Einleitung.

[2] Mit dem Jahre 1720 trat Händel in den entscheidenden Abschnitt seines Lebens. Obwohl er dort blieb, wo er schon seit Jahren eingebürgert war, in London, führte ihn seine plötzlich veränderte Stellung doch auf einen ganz neuen Grund und Boden. Die Art, seine Kräfte zu bethätigen und auf die Oeffentlichkeit zu wirken, wurde jetzt eine andere, als damals, wo er in den Palästen der Musikmäcene ein beliebter Gast war. Er selbst wurde ein anderer, soweit dies bei einer bruchlosen Entwicklung möglich ist. Wer konnte ahnen, daß dieser Mann, der sich zu den Personen, den Sitten und Lebensweisen der Zeit immer so friedlich zu stellen wußte, an der Spitze der musikalischen Bewegung in England so ungefüge und hartnäckig sein würde! Wer sah voraus, daß der Musiker sich auch als ein Mann bewähren würde, zu einer Zeit wo man längst daran gewöhnt war, mit der Dahingabe an künstlerische Thätigkeit sich nothwendig eine Einbuße männlicher Stärke verbunden zu denken! Wie konnte man daher erwarten, daß eine Erscheinung, die seit Milton's Tagen nicht wieder erlebt war, sich eben in dem Theile der Kunst, der bei allem Reize doch allgemein für geistig geringhaltig angesehen wurde, und noch dazu in einem jener um Geld und Gut von auswärts herüber gekommenen Musikanten wiederholen sollte! Und wer unter den Bewunderern seiner bisherigen Werke konnte für möglich halten, daß er im Kampfe mit der Afterkunst und dem falschen Geschmacke kühn bis zu jenem Aeußersten vordringen würde, wodurch es für gewöhnliche Augen eine zeitlang ungewiß blieb, ob er von einer früher erreichten Höhe herabsinke, oder zu einer neuen sich erhebe! Fünfunddreißig[3] Jahre alt, im vollen Mannesalter, ergriff er das Steuerruder, nachdem er so manchen bindenden Verpflichtungen aus dem Wege gegangen war und zu einer festen Wirksamkeit eher Abneigung als Verlangen gezeigt hatte; aber jetzt, einmal eingetreten, harrte er aus in allen Mühen und Wechselfällen, mit der eisernen Hand des Schicksals den Gang der Kunst bestimmend. Er selber war ihr Schicksal. Anfangs ein Gleicher unter Gleichen und der Jüngste unter den Meistern, überragte er sie bald als der Einzige, den der Verfall der Institute nicht mit hinabzog, sondern stets größer emporwachsen sah. Bei allen diesen Schritten war das Auge der Nation, ja des ganzen künstlerischen Europa auf ihn gerichtet: und das eben ist das Entscheidende in der Wendung von 1720 an, daß Händel nunmehr eine öffentliche Persönlichkeit wurde als Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit und als mitthätige Kraft in einem großen Ganzen, deren Werke ein- und umbildend in die Massen drin gen.

In dieser Wirkung auf die Masse oder auf das Volksthum können wir ein Verhältniß allgemeinerer Art wahrnehmen. Das Händel persönlich Betreffende, das Beliebtwerden, das Sichbahnbrechen seiner Werke muß zwar schon an sich unsere Theilnahme in hohem Grade in Anspruch nehmen, da es sich um die unsterblichen Erzeugnisse einer so bedeutenden Persönlichkeit handelt, und da die Hindernisse so stark, so unüberwindlich schienen: allein das Künstlerische ist in diesem Abschnitt, in diesem ganzen dritten Buche, bei weitem nicht in einem solchen Maaße die Hauptsache, wie wir es in der letzten Periode finden werden, noch das Biographische, die Bildung seines Selbst, so überwiegend hervortretend, wie in dem Zeitraume, welchen der erste Band beschrieb. Hingegen ist es Händel's Verhältniß zu der Oeffentlichkeit, welches uns hier vorzüglich beschäftigt, die Thatsache nämlich, daß sich in diesen zwanzig Jahren durch ihn erst eine wirkliche musikalische Oeffentlichkeit in England bildete.

Um 1720 waren lediglich die höchsten Stände von wahrer Musikliebe erfüllt. Hätte man auch nur entfernt auf die Betheiligung des wohlhabenden Bürgerstandes rechnen können, so wäre die Entstehung der Akademie in einer Form, die nur den ganz Reichen und Prunksüchtigen genehm sein konnte, eine reine Unmöglichkeit gewesen[4] in demselben England, welches für Einrichtungen, die eine große, allgemeine Betheiligung zulassen, so viel Geschick besitzt. Aber dieser musikliebende und musikübende Bürgerstand im späteren Sinne war damals noch nicht vorhanden; ihn hervorzurufen, war eben das, was Händel unter unbeschreiblichen Mühen, unter Anfechtungen und Enttäuschungen aller Art in diesen zwanzig Jahren zu Stande brachte. Von Purcell und Blow war zwar früher schon ein bedeutender Anlauf dazu genommen, aber ohne durchschlagenden Erfolg, obwohl es ihnen als Eingebornen um so viel leichter hätte werden müssen; und die Wenigen, welche ihre musikalische Bildung noch aus jener Zeit herleiteten, hielten sich schon deßhalb anfangs von den neuen Bestrebungen fern, weil diese sich um einen Mittelpunkt gruppirten, den sie zu verachten gewöhnt waren, nämlich um die Oper. Es währte lange, bis sich diese alten Leute in Händel zurechtfinden und ihn als den eigentlichen Vollender alles dessen, was sie bei Purcell, Blow und andern nationalen Tonsetzern als groß und schön bewunderten, erkennen lernten.

Bei weitem die überwiegende Mehrzahl der gebildeteren Mittelklassen und fast alle wohlhabenden Landbesitzer waren schon aus politischen Gründen dem musikalischen Treiben abhold. Doch dies eben ist der beste Beweis ihrer unmusikalischen Natur, denn sie hätten die Tonkunst nicht so in ihrem Wesen verkennen können, wenn sie ihnen auch nur im geringsten etwas werth gewesen wäre. Sie widersetzten sich ihr, weil sie vom Auslande kam und von der auswärts gebornen Herrscherfamilie und dem Hofadel gepflegt wurde; sie lehnten sich auf gegen diese neumodische Sittenverfeinerung, gegen diesen kostspieligen Luxus der am Mark des Landes zehre; sie weissagten den Untergang der britischen Nationalität, und protestirten ohne Aufhören: geht mit euren seinen Lebensweisen und laßt uns Briten wie wir sind, frei und rauh! Diese waren am schwersten umzustimmen, da ihre, in dem starken englischen Nationalgefühle wurzelnden Vorurtheile unausrottbar und ihre Ohren unverbesserlich schienen. Sie bildeten in ihrer großen Zahl und patriotischen Färbung das eigentliche Publikum aus dem Bürgerstande.

Die geringen künstlerischen Bedürfnisse dieses großen Haufens schienen eine geraume Zeit vollauf befriedigt durch die Musik, welche[5] vor und neben Händel da war, und durch das englische Theater. Letzteres namentlich glaubte die Geschmacksleitung der Landsleute erbrechtlich zu besitzen. Aber dieses Theater, aus dem ein Shakespeare hervorgegangen war, hatte längst seine höhere Bedeutung eingebüßt und aus der Elisabetheischen Zeit fast nichts bewahrt, als die Abhängigkeit von einzelnen Lords, zu denen sich die Schauspieler denn auch jetzt in ihrer geringen Bildung und niedrigen Gemeinheit völlig bedientenmäßig verhielten. Ohne Schule, ohne ästhetische Bildung, ohne Charakter und ohne edle Zwecke, nach Volksgunst hin und her fahrend, mußte auch das nationale Schauspiel bald genug in die italienisch-französische Strömung einlenken. Es griff nun den Theil des romanischen Theaters auf, der eben Mode war, nämlich die italienischen Farcen. Die Nöthigung dazu war sehr dringlich, denn die Haupturheber dieser Farcen, die italienischen Komödianten in Paris, errichteten ein Theater in London und nahmen ihren englischen Brüdern das Brod. Farcenhaft war damals alles, selbst die Tragödie, und Harlequin war in der ganzen Zeit der bewegende Mittelpunkt des recitirenden Schauspiels: hiervon überzeugt sich jeder, der die sogenannten Tragödien jener Tage, oder auch nur Fielding's Satire »Tom Thumb der Große« gelesen hat. Ueber die englische Farcenbude wurde eine weite Decke gebreitet; auch alle Musiker, die bei der neuen Akademie keinen würdigen Platz fanden, konnten mit unterkriechen: und das eifrige und lärmende, wenn auch selten einige Zusammenwirken dieser Heerschaaren erzeugte jene grotesken musikalisch-theatralischen Ungeheuer, die von Zeit zu Zeit die Luft erschütterten und einen allgemeinen Zulauf hatten. Die Engländer, welche sich dieser Form mit großem Geschick bemeisterten, machten bald aus der Noth eine Tugend. Wie wir schon früher bemerkten, war die englische Dichtung dieses Zeitraumes, soweit sie noch einen kunstmäßigen Charakter trug, durchaus unmusikalischer Natur, dazu dem Hofe wie den Massen des Volkes und Adels gleichgültig, in sich selbst aber nicht schöpferisch stark genug, um in der mattherzigen Zeit gelassen auszuharren. Sie entschädigte sich, so gut es ging, durch Witz, und rächte sich durch Satiren. Als nun endlich die großen Dichter und Satiriker, denen die Organe zum Verkehr mit der Oeffentlichkeit fehlten, sich der hohlen Farcen bemächtigten,[6] bekamen diese einen Gehalt, vor dem Hof und Regierung erschraken und die Tonkunst zeitweilig verstummte. Die Darsteller solcher Satiren, die Herren von Drury-Lane und Lincoln's-Inn-Fields, wurden dadurch mitunter wieder mächtig, obwohl um nichts besser.

Unmittelbarer, als von diesen englischen Gegenwirkungen, wurde Händel zunächst berührt von der dramatischen Musik seiner italienischen Zeitgenossen, die zum Theil neben seiner eignen in demselben Hause zur Aufführung kam. Hier entspann sich auch der Kampf zuerst; auf diesem Felde erfocht er seine ersten Siege und erlangte zuerst einen europäischen Ruf und Einfluß, eben damals als das Wirken des Alessandro Scarlatti zu Ende ging. Mit den Tonwerken dieses großen Mannes standen die Händel'schen in einem naturgemäßen friedlichen Zusammenhange; aber zu denen des Bononcini verhielten sie sich in geistiger, und zu denen der neu-neapolitanischen Schule in geistiger und formeller Hinsicht gegensätzlich. Die Verwicklungen, welche daraus hervorgehen mußten, waren namentlich deßhalb so bedeutsam, weil diese Componisten sich einer allgemeinen Popularität erfreuten, ihre Niederlage daher zugleich die Vernichtung einer verkehrten und schwächlichen Zeitrichtung bedeutete.

Dies waren die Mächte, die Händel zu bestreiten hatte, und die ihn zu bestreiten und von der Hohe, welcher er zustrebte, wieder herab zu ziehen suchten. Ihnen allen mußte er wachsam und gerüstet gegenüber stehen. Ost stifteten sie Schutz- und Trutzbündnisse, in welchen sich das Unverträglichste verband, sobald es gegen Ihn ging. Man focht auch mit wechselndem Glücke und brachte den Starken oft der Verzweiflung nahe, so daß er mitunter sich in ein tiefes Nachsinnen verlor über die Wege der Vorsehung, zu der er doch sonst in seinem unerschütterlichen religiösen Gefühle so sicher aufblickte, und deren Gerechtigkeit sich endlich auch an ihm in der sehr elenden, geistig und sittlich stumpfen Zeit herrlich bewähren sollte. Die Erlebnisse eines solchen Kampfes sind also wohl werth verzeichnet zu werden, wie denn auch deren Erzählung manche Seite dieses Buches füllen, ja sich eigentlich durch das Ganze hinziehen wird. Und so liegt es in der Sache selbst, nicht aber in meinem Belieben, daß fast alles, was aus dieser zwanzigjährigen Periode zu berichten ist, einen so streitfertigen Charakter trägt. Auch ist es nicht durch Händel als[7] Menschen hervorgerufen, denn er wandelte sorglos und unbefangen mit allen Uebrigen auf derselben großen Heerstraße, Niemand bedrängend; und nicht sein menschlicher, sondern sein künstlerischer Charakter ist es, auf den diese ganze Bewegung als letzte Ursache zurückgeht.

Im Völkerleben war es eine Zeit des Friedens, namentlich für England. Die Aufstände zu Gunsten des Prätendenten waren niedergeschlagen, und die zu einer letzten allgemeinen Erhebung sich langsam sammelnden Kräfte kamen erst nach dieser Periode zum Ausbruch. Die Verbindungen mit dem Festlande waren nie soweit gelockert, daß es nicht gelungen wäre sie mit diplomatischen Fäden wieder zusammen zu knüpfen. Die Diplomatie stand in der Blüthe. Große Fragen tauchten kaum auf, und wenn sie auch vorhanden waren, konnten sie doch nirgends mit ungeschwächter Kraft zur Geltung kommen. Es giebt wohl wenige Zeitabschnitte in der neuern Geschichte, in denen männlicher Freimuth so wenig gegolten hat, in Wahrheit aber auch so selten vorhanden war, wie in diesen Jahren, welche Händel als Mann und Friedrich den Großen als Jüngling um die Existenz kämpfen und auch schon einige Helden der späteren deutschen Literatur heranwachsen sahen. Die innere Verwaltung der Länder wurde überall nach einem Phantom eingerichtet, welches man Kron- und Hausinteresse der Fürsten nannte. War dieses leicht bewerkstelligt in Deutschland und Spanien, wo die Verhältnisse längst erstarrt, oder in Frankreich, wo sie gründlich centralisirt waren, so schien doch die Volksvertretung Englands unüberwindliche Schwierigkeiten darzubieten. Aber es gab verschlagene Köpfe, welche diese nach Pariser Vorbildern zu beseitigen suchten. Es war Sir Robert Walpole, der im Vertrauen auf den gesunkenen Männerwerth das rechte Mittel fand und sich dadurch zum allmächtigen ersten Minister machte. Er sprach es aus, und bewies es leider nur zu sehr in einer mehr als zwanzigjährigen Regierung, daß jeder Mensch seinen Preis habe, oder deutlicher, daß er im Parlamente, wie auch in der Presse, die Mehrzahl der Stimmen für die Regierung zusammen kaufen könne. Wie haltlos aber die besseren Kräfte einem so schändlichen Verfahren gegenüber standen, bewiesen die am besten, welche mitunter aus der Opposition in die Regierung gelangten und dann schließlich zu der Ueberzeugung kamen, daß sich ohne Bestechung nicht[8] regieren lasse. Die englische Freiheit hatte damals eine harte Probe zu bestehen, denn die offenen Rechtsverletzungen der Stuarts waren nicht viel gefährlicher, als diese listige Verpestung der Parlamentsmitglieder zu einer Zeit allgemeiner Charakterlosigkeit und trägen Friedensliebe, wodurch die natürlichen Organe der Landesvertretung langsam absterben mußten. Zur Bestechung, und noch mehr zur Befriedigung der Genußsucht, war aber Geld erforderlich: und auf die Kunst Geld zu machen war denn auch die eigentliche Weisheit der Staatsmänner gerichtet. Walpole vor allen war es, der, wie der gute König Georg I. einmal zu seiner Schwiegertochter im Vertrauen sagte, aus Steinen Gold machen konnte. Wie sehr, wie krankhaft und unnatürlich sich Alles um das goldne Kalb drehete und wie weit französischer Einfluß schon zur Herrschaft gelangt war, sehen wir, besser als aus allgemeinen Schilderungen, an einem einzelnen Falle, der uns zugleich geradeswegs auf unsern Gegenstand hinleiten wird.

Es bestand in London neben der »Bank von England« noch ein großer Actienverein, die Südseegesellschaft, von dem früheren Kanzler Lord Oxford angeblich zur Hebung des öffentlichen Kredits und zur Tilgung der Staatsschuld, im Grunde aber aus Eigennutz und aus der eitlen Absicht, sich als großen Finanzkünstler zu zeigen, im Jahre 1711 gestiftet unter der glänzenden Vorspiegelung eines Monopolhandels mit dem spanischen Amerika. Obwohl sich diese Aussicht bald als ein Trugbild erwies, fand »Lord Oxford's Brut« unter einem so glücksjägerischen Geschlechte dennoch Hülfsmittel genug, um sich in blühendem Wohlstande zu erhalten. Aber die Neigung zum Schwindel, welche dieser Verein schon mit zur Welt brachte, blieb ihm stets eigen. Nun wurde von den damaligen Finanzkünstlern stets der Zweck verfolgt, die schwebende Staatsschuld ganz abzutragen. Auch Georg's Minister steckten sich dieses Ziel finanzieller Weisheit, und zur Erreichung desselben bot sich ihnen die strebsame Südseegesellschaft an. Für die unkündbaren Annuitäten (Grundstücke), die nach englischem Herkommen auf 99 Jahre abgelassen werden, und damals der Regierung jährlich etwa £ 800,000 einbrachten, bot die Gesellschaft als festen Kaufpreis die anscheinend ungeheure Summe von £ 7,500,000 – also das neunfache des früheren Betrages. Obwohl diese Mehreinnahme die öffentlichen[9] Lasten allerdings vermindern helfen konnte, hätte man doch vor einem Verfahren zurückschrecken sollen, welches der Regierung den Anschein gab, als ob sie Ausverkauf halten wollte. Die betreffenden Grundstücke waren gewiß einer größeren Verwerthung fähig. Die Gefahr lag also nicht in dem Hinausgehen der Preise, sondern darin, daß bei der Regierung eine Quelle der jährlichen Einnahme endlich, wenn auch erst nach 99 Jahren, versiegen mußte, und noch viel mehr darin, daß die Verwaltung aus ihrer erhabenen Stellung, die Nation gesetzlich zu überwachen und zu schützen, herabstieg zu einer gewinnsüchtigen Bevormundung, daß sie den Schwindel, der bisher auf unschädlicheren Privatwegen verlief, zum System erhob, was endlich allen wahren Gemeingeist ersticken und das für gesunde Thätigkeit so vorzüglich organisirte englische Volk in einen Haufen fauler und hochfahrender Schwelger verwandeln mußte. Aber Niemand schien ein rechtes Auge zu haben für die Größe der Gefahr, noch für die Nichtigkeit des zu erreichenden Zieles; Niemand machte sich klar, daß dies im finanziellen genau dasselbe war, was Graf Stanhope, der Minister des Auswärtigen, auf ständischem Gebiete erstrebte durch plötzliche Vermehrung des Adels, um ihn sodann für immer von dem Bürgerstande – aus dem zu entstehen und in seinen überflüssigen Gliedern wieder hinein zu gleiten sein größter Vorzug ist – kastenmäßig abzuschließen, und daß solche Maaßnahmen die Grundfesten der englischen Freiheit erschüttern mußten. In beiden Häusern ging das Gesetz durch, welches den Plan guthieß, denn Alle lebten der, durch die Erfahrung längst widerlegten Ueberzeugung, daß ein Staat mit Schuldenlast nicht bestehen könne, und Viele mochten ihre Arglosigkeit so weit treiben, im Ernst zu glauben, die Minister würden mit dem Ueberschusse redlich die Staatsschuld abtragen; Lord Cowper's treffender Ausspruch im Oberhause, der Plan der Südseegesellschaft werde sich dem trojanischen Rosse ähnlich erweisen, in dem anfänglichen Beifallsjubel wie in dem verwüstenden Ausgange, wurde als Scherz aufgenommen. Ohne das, was eben damals in Paris vorging, wäre die Südseegesellschaft allerdings nicht so bald gesetzlich zum Schwindeln ermächtigt worden. Ein irländischer Abenteurer, John Law, errichtete in Paris eine Bank. Als ihn das Glück leichtsinnig begünstigte, erklärte er Paris für die erste Stadt der ersten[10] Nation der Welt, und fügte dem ersten Plane einen zweiten von unabsehbarer Ausdehnung hinzu. Law verkündigte eine indische oder Mississippi-Gesellschaft, welche das Monopol alles Handels im Stromgebiete des Mississippi haben sollte. Der Zulauf, die Verwirrung, der Golddurst war unbeschreiblich; die Actien erreichten das zwanzigfache des ursprünglichen Werthes. Law war der größte Mann Europa's. Niemand bis zum Herzog-Regenten von Frankreich hinauf fand Beachtung, der nicht vor ihm kroch und ihm auf den Wink gehorchte. »Ich sah ihn an den Hof kommen«, erzählt Voltaire, »und Herzöge, Marschälle und Bischöfe bildeten sein demüthiges Gefolge«. Auch viele Engländer gaben sich dazu her, einem unwürdigen Landsmanne in Paris den Hof zu machen. Der Herzog von Chandos hatte im September 1719 schon £ 300,000 gewonnen; sein Agent, der Jude Moses Hart, nicht viel weniger. Im December '19, als die Londoner Südsee im besten Gange war, erreichte der Pariser Schwindel seinen Siedepunkt und kochte über, wobei sich die verheißenen Goldberge zur Verzweiflung vieler Tausenden nach und nach in Dampf auflösten. Und dasselbe wiederholte sich bei der Südseegesellschaft in London, nur um so viel später als damals der langsamere Verkehr mit dem Festlande bedingte, mit denselben Bestechungen der Minister, Maitressen und Höflinge. Man nannte sie auch die kleine Mississippi-Gesellschaft. Alle Parteien, Stände und Geschlechter mischten und drängten sich im Börsengange. Am vorlautesten waren die Damen. Mehrere der gedruckten Südseeballaden sind angeblich auch »von einer Dame« gemacht, und die neue volksthümliche Melodie, in welcher das Ereigniß besungen wurde, wie sich im Jahre 1720 ganz London nach dem Südseewasser einschiffte um goldne Frösche zu fischen, trieb sich später noch viele Jahre als Südseeballade herum. Diese eine Leidenschaft nach Geld verschlang auf den Augenblick alle andern, wurde aber auch wieder die Mutter aller übrigen; die Südseenatur ist in den Londoner Thorheiten der folgenden Jahre garnicht zu verkennen. Als die Pariser Seifenblase platzte, irrte »der große Law« flüchtig umher, im übrigen blieb dort alles beim Alten. Aber in London – und darin zeigt sich einmal wieder der Unterschied französischer und englischer Natur – bewirkte das Unglück eine heilsame Ernüchterung, der ein strenges Gericht, obwohl keine rechte[11] Selbsterkenntniß folgte. Es gab in dem ganzen Taumel nur einen wahrhaft glücklichen und klugen Spieler, der sich mit einem zehnfachen Gewinne rechtzeitig zurückzog ohne Haß auf sich zu laden, da er das Südseegesetz weder vorgeschlagen noch empfohlen hatte, überhaupt damals nicht im Amte war, nämlich Sir Robert Walpole: und dieser trat jetzt, vom allgemeinen Vertrauen berufen, zwischen Thron und Revolution, und wußte mit seinem unvergleichlichen finanziellen Talente und großen Scharfblicke die Verhältnisse schnell zu ordnen. Er hatte bei seinen Maaßregeln nicht das Gute, sondern nur das Zweckdienliche im Auge; einem Geschlechte, welches nicht gebessert, welches nur beruhigt sein wollte, durfte er alles bieten. Diese rettende That legte den Grundstein zu seiner Macht, die er dann zwanzig Jahre lang durch Mittel aller Art zu erhalten wußte.

Es war natürlich, daß die Gluth des Südseeschwindels in diesem Sumpfe, wo alles sittliche Gefühl für das Verhältniß von Lohn und Arbeit erstickt schien, noch eine zahllose Menge ähnlicher Geschöpfe ausbrütete. Im Juni '20, als die Tollheit dem Siedepunkt nahe war, entstanden in einer Woche »über sechzig neue Schwindel«!1 Die Pläne der zum Spott erdachten Vereine waren nicht abgeschmackter und abenteuerlicher, als der ernstlich gemeinten. Fast alle entstanden ohne Recht und Billigung. Auch der Kronprinz, der damals beständig mit dem König haderte, erschnappte £ 40,000 als Vorsteher der ebenfalls unrechtmäßigen Walliser Kupfergesellschaft, und war so erpicht auf diese neue Art von Goldfischerei, daß er nicht eher davon abließ, bis seine Gesellschaft mit gerichtlicher Verfolgung bedroht wurde. Der Herzog von Chandos und sein Agent Moses standen natürlich von Anfang an im dichtesten Haufen.

Einer dieser Vereine nun, einer der frühesten und ohne Frage der beste von allen, war unsere Akademie für italienische Opernmusik; und obwohl eine solche Anstalt ihrer Natur nach sich bald dem Kreise des Börsenschwindels entziehen mußte, war doch schon durch diesen Ursprung ihre nachherige Entwicklung wesentlich vorgezeichnet.[12]

Dies führt uns denn zugleich auf den Punkt, der bei einer richtigen Untersuchung aller Verhältnisse der damaligen Zeit, der politischen, gesellschaftlichen, religiösen und künstlerischen, immer wieder sichtbar werden wird: auf die überragende Bedeutung der musikalischen Kunst und ihre prangende Gesundheit in dieser Zeit krankhafter Unnatur, auf ihre reißend schnelle Entwicklung in dem versumpfenden Stillstande aller übrigen Kräfte, mit einem Worte, auf die Tonkunst als die Bildungsstätte guter, dauernder, idealer Schöpfungen in einer unläugbar schlechten und unproductiven Zeit. Nicht zum ersten Male war es, daß die Musik sich zu einer solchen wahrhaft geschichtlichen Bedeutung aufschwang. Wiederholt schon hatte in ihr das Gesunde und echt Künstlerische eine gedeihliche Zufluchtsstätte gefunden, namentlich in der zweiten Hälfte des 16. und in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Aber stets verhielt sie sich mehr schützend, als kräftig eingreifend, da sie nur die Kirche und die Kunstgenossen, nicht aber eine urtheilende Zuhörerschaft, ein wirkliches Publikum, zu berücksichtigen hatte. Hingegen jetzt in Händel's Zeit, und am meisten durch ihn selbst, tritt diese Kunst frei vor alle Welt hin, zweierlei erstrebend: innere Vollendung für sich selbst, und die Heranbildung der Oeffentlichkeit für das Verständniß der Kunstwerke. So erleben wir das bis dahin für unmöglich gehaltene, daß diese Kunst auf Jahrzehende die Grundkraft, der Träger der geschichtlichen Entwicklung wird; daß sie das Schlechte der Zeit nach und nach ausscheidet, die besseren Kräfte aller Art sammelt, fortleitet und läutert, bis sie mit neuer Stärke in andere Gebiete überströmen konnten; daß sie den Halt bildet, dem das Schwankende sich unbewußt zuneigte; das Gebiet, in welchem die ureigensten, heftigsten Triebe der Zeit zur Gestaltung gelangten, in der denn auch jeder, willig oder widerstrebend, sein eigen Fleisch und Blut erkannte; daß sie die bedeutendsten Kunstwerke und in den Künstlern zugleich die bedeutendsten Charaktere der Zeit hervorbringt, obschon sie in gesellschaftlicher Schätzung so tief stand: und daß sie daher, und sie allein, es ist, von deren Höhenpunkt aus auf diesen bisher stets unterschätzten und so eigenthümlich verwickelten Abschnitt der neuern Geschichte das rechte Licht fällt.

Schwierigkeiten besonderer Art müssen es gewesen sein, welche[13] sich der Erkenntniß dieses Verhältnisses bis auf den heutigen Tag entgegen stellten; denn man vermißt in den betreffenden Geschichtswerken selbst die leiseste Hindeutung darauf. Und doch müßte in der hier beschriebenen Periode, wo die Tonkunst am mächtigsten auf die Zeit einwirkte und wo ohne ihr Dazwischentreten alles so wüst und unbefriedigend bleibt, das Verlangen nach ihrer Beihülfe auch am meisten empfunden werden. Wer an ihrer Hand diesen Abschnitt durchwandert ist, diese bewegten Jahre, in denen jeder strebende Geist sich unnatürlich gebunden und fieberhaft erregt fühlte, diese Zeit voll geistigen Ringens wie voll sinnlicher Begehrlichkeit, in der das Laster sich offen auslebte, Wissenschaft und Kunst zeitweilig so tief sanken als sie überhaupt nur sinken können, und schließlich dennoch unerwartet Großes heranreifte: der erkennt sie nicht wieder in dem Bilde, welches in den Geschichtsbüchern steht. Lord Mahon möchte sie sogar als innerlich ruhig, friedvoll und abgeglättet erscheinen lassen, denn er bemerkt zur Einleitung in die Jahre 1720–40: »Die zwanzig Jahre der Verwaltung Walpole's, zu ihrer hohen Ehre sei es gesagt, bieten der Geschichte verhältnißmäßig wenige Ereignisse dar. Ich werde deßhalb von diesen Jahren viel weniger zu sagen haben, als von den lärmvollen Perioden vor und nach ihnen; doch möge der Leser darum nicht glauben, daß der Fluß meiner Erzählung sich geändert habe, weil er auf glattem Boden schneller dahin eilt.«2 Aber auch einsichtigere Schilderungen, auch die Prunkreden gegen den Hofhalt der George im Style Thackeray's, oder die farbenreichen Charakterbilder, mit Macaulay's Pinsel gemalt, sind wenig geeignet jene versöhnende Wahrheit hervortreten zu lassen, welche jede Zeit in ihrer eignen Tiefe birgt und ohne deren Darlegung die Geschichtschreibung ihr Amt nur sehr ungenügend verwaltet.

Fußnoten

1 »Applebee's Das Wort bubble hatte schon vor 1720 eine verächtliche Nebenbedeutung dieselbe wurde aber durch den Südseeschwindel allgemeiner verbreitet


2 Geschichte England's vom Utrechter bis zum Versailler Frieden. II, 35 der deutschen Ausgabe.

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1860.
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