Vater zu einer so entschiedenen Ablehnung bewegen mochte? »Es war ein weiser Entschluß«, sagt Mainwaring, »ihn nicht so frühzeitig in Absicht eines Dienstes oder Gewinnes zu etwas festem zu verbinden. Wie viele Eltern haben die schönsten Gaben ihrer Kinder dadurch erstickt, daß sie ihnen zur Zeit der Entwicklung die nothwendige Freiheit und Unabhängigkeit nahmen! Diese Erwägung leitete Händel's Eltern und Freunde solange er noch unter ihrer Aufsicht stand. Und sehr merkwürdig ist es, daß Händel selber, seitdem er sein eigner Herr war, diese heilsame Regel beständig vor Augen hatte: er schlug in der Folge die größten Anerbietungen hoher Standespersonen aus, ja sogar die Gunstbezeugungen des schönen Geschlechts blieben unbeachtet, einzig und allein, um durch keinerlei Nebendinge gefesselt oder abgelenkt zu werden.«30 Die Bemerkung ist ebenso schön als richtig, und man wird gern annehmen, was Händel's Eltern zur Ehre gereichen muß; doch ist die Voraussetzung, sie wollten ihrem Sohne die Unabhängigkeit bewahren, näher zu erläutern. Nicht der ist unfrei, der dient, denn dienen muß Jeder, sondern der, den unwürdige Verhältnisse zum Knecht[54] erniedrigen. Verhältnisse dieser Art warteten Händel's, wenn er auf das Anerbieten einging. Wer sich auf Kosten eines Fürsten ausbilden ließ, spannte sich dadurch für immer in dessen Dienste, sie mochten ihm später behagen oder nicht; das war damals allgemeine Praxis. Dabei waren die Musiker den Wechselfällen des Hofhaltes um so rücksichtsloser unterworfen, weil sie nach Aller Ansicht doch nur zur Ergötzlichkeit dienten. Sobald Einschränkungen vorgenommen wurden und Abdankungen stattfanden, hatte »die Musik insgemein den Vortantz«, wie der witzige und sachkundige Telemann bemerkt.31 In Preußen vernichtete der neue König Friedrich Wilhelm I. (1713) mit einem Federstriche die ganze musikalische Capelle; wer sich nicht bequemen wollte dem Militair aufzuspielen, konnte reisen, Händel als ein gebundenes Subject wäre selbstverständlich gehalten gewesen von nun an Marsch zu blasen. Ueber die Bevorzugung der gewandten, schmiegsamen, äußerlich fertigen Ausländer können wir uns nicht sehr wundern, denn sie waren um 1700 in mancher Hinsicht den Unsrigen voraus. Aber diese Begünstigung fällt doch mit in's Gewicht, wenn man die Ursachen aufsucht, derentwegen gerade die besten deutschen Musiker den deutschen Höfen fern blieben, oder sich, wie Bach, bei ganz kleinen Fürsten einquartirten. Daß der preußische Hof in seiner damaligen Verfassung, etwa bis 1740 hin, nicht geeignet war, die bleibende Werkstätte des Händel'schen Geistes zu werden, muß Jeder einsehen: und damit erledigt sich alles Weitere.

Soviel bemerke ich bei dieser Gelegenheit, mehr um die damalige Stellung der deutschen Hofmusiker klar zu machen, als um die Ablehnung Georg Händel's zu rechtfertigen. Daß dieser aus solchen Rücksichten das Anerbieten von sich wies, ist sehr zu bezweifeln; er hatte sicherlich weit einfachere Gründe. Die Erzählungen haben ganz vergessen, daß sein Sohn sich noch immer allen Ernstes zum Studium der Rechte vorbereitete. Der Vater war nicht willens, hierin eine Aenderung eintreten zu lassen, also konnte er auch nicht auf den Wunsch seines Landesherrn eingehen.

Bereichert an mancherlei Erfahrungen und angeregt von der zum ersten Male gehörten italienischen Musik kam Georg Friedrich[55] aus der Hauptstadt zurück. Weil er die Reise, wie aus dem Erzählten erhellt, noch bei Lebzeiten seines Vaters unternahm, kann er spätestens Ende 1696 in Berlin gewesen sein. Legen wir den Ausflug in diese Zeit, so war er nicht lange zu Hause, als er einen Eindruck ganz anderer Art erhielt: sein alter Vater starb am 11ten Februar 1697 im 75sten Lebensjahre, hinterlassend 3 Kinder von 7, 10 und 12 Jahren, 28 Kindeskinder und 2 Kindes-Kindeskinder. Auf dem Gottesacker hatte er in dem Gewölbe Nr. 60 für sich und die Seinen ein »Erbbegräbniß« gekauft und einen Denkstein davor setzen lassen, dessen Inschrift ich später beim Begräbniß der Mutter mittheilen werde. Auch die Leichenrede auf ihn sammt beigefügtem Lebensabriß wurde gedruckt, wie wir aus dem Briefe Händel's an Michaelsen (London den 10. Aug. 1731) ersehen. Alles das sind gültige Beweise eines behäbigen Wohlstandes.

Die folgenden Jahre vergingen unter Studien mancherlei Art, und so daß die Musik, nach der darauf verwendeten Zeit zu urtheilen, wohl nicht immer den obersten Platz eingenommen hat. Mattheson bezeugt ihm später, er habe »nebst seiner ungemeinen musicalischen Wissenschafft gar seine andre Studia« gemacht.32 Noch nicht 17 Jahre alt, hatte er die lateinische Schule hinter sich. Zu Anfang des Jahres 1702 bezog er die 1694 in seiner Vaterstadt gestiftete und schnell aufblühende Friedrichs-Universität; am 10. Februar schrieb er eigenhändig in das Studenten-Buch:


»10) George Friedrich Händel Halle-Magdeburg.«


Der Cassirer fügte hinzu: dd d.h. hat bezahlt. Der Prorector hieß Buddeus. Die Facultät ist nicht angegeben, es versteht sich aber nach dem Vorausgegangenen von selbst, daß Händel sich auf die Rechte legte. Hieraus ergiebt sich denn die ebenso unbekannte als auffallende Thatsache, daß er noch fünf Jahre nach des Vaters Tode bei dessen Willen beharrte. Es ist ein weiterer Beweis von dem soliden Grunde, auf dem diese Familie ruhte, von der schönen Einigkeit, die in ihr waltete. Das äußere Leben mit dem inneren in Einklang zu bringen, ist das Bestreben jedes kräftigen Menschen, und wie sehr mußte unser Georg Friedrich darnach Verlangen tragen![56] dennoch hat er solches niemals eigenmächtig oder vorzeitig durchsetzen wollen. Bei allem übermächtigen Genie, das im Händel lebte, hat er seinen Eltern nie durch Geniestreiche kummervolle Nächte gemacht. Erst als er ein gesetztes Alter und jene wunderbare innere Reise erlangt hatte, bog er mit Aller Einwilligung in die Bahn ein, welche der angeborne Beruf ihm anwies, und versuchte nun, obs ihm nicht gelingen wollte, das, was ihn der studiosus juris gekostet, bei der Musik wieder herauszuschlagen.

Da wir bei Händel nicht, wie bei Telemann, Collegia und Professoren kennen und nur vermuthen dürfen, namentlich der große Thomasius habe ihn angezogen, so müssen wir seine juristischen Bestrebungen gänzlich auf sich beruhen lassen; können dafür aber aus den Acten der Schloß- und Domkirche zu Halle über seine musikalischen soviel mittheilen, daß die Erzählung bis zu seinem Abgange nach Hamburg, bis zum Jahre 1703, ununterbrochen fortgeleitet wird.

In der Hauptkirche der Stadt, zu U.L. Frauen, war der Gottesdienst evangelisch-lutherisch, weil sich der überwiegend größte Theil der Einwohner zu dieser Confession bekennt, hingegen in der zur Moritzburg gehörenden Schloß- und Domkirche reformirt. 1680 war an letzterer Kirche der Organistendienst erledigt, wie aus den Bewerbungen des Canzlei-Registrators Johann Kühne und des Adam Meisner, bish. Organisten zu St. Ulrich, zu entnehmen ist. 1689 versah Joh. Georg Schmid den Dienst für den schweren jährlichen Sold von 20 Thalern; 1693 Jacob Sonntag. Nach drei Jahren war der letztere auch schon wieder verschieden, vielleicht vor Hunger. Daß beide dem reformirten Bekenntniß zugethan waren, wird ausdrücklich bemerkt. 1696 wurde Einer Namens Seidel durch den brandenb. Churfürsten berufen, fand aber bei näherem Zusehen die Stelle doch nicht annehmbar, und nun erkor man 1697 ein anderes »reformirtes Subject«, nämlich den Musikus Johann Christoph Leporin von Berlin. Man machte eine ansehnliche Zulage: der Bestallung zufolge (vom April 1698) erhielt der Mann außer freier Wohnung 90 Thaler, 50 aus der Gemeinde und 40 aus dem Kirchen-Einkommen. Aber diesmal kam es an den Unrechten, Leporin führte sich sehr schlecht auf. Folgende Beschwerdeschrift besagt das Nähere:
[57]

»An J. Kön. Mayst. in Preussen.


Allerdurchlauchtigster etc. Ew. Königl. M. wird noch in allergnädigster Erinnerung seyn, welchergestalt Sie, auf unsern am 16. Nov. 1697 gethanen allerunterthänigsten Vorschlag, sub dato den 24. Dec. e.a. in Gnaden placidiret, daß wir Joh. Christoph Leporin zum Organisten bey der hiesigen Schloß- und Dom-Kirchen, anstatt des verstorbenen Jacob Sonntags, hinwieder annehmen und bestellen mögen. Ob nun wohl gemelter Leporin, dem wir darauf die Bestallung ertheilet haben, nachhero, alß Er umb seine bessere Subsistenz zu finden, verschiedene andere commercia anfangen wollen u. sich bis dato damit vermenget hat, seinem Amt kein Gnügen gethan, sondern dasselbe nicht wenig negligiret, so haben wir doch bißhero nachgesehen, in der Hoffnung, er werde solches zu ändern und seinen Dienst, wie sichs gebühret, abzuwarten beflissen seyn. Nachdem aber derselbe bereits vor drei Monathen die Orgel abermahls verlassen und ohne unser Vorwissen hinweggereißt, auch diejenigen musicalische Bücher, worinnen die Psalmen verfasset seindt, und derjenige, welcher anjetzo die Orgel schläget, derselben benöthiget gewesen, nicht einmahl außgeandtworthet [ausgeliefert], dergestalt, daß wir dergleichen anderswoher bekommen müssen; und dann nunmehr aus desselben anhergesandten, eigenhändigen Schreiben verlauten will, daß er entschlossen allhier gar zu resigniren und sich anderwerths zu setzen; So haben wir dieser Sache bewandniß Ew.K.M. nicht nur hiemit allergeh. zu berichten schuldigst erachtet, sondern auch, weilen wir die Orgel zu schlagen ad interim Einem Evangelisch Lutherischen Subjecte gegen eine gewisse ergötzlichkeit, biß wir eine andere und der Reformirten Religion zugethane tüchtige Person finden werden, anvertrauet, Dieselbe hierdurch allerunterth. bitten sollen, Sie wollen allergnädigst geruhen, dieses unser Verfahren, wie es zum Besten und Nutzen der Kirche gerichtet, in hohen Gnaden zu approbiren, auch dafern ged. Leporin (wieder dessen undt der Seinigen Leben undt Wandel wir sonsten bißhero viele ärgerliche Klagen mit Betrübniß einnehmen, auch gegen Sie... [? ein Wort unleserlich] müssen) sich etwa künftig melden, und dargegen was ungleiches anbringen sollte, allergnädigst denselben entweder gänzlich abweisen zu lassen, oder uns darüber wenigstens zu vorderst allergn.[58] zu hören. Im übrigen werden wir, wann sich ein anderes Reformirtes tüchtiges Subjectum hervorgethan, nicht ermangeln, dasselbe Ew.K.M. sodann zur allergn. Confirmation allerunterth. vorzustellen, die wir in treuster Devotion ersterben E.K.M. etc. Halle, d. 13. Jan. 1702.«

Das Gesuch wurde am folgenden Tage dem Könige übersandt, wie aus der Antwort erhellt:

»Von Gottes Gnaden, Friedrich, König in Preussen etc. Unsern gnädigen Gruß zuvor, Würdige und Hochgelahrte Räthe, liebe Getreue. Wir haben aus Eurem allerunterth. Bericht vom 14. dieses vernommen, was Ihr wegen des dort bisher gewesenen Organisten Leporini dimission und annehmung eines andern ausführlich gemeldet und fürgestellet habet. Wie wir nun angeführter Ursachen halber Euer Verfahren wieder gemelten Leporinum und das Vorhaben einen andern anzunehmen, allergnädigst approbiren, Alß haben Wir euch solches hiermit in Gnaden zu erkennen geben wollen, umb euch darnach zu achten. Seind euch mit genaden gewogen. Geben Potstam d. 25. Jan. 1702. Friedrich. P.F. v. Fuchs. [Unten:] An die Prediger und Aeltesten der Reformirten Gemeinde zu Halle, wegen des Organisten Leporini dimission, und annehmung eines andern.«

Herrn Leporin beglückte man mit einem einfachen Laufpaß am 5. Aug. 1702, als der »Andere« seine Bestallung und die Hebung für das erste Quartal schon in Händen hatte. Dieses ungenannte lutherische Subject war kein anderer, als unser Händel, wie der Leser wohl schon vermuthet hat. Er bekam Brief und Siegel auf den Dienst; eine ordentliche rechtskräftige feierliche


»Bestallung vor den Organisten Hendel.


Demnach die nothwendigkeit erfordert, daß bey der alhiesigen Königl. Schloß- und Domkirchen zum Organisten, an des ohnlängst abgegangenen Johann Christoph Leporins stelle, ein geschicktes Subjectum hinwiederumb bestellet werden, undt dann vor andern der Studiosus Georg Friedrich Hendel, welcher vorher bereits verschiedentlich unter abwesenheit ged. Leporins dessen vices vertretten, seiner geschickligkeit halber darzu angerühmet und recommandiret worden;[59]

Alß haben wir zur hiesigen Königl. Schloß- und Domkirche auch der Reformirten Gemeinde verordnete Prediger und Eltiste denselben, auff Ein Jahr zur probe, zum Organisten bey gemelter Kirche dato dergestalt angenommen, daß Er solch Ihm anvertrautes Ambt mit aller treue undt fleissigen auffmerksamkeit wohl und wie es Einem rechtschaffenen Organisten eignet und gebühret, versehen, so wohl zu Sonn-Bet-undt andern Festtage[n], alß auch wann es ausser diesen künfftig extraordinarié erfordert wird, bey dem Gottesdienst die Orgel gebührend schlagen, deßhalb vorhero die vorgeschriebene Psalmen und Geistliche Lieder richtig anstimmen und was weiter zu erhaltung einer Schönen harmonie nöthig seyn möchte, in obacht nehmen, zu dem ende iedesmahl zeitig und ehe Mann mit dem läuten auffgehöret, in der Kirche seyn, wie nicht weniger auff die Conservation der Orgel und was derselben angehörig gute Acht haben, und wo was daran schadhafft gefunden werden sollte, solches fordersamst anzeigen undt alßdann bey der angeordneten reparatur mit guten rath beystehen undt nachsehen, auch denen Ihme vorgesetzten Predigern undt Eltisten alle schuldige ehre und gehorsam erweisen, mit denen übrigen Kirchenbedienten aber friedlich sich begehen undt im Ubrigen Ein christliches vndt erbauliches Leben führen solle. Dahingegen Ihme vor seine mühe undt Verrichtung zum gehalt dieses Jahrs nemlich von Reminiscere c.a. biß dahin 1703 funffzig Rthlr, welche auß der Königl. Renthey alhier Er gegen seine quittung quartaliter mit 12 thlr. 12 gl. nächstkünfftigen Trinitatis damit anfahende, zu heben, nebenst dem auf der Moritzburg von J.K.M. den Organisten allergndst. assignirten freien Logiament, versprochen undt zugesaget worden. Uhrkundlich ist demselben diese Bestallung unter unser der Prediger undt Eltisten eigenhändigen unterschrifft außgestellet. So geben Halle den 13ten Martij Ao 1702.

V. Achenbach.«


Von seiner aushelfenden Thätigkeit im Halle'schen Organistenamte ist eine Kleinigkeit in die englischen Erzählungen übergegangen, aber ganz entstellt. Was Leporin verübt hatte, wurde dem guten Zachau in die Schuhe geschoben. Denn so erzählt Mainwaring: dieweil Zachau heitere Brüder und ein volles Glas lieb hatte, schlug er oft andere Wege ein, als den der zur Kirche führte, und war froh,[60] daß sein talentvoller Schüler den Dienst versehen konnte33. Mattheson machte zwar ein böses Gesicht zu dieser Erzählung und schien ganz vergessen zu haben, daß er denen welchen er nicht grün war noch ganz andere Dinge nachgesagt hat –: »Hätte denn nicht Händels Leben gut genug beschrieben werden können, ohne diesen braven Tonkünstler, Zachau, 40 Jahr nach seinem Tode, wegen eines Glases Weins zu beschimpfen?«34 – aber gegen den Thatbestand wußte er nichts beizubringen. Zachau ist nun gereinigt.

Die Wohnung auf der Moritzburg »unten bey dem Thor« wird er gewiß nicht bezogen haben; sie kam ihm auf andere Weise zu Nutze. Aus Verhandlungen vom Jahre 1711 ergiebt sich, daß Amtshauptmann von Brandt schon seit mehreren Jahren die Organistenwohnung »der Böttcherey halber« für 16 Thaler gemiethet hatte. Das Geld bekam der Organist, dafür konnte er nach Belieben in der Stadt wohnen. Händel's Vorgänger wurde noch auf die Wohnung angewiesen, bei seinem Nachfolger kommen schon die »Miethgelder« zur Erwähnung. Sicherlich war seine ausnahmsweise und ledige Stellung die erste Ursache, daß die Wohnung der Böttcherei anheimfiel. Also belief sich sein Gehalt auf 66 Thaler.

Seine musikalische Wirksamkeit war der des Telemann in Hildesheim sehr ähnlich. Weil der sorglose Leporin alle Notenbücher verschleudert hatte, mußte der Noth auf andere Weise gesteuert werden und war also zum Componiren und Phantasiren die schönste Veranlassung geboten. Was er weiter that durch Heranbildung der Jugend und Einführung der »deutschen Zwischencantaten«, kann man aus der Instruction seines Nachfolgers entnehmen. »Demnach die nothdurfft erfordert«, heißt es darin, »daß bey der alhiesigen Königl. Schloß- und Domkirchen die durch Georg Friedrich Hendelen ohnlängst erledigte Organisten Stelle hinwiederumb mit einem guten und geschickten Subjecte besetzet werden müssen, und aber vor andern Johann Kohlhardt sowohl seines frommen Wandels alß geschickligkeit halber dazu recommandiret undt angerühmet worden«: so solle dieser den Dienst erhalten, am 12. Sept. 1703. Als Organist[61] hatte er Händel's Gehalt, dazu war er Lehrer an dem Gymnasium der Reformirten. Seine Anweisung enthält eine Stelle, die in der seiner Vorgänger fehlt: er soll »auch insonderheit die Jugend bei dem Reformirten Gymnasio wöchentlich 2 stunden nemlich Mittwochs und Sonnabends nachmittags in der vocal Music getreulich unterrichten; auch diejenige bey welchen er die dazu nötige Fähigkeit finden wird privatim in seiner Behausung nicht allein zu einer mehrernperfection in der vocal Music sondern auch zur instrumental music anführen.« So also hatte es Händel mit ihrem Beifalle eingeführt. An den schulfreien Mittwoch- und Sonnabend-Nachmittagen zog er von seinen früheren Mitschülern einen Chor zusammen, nahm die Begabteren daraus nebst anderen Burschen mit in das Haus seiner Mutter und musicirte mit ihnen singend und spielend weiter; wer weiß seit wie lange schon. Diese wohlthätige Bewegung, die er unter der studirenden Jugend hervorbrachte, war es denn vornämlich, welche ihn, nach Telemann's Ausdruck, öffentlich wichtig machte.

Als Kohlhardt 1732 starb, erbte sein Sohn Johann Karl den Dienst, »weil Er die Music, so viele wir nöthig, verstehet.« Das klingt freilich anders als vor dreißig Jahren. Um 1700 war in Händel's Vaterstadt völlige Frische und ein überaus bewegtes Leben. Die neue Universität war die Pflegerin eines neuen Geistes, nicht bloß das Wohnhaus der Pietisten geworden. Und was man auch von dem halten mag, was die Pietisten aufgebaut haben, so viel ist gewiß, daß ein Mann wie Philipp Jacob Spener mehr wiegt als sämmtliche Orthodoxe des 17ten Jahrhunderts. Sein Schüler August Hermann Francke lehrte und lebte in Halle mit einer Begeisterung, deren segensreiche Nachwirkungen sich bis in unsere Tage erstrecken. Aber nicht er war der Mittelpunkt der jungen Hochschule, sondern der Rechtslehrer Christian Thomasius, der berühmte Bekämpfer der Hexenbrenner. Thomasius übersah seinen Collegen Francke wie Leibnitz den Spener übersah, aber beurtheilte ihn mit derselben Milde, so daß die begabtesten Lehrer dieser Universität friedlich und gedeihlich zusammen wirkten. Es ist übrigens sehr bemerkenswerth, daß Händel nicht aus dem Kreise der Exaltirten hervorging: seine Familie gehörte noch zu jener geringen Zahl einfacher[62] Frommen, die nicht erst gewaltsamer Anstrengungen bedurften um ihres Gottes gewiß zu werden.

In Folge beschränkter Mittel war bei der Halle'schen Kirchenmusik eine Einrichtung getroffen, die besonders für Händel's Thatlust ersprießlich sein mußte. Die Sang- und Spielchöre zogen nämlich durch alle Kirchen der Stadt. An jedem Sonntage konnte man irgendwo noch andere als simple Choralmusik zu hören bekommen, aber immer in einer andern Kirche. Am ersten hohen Festtage war die Musik in der Markt- oder Liebfrauenkirche, am zweiten in St. Ulrich, am dritten in St. Moritz, an den kleineren Festen in der Marktkirche allein, an den gewöhnlichen Sonntagen wieder wechselweise in allen dreien. Dasselbe Verfahren kam in der Marterwoche bei der deutschen Passion zur Anwendung. Sanct Laurentius auf dem Neumarkte machte am Palmsonntage den Anfang, am Montage war die Passion in der Marktkirche, am Dienstage zu St. Ulrich, am Mittwoch im Ulrichs-Filial zu Diemiz, am Grünen Donnerstag zu St. Georgen in Glauche, am Charfreitag Vormittags zu St. Moritz, und Nachmittags »musicaliter« d.h. mit Chören und Instrumenten, Recitativen und Arien in der Schulkirche. Die letzte Aufführung besorgten die Gymnasiasten; ebendieselben pflegten auch an hohen Festen Abends um 5 Uhr in ihrer Kirche eine große Musik zu veranstalten.35 Auf diese Art war es für Händel ein Leichtes das musikalische Regiment an sich zu reißen.

Was er componirte, kam immer frisch weg zur Aufführung. Seine Halle'schen Erstlinge, zu denen gewiß mehrere hundert Kirchencantaten gehören, hat er selber nie der Aufbewahrung werth gehalten, und die Bibliotheken seiner Vaterstadt hatten vor lauter Tractätlein und theologischen Streitschriften keinen Raum für die Erzeugnisse der dortigen Organisten. Sie sind fast alle verschollen. Für die Kunst ist ihr Verlust nicht zu beklagen, für die Biographie jedenfalls; doch verursacht er keine unausfüllbare Lücke. So lange ein Jünger bei aller Rüstigkeit und allem Drange nach Höherem noch wesentlich in den Bahnen läuft, welche die einflußreichsten Meister seiner Zeit eröffnet haben, fallen seine Werke in deren Bereich[63] und sind mit den ihrigen zugleich charakterisirt. Das vorhin bei Zachau's Compositionen Bemerkte kann uns hier zu Gute kommen. Winterfeld sah in einer »Abschrift von neuerer Hand« die Cantate »Ach Herr mich armen Sünder« für vierstimmigen Chor und einzelne Stimmen, begleitet von Violinen, Violen, Oboen, Fagott und Continuo, und setzt sie in die erste Hamburgische Zeit.36 Obwohl das Stück äußerlich nicht sicher beglaubigt ist, möchte ich es ebenfalls für ein Händel'sches halten, verlege es aber nach Halle; für Hamburgische Tonsetzer, Keiser Mattheson u. A., gehörte dergleichen zu den überwundenen Standpunkten. Es ist eine Choralcantate über die verschiedenen Verse des genannten Kirchenliedes von dem alten Cantor Hermann Schein und zu der Grundmelodie »Befiehl du deine Wege«, ähnlich der Zachau'schen Cantate »Vom Himmel kam der Engel Schaar«, aber einheitlicher und musikalischer gehalten. Der Choral ist mehr oder weniger in allen sechs Sätzen bewahrt: in dem ersten, Solo für Discant, ganz unverändert mit fünfstimmiger Begleitung; in dem zweiten für vierst. Chor als Grundlage zu strengeren oder freieren Nachahmungen; in dem dritten für Tenor allein, in dem vierten für Discant und Alt, und in dem fünften für Tenor und Baß als Thema, das auf Veranlassung des Textes weit und breit ausgeführt wird; in dem letzten Satze für vierst. Chor wieder als einfache Kirchenmelodie, hier aber im 3/4-Takt. Den ersten und den letzten Satz findet man bei Winterfeld gedruckt.37 Bei der Behandlung der Instrumente wird schon etwas von der Kunst sichtbar, welche die Motive über ein ganzes Tonstück ausbreitet. Diese Kunst geht hier aber noch überall im Gewande des damals Ueblichen: ganz kleine Figuren und deren unmittelbare Wiederholung oder Versetzung aus Dur in Moll und umgekehrt, bei steter Abwechslung von Forte und Piano, thun ihr ein völliges Genüge. Die in dem Kirchenliede gegebene Möglichkeit zu mannigfaltiger Behandlung ließ Händel nicht unbenutzt.

»Der ungerathene Sohn«, ein mehr dramatisch gehaltenes Stück über ein Gleichniß Christi, wird von Winterfeld auf Grund einer[64] Handschrift ebenfalls dem Händel zugeschrieben. Weil ich die Composition niemals sah, muß ich mich an den kurzen Bericht bei Winterfeld38 halten, kann sie aber darnach unmöglich für eine Händel'sche ausgeben.

In der Berliner Bibliothek ist eine Handschrift mit dem Titel: »Die Erlösung des Volks Gottes aus Egypten. Ein Oratorium auf das Fest Joh. des Täufers v. Haendl. Singende Personen: Gott – Basso; Moses – Tenor; Pharao – Basso; Mirjam – Sopran; der Glaube – Alto; Vertrauen – Sopran; Gottseelige Erwägung – Basso. 4 Corni ov. 2 Corni et 2 Clarini in D, Timpani, 3 Flauti Trav., 2 Oboi, 2 Violini, Viola et Fundament.« Sie stammt aus Pölchau's Nachlaß und mag etwa um 1770 angefertigt sein. Die Musik zerlegt sich in zwei ungleiche Hälften, je nachdem sie vor oder nach der Predigt aufgeführt wurde. Winterfeld hält das Oratorium wirklich für eine Jugendarbeit von unserm Händel und bespricht es als solche einen halben Bogen lang. Aber mit demselben Rechte könnte man ihn für den größten Theil der deutschen Musik von 1700 bis 1770 verantwortlich machen. Ich will nur einige von den vielen Merkzeichen angeben, die beweisen, daß dieses musikalische Bund Stroh nicht von Händel sein kann. Die Arien sind alle in der Rundstrophe mit zwei völlig ausgebildeten Theilen, und überhaupt in Form und Singart so, wie man sie von 1740 bis 1770 in Deutschland und Italien überall setzte. Ebenso ausgebildet ist das Recitativ, auch wird es mit völliger Leichtigkeit obligat behandelt. Die Chöre, rauschend aber leer und sämmtlich ohne Beihülfe der Fugenkunst entstanden, können in keine andere Zeit gehören. In dem Ganzen ist eine völlig ausgebildete Fertigkeit, aber ein äußerst geringes Talent wahrzunehmen; Idealität, die bei Händel nirgends fehlt, fehlt hier gänzlich. Wen dieses nicht überzeugt, der besehe einzelne Stellen, z.B. in Pharao's Arie »Auf, Israel nachzujagen« diese:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

[65] sammt deren Wiederholung:
[66]

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

[67] Diese närrische Polterei mit dem schönen Triller! Von der langen Arie, welche »der Glaube« vorträgt, zeigen schon die ersten Takte:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

daß sie, die unsangbare Anlage abgerechnet, wohl von Graun, aber nimmer von Händel sein könnte, eine solche überkünstelte Melodiebildung war ihm von jeher außerordentlich zuwider. Die Worte in dem Jammerchor der Aegypter zu Pharao:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

[68] wetteifern an Ausdruck mit dem andern im rothen Meer »wir müssen ersaufen, – zur Flucht, weil selbst der Herr für sie uns zu bestreiten sucht«, wo das Ersaufen durch das plötzliche Abbrechen des Gesanges angedeutet werden soll:


3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

3. Studiosus der Musik und der Rechte und Schloßorganist zu Halle

und mit dem Gassenhauer durch den Mirjam den heiligen Jubelgesang einleitet. Es wird sich jetzt nicht mehr aufdecken lassen, wie es[69] gekommen ist, daß dieses etwa um 1750 entstandene Oratorium Händel's Namen trägt; vielleicht ist ein Süddeutscher (die Schreibart Haendl deutet auf einen solchen), der von Händel's Israel in Aegypten gehört hatte, absichtlich damit getäuscht.

Winterfeld, nachdem er das Stück »aus inneren Gründen in die Zeit zwischen 1705 bis 1709« gesetzt hat, beschließt seine Besprechung folgendermaßen: »Nach dieser ausführlichen Beschreibung werden wenige Worte hinreichen, uns den Standpunkt erkennen zu lassen, auf dem wir unsern Meister in diesem Werke finden. Dem Wesentlichen nach ist er wenig verschieden von demjenigen, auf dem wir ihn in den beiden zuvor besprochenen fanden; der Fortschritt aber kündet sich dadurch an, daß neben der Wortmalerei, die nun schon mehr zurücktritt, auch das belebte Tonbild erscheint, das in der Folge der größeste Schmuck seiner reiferen Werke werden sollte. Die beiden hier erscheinenden Choralsätze, wenn auch nicht ausgezeichnet, sind doch würdig gehalten, dienen dem Ganzen zur Zierde, und geben uns die Ueberzeugung, daß der große Meister, mehr als seine zuvor besprochenen Vorgänger [Keiser und Mattheson], von der Würde und Bedeutung des Gemeinegesanges durchdrungen gewesen sei.«39 Winterfeld ging hier und öfter in seinem dritten Bande wohl hauptsächlich deßhalb fehl, weil er die Kirchencantaten und Opern von 1680 bis 1720 nicht hinreichend untersucht hat; und wie es scheint ist ihm diese Lücke niemals zum Bewußtsein gekommen.

Händel hatte als Schloßorganist eine ansehnliche, reichgeschmückte Orgel mit 28 klingenden Stimmen, 1500 Pfeifen und zwei Clavieren von Buchsbaumholz. Das Werk war 1667 auf Kosten des Administrators Augustus gebaut, hatte eine Höhe von 62, eine Breite von 20 Fuß, auch schöne breite Gallerien für die Sänger. Eine Merkwürdigkeit waren die drei Bälge: sie gaben bei einmaligem Niedertreten Wind für 180 Takte, sagt der Chronist, so daß der ganze Glaube mit seinen drei langen Versen dabei bequem ausgespielt werden konnte.40 Man baute hier also nach dem sprichwörtlichen Maaß »wie viel Wind zum Glauben gehöre.« Eine vortreffliche[70] Einrichtung sur einen Spieler, der bei seinen Privatübungen zugleich als Bälgetreter fungiren muß.

Die Worte in der Bestallung »auf ein Jahr zur Probe« sind sehr unpassend gewählt: nicht wollten sie in dieser Zeit seine Fähigkeiten prüfen, sondern ihm nur für vielfach geleistete Dienste eine ansehnliche und gesetzlich bewilligte Ergötzlichkeit zuwenden. Letzteres ließ er sich gern gefallen, aber fest- und wohlbestallter Organist wollte er nie werden, denn sein Sinn stand zunächst auf das Wandern. Aus dem Datum in Kohlhardt's Dienstverschreibung kann man auch nicht folgern, daß Händel über die bestimmte Zeit hinaus bei dieser Kirche zu thun hatte. Als das Jahr verstrichen war, zog er die letzten 12 Thaler 12 Groschen ein, packte seinen Koffer mit Cantaten und anderen nothwendigen Sachen und reiste nach Hamburg. Es war eben Frühling geworden, als er aus Halle fuhr. Er stand jetzt im neunzehnten Lebensjahre. Die juristische Periode war völlig zu Ende.

Sind nun auch, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, die Ueberbleibsel von den Halle'schen Jugendversuchen unerheblich genug, so hat sich doch im Uebrigen noch Allerlei gefunden, was dieses frühere Leben mit historischem Lichte erhellen und die Wißbegierde der Leser befriedigen kann, gefunden trotz der Versicherung von Eschenburg und Reichardt, bei ihren Nachforschungen in Halle habe sich herausgestellt, daß dort weder mündliche noch schriftliche Ueberlieferungen bewahrt seien,41 und trotz des leidigen Trostes von Burney, dem Händel ergehe es wie einem alten und mächtigen Reiche: erst wenn der helle Mittagsglanz da sei, begehre man Kunde von den Anfängen, da doch eben dieser Glanz über sie einen falschen Schimmer verbreite.42 Hätte Händel gleich Telemann es über sich gewinnen können sein Leben selber zu beschreiben, wozu Mattheson ihn öffentlich und in Briefen wohl ein Dutzend mal aufforderte, so wüßten wir allerdings mehr. Aber schriftlich über sich selber Betrachtungen anstellen, und gar darüber wie er es doch so herrlich weit gebracht, war seine Sache nicht; höchstens unter guten Freunden, und wenn er bei Laune war, gab er aus seinem Jugendleben mündlich einen Haufen Wahrheit und Dichtung zum Besten.

Fußnoten

1 Händel's Lebensbeschreibung S. 129.


2 Lexicon S. 654–55.


3 Beschr. des Saal-Creyses II, 753.


4 Neues Lexicon der Tonkünstler. III, 50.


5 Evangel. Kirchengesang III, XX und 258.


6 J.S. Bach's Werke. Ausgabe der Bachgesellschaft. V. 1, 1–64.


7 Mattheson, Ehrenpforte S. 105.


8 Mattheson, Critica Musica II, 57.


9 A General History of Music. London 1776. 4. IV, 233 und 34.


10 Cimbria literata. fol. I, 748.


11 Ev. Kirchengesang III, XX.


12 Ev. Kirchengesang III, XX.


13 Critica Musica II, 366. 368.


14 Werke, Ausg. der Bachgesellschaft V. I, XIV.


15 Vgl. Winterfeld, Ev. Kirchengesang III, 17.


16 [W. Coxe] Anecdotes of Handel and Smith. London 1799. 4. p. 6.


17 Schölcher, Life of Handel. London 1857. p. 9.


18 »I used to write like the D-l in those days, but chiefly for the hautbois, which was my favourite instrument.« Burney, Sketch in Commemoration p. 3.


19 Ev. Kirchengesang III, 160.


20 Vorsteher des musikalischen Schülerchors, der besonders beim Umsingen in den Straßen die Oberleitung und den Beutel hatte.


21 nämlich den Text von Postel, Hamburg 1693; Calderon's »Leben ein Traum« liegt zu Grunde.


22 Mattheson, Ehrenpforte S. 354–359.


23 Der Vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739. Fol. S. 439–40.


24 Mattheson, Ehrenpforte S. 365.


25 Nachricht von Händel's Lebensumständen und Gedächtnißfeyer S. VII.


26 Hawkins, history V, 260: »the greatest church musician in Germany.«


27 Mattheson, Ehrenpforte S. 359.


28 Vgl. Schneider, Geschichte der Oper u. des Opernhauses in Berlin. S. 6 u. 39.


29 Nach Mainwaring, Memoirs p. 24–25.


30 Mainwaring, Memoirs p. 28–29.


31 Mattheson, Ehrenpforte S. 360.


32 Critica Musica II, 212.


33 Memoirs p. 15.


34 Lebensbeschreibung S. 10.


35 Dreyhaupt, Beschreibung des Saal-Creyses. I, 991–92.


36 Ev. Kirchengesang III, 159.


37 Ev. Kirchengesang III, Musikbeilage Nr. 51.


38 Ev. Kirchengesang III, 160.


39 Ev. Kirchengesang III, 163–64.


40 Dreyhaupt, Beschreibung des Saal-Creyses I, 1097–98.


41 Händel's Lebensumstände und Gedächtnißfeier, im Vorbericht.


42 Sketch in Commemoration p. 1.


A1 »Der als Pastor an der hamburgischen Jacobs-Kirche 1714 gestorben ist, und in seinem Lebenslaufe verordnet hat, man sollte weder läuten noch singen bey seinem Begräbnisse, denn er könnte das Geräusche nicht vertragen. Doch hat man von ihm unter andern ein Büchlein, das singende Zion betitelt.« Anmerkung von Mattheson.

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1858.
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