1. Neue Oratorien.

1738–1740.

[4] Den letzten Opern Händel's gehen einige oratorische Werke zur Seite, deren Geist ein ganz anderer ist, aber deren nächstes Schicksal dasselbe war. Dennoch können wir bemerken, wie sich die kleine Gemeinde der edel gesinnten und wahren Freunde der Tonkunst an ihnen aufrichtet und zum Kampfe stählt, nicht nur gegen die Feinde einer solchen musikalischen Erhabenheit und Reinheit, sondern zugleich gegen alles Schlechte und Sittenlose, gegen alle rohe Tyrannei, gegen Alles was die Keime eines besseren Lebens ersticken wollte. Auf ein siegreiches Durchdringen des als groß und schön und wahr Erkannten mußte man vorläufig verzichten. Niedergeschlagenheit, Verödung, Erfolglosigkeit aller großen Unternehmungen, Hemmung und Stillstand des Lebens ist der Charakter dieser Jahre.. Das Hofleben war durch den Tod der Königin verödet, das englische Theater[4] durch das Theatergesetz; die Oper ruinirte sich durch das Castratenwesen; das Oratorium kämpfte vergeblich gegen eine stumpfsinnige Opposition, die parlamentarische Opposition ebenso vergeblich gegen eine verdorbene Regierung, und die Entnervung der unteren Stände hatte durch das damals neue Laster des Gin-(Wachholderbranntewein-) trinkens in einem schreckenerregenden Maaße zugenommen. Auch der heitere Leichtsinn früherer Tage schien sich verlieren zu wollen: Punch und die Dunze verschwanden, Grubstreet-Journal fand keinen Stoff und keine Leser mehr. Nur Heidegger's Maskeraden und verwandte Spiele und Ausschweifungen hörten nicht auf, und das Getriebe der Staatsverwaltung blieb in seinem alten Gange. Die Corruption hatte gesiegt! Vielen, die sich bis dahin wacker gehalten, entsank jetzt der Muth; Widerstand schien erfolglos, Versuch des Guten auf eigne Hand nutzlos, die ganze Lage völlig hoffnungslos. Ging doch Fielding in seinem wilden Roman »Jonathan Wild der Große«, einer satirischen Verherrlichung des im zweiten Bande (S. 196) geschilderten Helden der Bettler-Oper, jetzt so weit, zu erklären, alle »Großen« d.h. alle Machthaber seien werth gehängt zu werden! Aber was für die Zeitgenossen so niederdrückend war – die allgemeine Erstarrung –, ist uns Späteren ein sicheres Zeichen, daß sich ein Uebergang vorbereitete, eine Erneuerung des Lebens nicht durch äußere Umwälzung, sondern durch innere Läuterung. Deßhalb vermochte auch eine so innerliche Kunst, wie die Musik, die ersten und ursprünglichsten Regungen dieser neuen Zeit zu verkündigen. Hier ist der Punkt, wo Händel's größte Werke auf's engste mit dem Leben der Zeit verflochten sind, ja selber als das bessere Leben dieser Zeit angesehen werden müssen.

In innigster Beziehung zu England stehend und von unermeßlicher Wohlthat für die Kräftigung des britischen Volksthums, sind sie doch keineswegs in diesem Volksganzen beschlossen oder nur überhaupt als eine nationale Regung anzusehen. Wäre das, was sich damals in England bildete, nicht von allgemeiner Bedeutung, wäre es nicht ein Erwachen des siegreichen germanischen Geistes aus dem Reformationszeitalter gewesen – Händel's Töne würden nicht in diesem Kreise laut geworden sein. Eine herkömmliche, von England ausgegangene und selbst von Deutschen nicht widersprochene[5] Annahme räumt den Engländern zwar ein nationales Anrecht auf Händel's Musik ein; aber eben hier an entscheidender Stelle, wo solches, wenn es gegründet wäre, auch nachweisbar sein müßte, läßt sich unwidersprechlich das Gegentheil beweisen.

Es ist gewiß, daß Händel's Musik bei den Engländern die Liebe zum Vaterlande und zum Königthume gekräftigt hat. Als sie aber, durch den Schwung seines Geistes in eine hoch musikalische Stimmung versetzt, sich nach einem Ausdrucke sehnten, der in nationaler Eigenthümlichkeit ihr Gefühl ausspräche, fanden sie in dem unerschöpflichen Reichthume Händel's nichts, was ihnen völlig Genüge that, wohl aber in dem bescheidenen Schatze derjenigen Landsleute, die hauptsächlich auf Händel's Felde Aehren lasen. Es ist sein Ruhm, durch die Gewalt seiner Musik ein Volk so im Innersten erregt und erhoben zu haben, daß es, obschon so weit von den jugendkräftigen Tagen des ausgehenden Mittelalters entfernt, noch einmal wieder das Gesammtbewußtsein in neuen Volksgesängen aussprach; aber es ist zugleich ein entscheidender Beweis für Händel's universale, nur auf die Höhenzüge des Kulturlebens der ganzen Zeit gerichtete und insofern nicht nationale Sendung, daß diese neuen Gesänge, die ohne ihn nie entstanden wären, doch nicht von ihm selber, sondern von gebornen Engländern ausgingen. Am 1. August 1740 führte Augustine Arne sein Singspiel (mask) Alfred vor dem Prinzen von Wales in Cliefden auf, und hierin zuerst wurde das später so berühmt gewordene Rule Britannia gesungen. Und wenige Jahre später dichtete und componirte Henry Carey sein weltberühmtes God save the king. Diese beiden Gesänge, von denen der letzte unzweifelhaft der größte Nationalgesang der neueren Zeit ist, traten also zu Tage als Zeitgenossen und Nachbaren von Israel in Aegypten, Messias und Samson. Beide, Arne und Carey, waren begeisterte Verehrer Händel's. Carey wurde geradezu angeregt durch den prachtvollen Chor God save the king aus den Krönungsanthems. Es war nämlich nachgerade allgemeine Sitte geworden, die Concerte in London mit diesem Chore Händel's zu beschließen; bei so häufiger Wiederholung mußte sich indeß herausstellen, daß derselbe für bescheidene Kräfte der Ausführung nicht einfach genug und für alltäglichen Gebrauch zu schwunghaft großartig war. Carey schuf nun[6] seinen planen Gesang, der nach und nach die Stellung des kunstvollen Chores einnahm und auf welchen in Folge dessen unpassend genug sogar der Name »Anthem« überging.1 Arne's Hymnus steht in musikalischer Beziehung in einer so nahen Beziehung zu Händel, daß man fast von Entlehnung sprechen kann. Im Ganzen ist das Verhältniß aber so, daß Arne um soviel zu den Neuitalienern neigt, als Carey zu den altenglischen Balladen, während Händel mit seiner großen, durch nationale Schranken ungehemmten Kunst frei in der Mitte steht. Was schon früher zur Zeit der Balladen-Singspiele sichtbar wurde, sein ablehnendes Verhalten zu aller bloß nationalen Musik, zeigt sich hier erst im vollen Lichte; und es ist nur einfache Folgerichtigkeit, wenn wir hinzufügen, daß die Autorschaft von Rule Britannia und God save the king Händel unzweifelhaft zu einem wirklichen Engländer gemacht haben würde, aber auf Kosten seiner universalen Stellung im Reiche der Tonkunst.

Mancherlei edle Bestrebungen der Jahre seit 1738, an verschiedenen Punkten und in verschiedenem Sinne unternommen, bewegten sich alle nach demselben Ziele. In dem Monate, in welchem ein Concert zur Unterstützung Händel's abgehalten wurde (II, 449), nahmen Pope, Burlington und Andere den Gedanken Rich's ein Shakespeare-Monument in der Westminster-Abtei zu errichten (II, 202), wieder auf. »Verschiedene vom Adel sind überein gekommen, in der Westminster-Abtei ein stattliches Monument zu errichten zum Andenken des Hrn. William Shakespear, des berühmten englischen Dichters (to the memory of Mr. William Shakespear, the famous English Poet)2 Drurylane und Coventgarden gaben eine Vorstellung zu diesem Zwecke, letzteres am 10. April '39, worüber die Zeitung des nächsten Tages also berichtet: »Letzten Abend wurde die Tragödie[7] Hamlet im kön. Theater in Coventgarden aufgeführt zwecks Beschaffung einer Summe für die Errichtung eines Monumentes zum Andenken Shakespear's: bei welcher Gelegenheit man hätte erwarten sollen, daß eine größere Versammlung anwesend sein würde, als der Fall zu sein schien. Doch Lord Burlington gefiel es, aus Hochachtung für das Andenken eines so großen Mannes, allein zehn Guineen beizusteuern.«3 Fast mit denselben Worten hat man über Concerte berichtet, welche kürzlich in einigen deutschen Städten zum Besten des Händeldenkmals für Halle veranstaltet wurden. Shakespeare's Monument kam 1740 zu Stande.

Während sich dieses Unternehmen mehrere Jahre hinzog, führte ein Privatmann das Seitenstück dazu in einigen Monaten aus. Gleichsam als wolle man uns die beiden Männer einziger Art und Verwandtschaft, Shakespeare und Händel, immer wieder von neuen Seiten vereinigt vorführen, wird uns drei Wochen nach der Ankündigung des Shakespeare-Monumentes mitgetheilt: »Ein Bild von Hn. Händel, dem berühmten Componisten, soll auf Kosten des Hn. Jonathan Tyers in den Vaurhall-Gärten aufgestellt werden.«4 Tyers war der Unternehmer dieser Vergnügungen, die in einem schönen Garten an der Themse, Vaurhall genannt, stattfanden. Er besaß für dergleichen Einrichtungen ein außerordentliches Geschick und machte seinen Garten zu einem Sammelplatze der vornehmen Welt. Eintausend Subscribenten erhielten silberne Karten, welche 25 Shilling kosteten und für je zwei Personen gültig waren; sonstige Besucher zahlten für den Eintritt einen Shilling. Sonntags ausgenommen, war hier von Ende April bis Anfang August jeden Abend Musik zu hören, hauptsächlich vom Orchester, zum Theil aber auch von Sängern oder auf der Orgel ausgeführt. Vauxhall ist bis auf unsere Zeit ein Vergnügungsort geblieben, freilich ohne seinen alten Glanz zu bewahren, und erst im Jahre 1859 geschlossen um zu Bauplätzen verwendet zu werden. Unter der kunstvollen Leitung von Tyers und der großen Betheiligung des damaligen englischen Adels an allen öffentlichen Vergnügungen erlangten diese Gärten[8] eine gesellschaftliche Bedeutung, welche sie von glücklichen und zum Theil sehr glänzenden Nachahmungen noch immer vortheilhaft unterscheidet.

Die Ausführung des originellen Unternehmens dieses dankbaren Händelianers ist aus der London Daily Post zu ersehen. Am 18. April heißt es: »Man versichert uns glaubwürdig, daß eine Statue von dem mit Recht gefeierten Hn. Händel schon beinahe fertig ist, eine ausgezeichnete Arbeit des begabten Bildhauers Roubillac, aus einem einzigen Block weißen Marmors gehauen, und daß sie in einer großartigen Nische aufgestellt werden soll, welche zu diesem Zwecke in der großen Grotte der Vaurhall-Gärten errichtet ist: alles auf Kosten des Hn. Tyers, des Unternehmers der dortigen Vergnügungen, welcher in Erwägung des eminenten Verdienstes jenes unnachahmlichen Meisters es für angemessen erachtete, daß sein Bildniß dort thronen solle, wo seine Harmonie so oft selbst die gedrängtesten Mengen in die tiefste Stille und das anständigste Betragen gezaubert hat; man glaubt, daß die Kosten für Statue und Nische zusammen nicht weniger als. £ 300 betragen können; gleicherweise hat Herr Tyers bei dem neulichen Benefiz für Hn. Händel sehr edelmüthig funfzig Billets genommen.«

Am 27. April: »Gestern wurde eine Marmorstatue von Hn. Händel über das Wasser [die Themse] gebracht, um in Vauxhall-Gardens aufgestellt zu werden.«

Am 2. Mai: »Letzten Abend wurden die Vergnügungen in den Frühlingsgärten zu Vauxhall eröffnet bei einer ansehnlichen Gesellschaft von Personen beiderlei Geschlechtes. Die bei dieser Gelegenheit vorgetragenen Musikstücke waren niemals vorher dort gespielt. Die Versammlung drückte ihren großen Beifall aus über die Marmorstatue des Hn. Händel, welcher in einem leichten Gewande dargestellt ist, die Saiten der Lyra berührend und ihren Tönen lauschend; ein kleiner Knabe zu seinen Füßen scheint diese Musik auf dem Rücken eines Violoncells niederzuschreiben. Die ganze Composition ist in einem sehr eleganten Geschmacke entworfen.«5 Mehrere Gedichte auf Händel und Roubiliac sprachen sich in demselben Sinne aus. Die[9] Statue ist seit längerer Zeit ein Eigenthum der Sacred Harmonic Society in London. Die Thatsache, daß Händel schon bei seinen Lebzeiten ein Denkmal erhielt, nimmt jetzt unsere Bewunderung mehr in Anspruch, als das Kunstwerk selbst; denn bei diesem scheint Rubiliac Eleganz auf Kosten der wirklichen Gestalt erstrebt zu haben, wahrscheinlich weil Händel in Folge seiner Krankheit eine Erscheinung darbot, die nicht einfach zu copiren war. Das Gesicht ist zu alt für einen Sohn Apoll's, der ganze Ausdruck etwas schwächlich. Rubiliac, noch ein junger Mann, hatte Händel in der Blüthe seiner Jahre nicht gekannt, weßhalb ihm auch eine passende Verjüngung nicht gelingen wollte; vielmehr sah er manchen Zug der Gestalt als normal an, der sich doch nur aus dem augenblicklichen Zustande erklärte: und so haben sich einige tiefe Spuren der Krankheit in den Marmor eingedrückt. Von der Aehnlichkeit sprechen wir weiter unten bei der Verhandlung über die Händelbilder. Daß Händel eben in den Tagen seines Benefizconcertes ein Denkmal erhielt, ist von größerer Bedeutung, als daß er es überhaupt schon bei Lebzeiten erhielt: denn Tyers' Unternehmen war unter den damaligen Umständen ein Protest aus der unterdrückten Minderheit, und dies unterscheidet Händel von allen denen, welchen im Rausche aufbrausender, oft mißleiteter Begeisterung dieselbe Ehre zu Theil ward.

In dieser Zeit, wo Denkmale für Shakespeare und Händel entstanden, zeigte England sich in der Abwehr der ausländischen Bühnenspiele auch kräftiger und rücksichtsloser als bisher. Kaum war Herrn Punch und seinen derben Possen durch das Theatergesetz von 1737 der Mund gestopft (vgl. II, 406), so setzte sich eine Gesellschaft italienisch-französischer Komödianten von Paris aus in Bewegung, erwirkte sich in London sehr leicht Erlaubniß zum Auftreten und die Unterstützung der Großen. Die Posse an sich war nicht gegen den Geschmack der Theatergesetzgeber, nur der patriotische Stachel sollte ihr genommen werden; deßhalb gestattete man dem Signor Arlequino, was Mr. Punch untersagt war, und die verflossenen zwanzig Jahre schienen sich noch einmal wiederholen zu wollen. Aber es kam anders. Am 9. October '38 gaben die Pariser in Haymarket ihre erste Vorstellung; das Stück hieß »L'emberras des richesses«, Harlequin war die Hauptperson. Die Versammlung empfing sie[10] mit Zischen, Werfen, Schreien und Toben. Der Friedensrichter bemühte sich vergebens die Ruhe herzustellen. Mehrmalige Versuche, das Spiel anzufangen, scheiterten immer wieder. Dann wurden die Musikbücher zerrissen, Pulte umgeworfen u.s.w. Erst nach acht Uhr nach mehrstündigem Spektakel ging alles auseinander; die Fremdlinge erhielten beim Hinausgehen Rippenstöße und machten sich mit Furcht und Zittern eilig davon. Das neue Theatergesetz drückte allerdings nur englische Dichter und Spieler; Ausländer hatten freie Hand sobald überhaupt die Erlaubniß erlangt war. Dies erbitterte Altengland. Schon in dem Eifer, mit welchem die Zeitschriften den Gegenstand verarbeiteten, kann man das Wachsen des Nationalgefühls wahrnehmen. »Ich hoffte«, schreibt ein »Misogallicus«, »als die Oper fiel und die Nation das Schlechte und Thörichte eines solchen Luxusartikels einsah, ich hoffte wir würden fürder nicht von fremdem Geschmeiß verpestet werden: aber wie sehr ich mich geirrt habe, sieht jetzt alle Welt, denn kaum sind wir von einer Pest befreit, so stellt sich schon eine andere ein.« »Unsere Stutzer schreiben alle französisch«, schließt ein anderer seine Epistel, »unsre Damen singen italienisch, und deßhalb laßt unsere Schauspieler fortfahren englisch zu sprechen, sei es auch nur um den Mobb zu vergnügen.«6 Man hob nicht nur das Ungerechte eines Gesetzes hervor, welches allein die Erzeugnisse der Eingebornen überwachte, während das Ausländische auf tausend Wegen frei eindrang, ähnlich wie in schlechten Staaten jedes freie Wort unterdrückt und dagegen das schlüpfrigste Schriftthum geduldet und befördert wird: sondern man ging weiter und stellte die Shakespeare, Jonson, Dryden u.A. gegen die dramatischen Größen des Auslandes, namentlich des gepriesenen Frankreich. Hierin besonders sieht man einen großen Fortschritt im Vergleich zu den Zeiten von 1712, wo Addison's Cato, nach französischen Vorbildern gearbeitet, als Mustertragödie bewundert wurde. Diese Zeit des französischen Druckes auf Kunst und Geschmack war jetzt im Verscheiden, und englische Derbheit und Kurzangebundenheit that das ihrige um sich so schnell wie[11] möglich derselben zu entwinden. Die Wirkung dieser Abwehr und überhaupt des neubelebten englischen Drama offenbarte sich schon nach einigen Jahren in Deutschland, am reinsten und tiefsten bei Lessing, fast gleichzeitig mit der ebenfalls von England kommenden episch-musikalischen Strömung welche Klopstock's Geist in Bewegung setzte: und so gehen die beiden ursprünglichsten und stärksten Antriebe der neuern deutschen Dichtung auf die englische Bewegung dieser und der folgenden Jahre oder, mit andern Worten, auf Shakespeare und auf Milton-Händel zurück.

Aber in welcher Reihe erfreulicher und bedeutsamer Thaten auf dem Gebiete der Kunst die Abwehr des italienisch-französischen Theaters von Seiten Englands auch stehen möge, so ist es doch immer bedenklich, daß man das Fremde nicht mehr anders als durch Faustschläge zu vertreiben wußte. Diese Heldenthat stand keineswegs vereinzelt da, sie war nur ein verhältnißmäßig kleines Anzeichen der allgemeinen Verwilderung; ein sehr großes aber gab sich in demselben Jahre als Kriegsgeschrei gegen Spanien kund und entzündete, alle Besonnenheit übertobend, einen ungerechten allgemeinen Krieg, dessen Ergebnisse zu seinen Leiden in einem beschämenden Verhältnisse standen. Auf Grund unzulänglicher und unverbürgter Klagen englischer Kaufleute und Schiffer, wesentlich nur darauf hinaus laufend, daß Spanien in Westindien ihnen nicht gestatten wollte ungestraft zu schmuggeln, entflammten die »Patrioten« das Volk; selbst der König und einige der Minister traten auf ihre Seite, nur Walpole blieb besonnen. Als dieser aber zuletzt sich zu entscheiden hatte, ob die gerühmte Friedensliebe wirklich der Grundzug seiner Regierung oder nur ein Mittel für seine Herrschsucht war, sprach er sich selbst das Urtheil, indem er gegen Ueberzeugung und Einsicht in einen Krieg willigte, um sich im Amte zu erhalten, und dieses wurde sodann die Ursache seines baldigen schmähligen Falles. Der Jubel über den endlich erklärten Krieg äußerte sich so erschreckend maaß- und würdelos, daß man darin den Ausbruch einer thierischen Verwilderung zu erkennen meint; doch müssen wir nach dem, was schon vorhin bei verschiedenen Gelegenheiten über den Geist der langen Friedensjahre und die in ihnen ausgebrüteten Laster gesagt ist, diese Bewegung von einem ganz andern Gesichtspunkte aus beurtheilen.[12] Trotz aller rohen Begehrlichkeit, welche nach Gold-und Ländergewinn lüstern war und den Südseeschwindel jetzt mit bewaffneter Macht in's Werk setzen wollte, sog die kriegerische Flamme doch ihre eigentliche Nahrung aus den so lange unnatürlich gehemmten und zurückgedrängten besseren nationalen Kräften, die Bewegung um jeden Preis erstrebten. Daß sie sich überstürzten und eine verkehrte Richtung einschlugen, war unter solchen Umständen sehr natürlich aber nicht gefahrbringend, da die Verirrung noch rechtzeitig erkannt und selbst von den Anstiftern und Leitern verurtheilt wurde. »Einige Jahre später«, erzählt Burke, »hatte ich das Glück mit manchen von denen zu reden, die vornämlich gegen Walpole aufgetreten waren, wie mit solchen die das Kriegsgeschrei hauptsächlich veranlaßt hatten. Keiner von ihnen, nicht ein einziger, vertheidigte die Maaßregel auch nur im geringsten oder suchte sein Benehmen zu rechtfertigen. Alle sprachen eine so freimüthige Verdammung über den Krieg aus, als erörterten sie einen geschichtlichen Vorgang bei welchem sie garnicht betheiligt wären.«7 So ehrlich dieses Bekenntniß auch war, wurde es der eigenthümlichen Bedrängniß der Jahre 1738–40 doch bei weitem nicht gerecht. Den Männern erschien jene Zeit, in welcher die meisten von ihnen als junge Leute ihre Laufbahn lärmend und glänzend eröffneten, nicht mehr in ihrem rechten Lichte; über der noch immer kläglichen Regierung vergaßen sie, daß damals weniger Spanien, als Walpole, »Englands Kettenhund und Spaniens und Frankreichs Schooßhund«, zu bekriegen war und daß erst, nachdem solches gelungen, nach und nach reinere Kräfte in die Verwaltung kommen konnten; sie vergaßen, verhärtet und sittlich abgestumpft durch langjährige Regierungspraxis, daß es sich damals zunächst garnicht um internationale und politische, sondern hauptsächlich und vor allen um nationale und gesellschaftliche Fragen handelte, daß der Gewinn der ganzen Bewegung nicht nach den erlangten äußeren Siegen, sondern nach der erreichten inneren Läuterung, Umwandlung und sittlichen Besserung zu bemessen war, überhaupt, daß ein alterndes Geschlecht mit allen seinen Lastern versinken und ein neues und[13] edleres sich erheben und zur Herrschaft gelangen wollte. Ein solches Vergessen der eignen besseren Jugend hat es auch verschuldet, daß diese Jahre um 1740 bis auf den heutigen Tag für die englische Geschichte rein verloren gewesen sind, daß ihre Bedeutung als Ausgang aller derjenigen Bestrebungen und Lebensweisen, die den Charakter des neuen England bestimmt und seinen unermeßlichen Einfluß auf das Ausland begründet haben, noch niemals erkannt und geschichtlich nachgewiesen ist. Befragen wir das Bewußtsein jener Tage über sich selber, so fehlt es nicht an Orakeln, welche das, was Thatsachen lehren, in ihrer Art bekräftigen. Der scharfsichtige und bei aller satirischen Schärfe und Bitterkeit doch sehr gemüthswarme humane Alex. Pope war eine solche Pythia seiner Zeit; im besseren Sinne leidenschafts- und interesselos während der allgemeinen leidenschaftlichen Aufregung und Verblendung, sah er die Zeit gekommen wo die alten Parteien in Auflösung begriffen waren und die alten Häupter der Opposition, seine langjährigen Freunde, auf der Waage patriotischer Tugend als zu leicht befunden wurden. Aber zugleich erkannte er auch eine sich vorbereitende heilsame Umwandlung in dem Hervortreten jüngerer Staatsmänner von reinerem Charakter, als die Walpole Bolingbroke Pulteney, – und indem er sich, selbst mit Darangabe mancher alten Freunde, immer mehr der Jugend zuwendet, kann man wahrnehmen, wie sich über sein Wesen eine wohlthuende Wärme, Milde und hoffnungsfrohe Unparteilichkeit verbreitet. »Die Herzogin von Marlborough«, schreibt er in seinem letzten Briefe an Swift, »macht mir sehr den Hof; doch ich bin zu alt für sie, an Geist und Körper; aber ich unterhalte Freundschaft mit einigen jungen Leuten, denn es mögen ehrliche Männer sein: wohingegen bei den alten die Erfahrung nur zu häufig lehrt, daß sie es nicht sind; ich habe zehn weggeworfen wo ich einen aufnahm, und hoffe nun mit den wenigen, die ich in der Hand habe, um so besser zu spielen. Da ist ein Lord Cornbury [Sohn des Grafen von Clarendon], ein Lord Polwarth [später Graf von Marchmont, vgl. I, 43], ein Herr Murray [seit 1756 Lord Oberrichter Mansfield] und noch einige andere, mit denen ich mich nicht fürchten würde gegen alle Corruption der Welt Stand zu halten.«8[14]

Noch andere Bestrebungen regten sich, die vielfache Noth der Zeit zu heben; reiner in ihrem Kern als die genannten politischen, trugen sie auch edlere Früchte. Obwohl man den Druck der gesellschaftlichen Uebel allgemein empfand, war doch weder die Gesetzgebung stark noch die Privatwohlthätigkeit willig genug, hier gründlich zu helfen: jetzt plötzlich schien die frühere Herzlosigkeit gegen Arme, Verwaiste, Verstoßene und Schuldgefangene einer edlen Mildthätigkeit weichen zu wollen, und neue Vereine und Hospitäler entstanden aller Orten. Wir werden im Verlaufe noch öfter davon hören; hier seien nur zwei der bedeutendsten dieser Vereine genannt, und zwar diejenigen beiden, welche ohne Händel nicht das geworden wären, was sie wurden – der Hülfsverein für arme Musiker, und das Findlingshospital.

Das große Musiktreiben der letzten zwanzig Jahre und die anscheinend glänzende Belohnung musikalischer Verdienste hatte eine sehr große Anzahl wirklicher oder vermeintlicher Talente auf diese Bahn gelockt. Manche, die sich zu hohen Dingen berufen glaubten, litten Schiffbruch an ihren Hoffnungen und geriethen in Verwirrung und Elend; andere waren durch Krankheit verarmt; nicht wenige hatten sich durch Leichtsinn an den Bettelstab gebracht; viele, die sich redlich ernährten solange sie kräftig waren, mußten im Alter Noth leiden; mehrere endlich starben früh dahin und ließen eine darbende Familie zurück. Violinist Festing und sein Freund Dr. Greene faßten anfangs 1738 den Gedanken zu einem musikalischen Hülfsverein, als sie einmal die Kinder eines bekannten verstorbenen Musikers betteln sahen; Händel trat sofort hinzu; ferner Arne, Carey, Beard, Gates, Schmidt, Morgan, Weidemann, Galliard, Hayes, Pepusch und viele andere. Alle Parteien und Richtungen reichten sich hier die Hand zu gemeinsamer Hülfsleistung. Die erste Versammlung fand am 19. April '38 an einem Sonntag Abend in dem bekannten musikalischen Gasthause »Krone und Anker« statt; die zweite, in welcher vierzehn Artikel angenommen wurden, ebendaselbst am 7. Mai. Als »The Society of Musicians« setzte man sich den Zweck, einen Schatz zu sammeln zur Unterstützung armer und betagter Musiker und ihrer Familien (a Fund for the support of Decayed Musicians and their Families); das Institut wurde deßhalb gewöhnlich[15] kurzweg »Musical Fund« genannt. Der geringste jährliche Beitrag betrug zehn Shilling (31/3 Thlr.). Die wöchentliche Verwilligung an einen alten Musiker ohne Familie wurde ebenfalls auf 10. Sh. gesetzt, Krankheitsfälle ausgenommen. Hülfsbedürftige Wittwen erhielten jede Woche 7 Sh.; für die Kinder sollte nach Kräften gesorgt werden; ein Zuschuß bis zu 20 Sh. wurde bewilligt um ein anständiges Begräbniß zu ermöglichen. Außer den gewöhnlichen Beiträgen bezog die Gesellschaft (seit 1739) von der Innung zur Unterstützung armer Predigersöhne (II, 270, jährlich £ 50, wofür sie bei der jährlichen Feier in der St. Paulskirche und in der Kaufmannshalle die Orchestermusik lieferte. Aber die weitaus bedeutendste Unterstützung gewährte Händel – er »dessen Wohlthätigkeit nicht bloß in den Tagen des Ueberflusses hervortrat, sondern selbst damals als er selber am Abgrunde des Ruins stand«9, und dessen Gabe daher hier ein Segen war wie das Scherflein der Wittwe. Ja was mehr ist, er gab nicht nur in der Noth, sondern that es auch noch mit besonderer Aufmerksamkeit und Freudigkeit; er bereitete und schmückte sein Opfer wie zu einem Feste, wählte das beliebteste Werk und suchte es durch neue Compositionen noch besonders anziehend zu machen. »Wir hören«, schreibt die London Daily Post, »daß am 20. dieses Monats, nächsten Dienstag, Alexandersfest zum Besten des Vereins für die Unterstützung armer Musiker und ihrer Familien wird aufgeführt werden, und daß Hr. Händel edelmüthig das Opernhaus dazu hergegeben hat und die Aufführung selbst zu leiten beabsichtigt.«10 Der 20. März fiel auf einen seiner Oratorienabende; Händel's Ankündigung lautet: »Alexandersfest zum Besten der Kasse für arme Musiker, mit verschiedenen Concerten für die Orgel und andere Instrumente, besonders einem neuen Concerte, welches Hr. Händel zu diesem Zwecke componirt hat.«11 Ueber den schönen Erfolg lesen wir: »Am Dienstag Abend wurde Alexandersfest zum Besten des Vereins für arme Musiker vor einer zahlreichen und gebildeten Versammlung im Haymarket-Theater aufgeführt; verschiedene[16] der Subscribenten, obwohl sie wie gewöhnlich ihre Karte zugesandt erhielten, waren so freigebig an der Kasse zu zahlen, und andere haben dem Vereine später Geschenke gesandt; Herr Händel gab das Haus und seine Aufführung gratis, und Herr Heidegger machte ein Geschenk von £ 20 um die sonstigen Ausgaben zu bestreiten.«12 Im nächsten Jahre, am 28. März '40, gab Händel für den Verein Acis und Galatea nebst der kleinen Cäcilienode, unter denselben Bedingungen. Im Winter 1740–41 war sein Oratorium in Lincoln's-Inn-Fields, aber das Concert für seine armen Kunstgenossen gab er in dem großen Heidegger'schen Theater am 14. März '41, wo die Serenate Parnasso in Festa »mit den Originalscenen und Kleidern wie sie für die Hochzeit J.K.H. der Prinzessin von Oranien componirt und aufgeführt wurde« zur Vorstellung kam; dazu fünf Concerte (Soli) von den bedeutendsten Instrumentalisten, nämlich Weidemann (Flöte), Martini (Oboe), Clegg (Violine), Caporale (Violoncello) und Miller (Fagott).13 Hierdurch wurde für den Verein ein fester Grund gelegt, so daß ihm gleich anfangs mehrere tausend Thaler zur Verfügung standen. Ein Vermächtniß von £ 1000, das größte welches der Gesellschaft zu Theil wurde, war Händel's letztes Geschenk an seine musikalischen Brüder.14

Das andere Pflegekind Händel's, das Hospital für Findlinge (Foundlings Hospital), geht in seinen Anfängen ebenfalls auf das Jahr 1738 zurück. Um die Größe und Verderblichkeit des hier vorliegenden Zeitübels einigermaßen zu begreifen, erinnere man sich nur, daß der berühmteste und bedeutendste Roman dieser Zeit »Tom Jones der Findling« heißt. Mehrere vornehme Damen besprachen die Errichtung eines solchen Waisenhauses, um die vielen Kindesmorde zu verhüten und dem Gezücht der Straßenräuber seinen natürlichen Zuwachs zu entziehen; der König zog die Sache ernstlich in Erwägung. Dies erfahren wir aus einer Zuschrift an den »Right Hon. W.P.«, in welcher hervor gehoben wird, daß hier namentlich Privatwohlthätigkeit[17] helfend eingreifen müsse, und der Banker Drummond sei zur Entgegennahme von Liebesgaben bereit.15 Aber die Zuschrift kam nicht an den rechten Mann, denn W.P. (womit nur William Pulteney gemeint sein kann) war zwar außerordentlich reich, aber auch außerordentlich geizig; mit frommen Wünschen ließ sich kein Hospital bauen, und so blieb die Sache liegen, bis der edle Captain Coram (durch Hogarth's Portrait weitbekannt) ihr sein Vermögen und alle Kraft seiner alten Tage widmete. Die Maler, Hogarth an der Spitze, unterstützten ihn durch Ausstellung ihrer Bilder im Hospital, was als die erste Vereinigung dieser Art die Anregung gab zur Gründung der späteren Royal Academy. Dennoch würde es dem herrlichen Manne schwer geworden sein, seinem Waisenhause eine genügende Zahl williger Geber und warmer Freunde zu verschaffen, wenn ihm Händel nicht zu Hülfe geeilt wäre und die Gemüther zu entflammen gewußt hätte. Mainwaring sagt sehr wahr: »Zu einer Zeit wo dieses Institut noch in seiner Kindheit war, wo alle Menschen von seinem Nutzen überzeugt schienen, wo weiter nichts zweifelhaft war als nur die Möglichkeit es zu unterhalten: faßte Händel den edlen Entschluß, demselben seine Unterstützung angedeihen zu lassen und den Messias alljährlich [in der Capelle des Hospitals] zu diesem Zwecke aufzuführen. Die jedesmalige Einnahme war sehr beträchtlich und in einer solchen Lage gewiß von großen Folgen. Aber von noch viel größeren war der Zauber seines Namens und der Charakter des vorgeführten heiligen Drama. Hierdurch wurde eine große Anzahl vornehmer Menschen in das Hospital gezogen; und manche, die sich früher mit einer beifälligen Aeußerung über das schöne Unternehmen zufrieden gegeben hatten, wurden jetzt eifrige Beförderer desselben. In Folge dieser Versammlungen wurde die Aufmerksamkeit der Nation auch stärker auf den eigentlichen Zweck des Hauses hingelenkt. Und so darf man wahrlich sagen, daß eine der edelsten und ausgebreitetsten Wohlthätigkeitsanstalten, die je durch Weisheit gegründet oder durch Frömmigkeit gefördert wurden, in gewissem Grade ihren Bestand und blühenden Wohlstand dem Schutze Händel's verdankt.«16[18]

Solche Thaten wärmster Menschenliebe werden sich selber die Lobrede halten; es sind die höchsten Ehrenzeichen seiner Kunst und seines Charakters. Händel steht hier in erster Reihe neben denen, welche die Leiden der Menschheit durch Wohlthun und bessere Erziehung der Jugend zu beseitigen oder doch zu lindern hofften: ein Streben, der damaligen Zeit durchaus eigenthümlich und ein Arbeitsfeld der reinsten Tugend, in welchem die ersten Strahlen des anbrechenden Humanitätszeitalters aufleuchten. Auch der kleine Kern einer weit verbreiteten religiösen Bewegung, die unter der Leitung Zinzendorf's und Wesley's sich gleichmäßig auf Deutschland und England erstreckte und in letzterem Lande eben mit dem Jahre 1738 heftig begann, war nichts anderes als Humanität, Liebe zu den Armen, Hülflosen und Verstoßenen, freilich eingehüllt in so viel Aberglauben, mönchischen Zwang, Formeldienst, Gezänk und Kunstverachtung, daß wir uns durch diese Apostel der Humanität um fünfhundert Jahre in's Mittelalter zurück versetzt fühlen.

Den erwähnten Ereignissen des Jahres 1738 auf dramatischem, politischem, moralischem und religiösem Gebiete schließen sich zwei musikalische an: die Oratorien Saul und Israel in Aegypten.


Saul. 1738.

Der Anfang der Composition ist vor dem ersten Chore angegeben: »July 23. 1738«. Der Schluß des ersten Aktes ist nicht im Original erhalten; am Ende des zweiten heißt es: »Fine dell Atto 2do | Agost 8. 1738. | Dienstag | [ausgefüllt] den 28 dieses.« Unter dem Chore »Oh fatal day« im dritten Akte steht »den 27. Septr. 1738«. Der Schluß des Ganzen ist nicht unterzeichnet; aber schon an einem andern Orte17 ist ausführlich dargethan, daß der »27. Septr.« die Beendigung des ganzen Werkes anzeigen soll, dieses Oratorium also in der Zeit vom 23. Juli bis zum 27. September 1738 entstanden ist.

Als Dichter des Saul haben wir Bd. II S. 387 Charles Jennens bezeichnet, auf Grund eines Briefes vom Jahre 1735. Wäre[19] diese Vermuthung richtig, so hätte Händel den Text, ganz gegen sein sonstiges Verfahren, drei Jahre unbenutzt liegen lassen. Ohne das Hinzutreten besonderer Hemmnisse, welche damals allerdings vorhanden waren, ist solches nicht wahrscheinlich. Die theilweise Umarbeitung der Musik war eine Folge der Mängel des Textes, welche sich erst bei der Composition heraus stellten und dann sofort von dem Dichter beseitigt wurden. Sollte Händel, wenn er die Dichtung schon so lange in Händen gehabt hätte, diese Mängel nicht früher wahrgenommen und zu ihrer Abstellung vor Beginn der Composition Sorge getragen haben? Wir gewinnen also nichts durch die Vermuthung. Es hat sich aber noch ein gefürchteter Mitbewerber gefunden, welcher dem Verfasser des Händel'schen Textes, wenn auch nicht die Autorschaft, so doch den ersten Gedanken zu einem Oratorium Saul streitig macht: der Orator Henley. Wie dieser Weltpriester über alle Dinge und bei allen Gelegenheiten Reden hielt, so ließ er sich namentlich auch die Cäcilienfeier nicht entgehen. Er behauptet nun, an einem solchen Tage die Geschichte Saul's als den passendsten Gegenstand für ein Oratorium bezeichnet zu haben, und spricht sich hierüber mit unnachahmlicher Grazie also aus: »Eine geistige Vorzüglichkeit ist größer, als eine sinnliche; es war mehr Vollkommenheit in der Auffindung des gefeierten Pythagoreischen Zahlenverhältnisses, als da war in Tassy's Anfertigung einer Mausefalle, oder [in der Anfertigung] eines Oratoriums von Saul nach meiner Vorlesung zu Ehren des Cäcilientages, in welcher ich Saul als das beste Thema dieser Art vorschlug; zahllose andere Winke und Stücke sind von diesem Plan und Vortrag genommen worden, nicht bloß nicht eingestanden, sondern undankbar behandelt dafür: Wie zum Beispiel, die Erfindung eines Grubstreet-Journals, welches von Herrn Pope ermuthigt und von lebhaften Autoren, die jetzt eine Figur machen, herausgegeben wurde, war gestohlen von meinem ›Glockengeläute der Zeit‹: Welches das Publikum allgemein besuchte und belobte: Dieses nebenbei.«18 Wie aus den Ankündigungen zu[20] ersehen ist, hatte der oratorische Hurlothrumbo am 19. November '32 wirklich diese Geschichte behandelt –: »Der oratorische Gegenstand wird morgen sein der erste und zweite Theil der Geschichte der Prädestination; himmlische Harmonie, oder die Melodie von David's Harfe, für den Tag der h. Cäcilia« u.s.w.19 Es gab überhaupt keinen Gegenstand, den er nicht besprochen, keine Frage, die er nicht aus der Tiefe gelöst hätte. In der nächstjährigen Cäcilienrede lehrte er »Die Harmonie des Himmels, oder die Bestandtheile und wahre Natur der göttlichen Musik, mit einem Schlüssel, solche Musik bei allen Gelegenheiten zu beurtheilen, zu verstehen und zu componiren; Fehler darin und bei einigen Organisten kritisirt; die Charaktere von Dr. Pepusch, Corelli, Bononcini, Händel, Purcel; die große Frage, Warum es nur sieben Noten in der Musik giebt? gelöst, – mit dem Anerbieten einer Medaille an Den, der es besser weiß u.s.w. Zugleich ein zeitgemäßer Rath für den B[ischof von London], bei einer bevorstehenden Gelegenheit [der Hochzeit der Prinzessin Anna] nicht sechs Fehler zu begehen.«20 Das Ausschreiben von Preisfragen und die Reden gegen die reich besoldeten Bischöfe waren seine wirksamsten Anziehungsmittel. Noch am Cäcilientage 1738 erörterte er »Warum Töne angenehm sind, oder nicht; Talente von Dr. Pepusch, Hn. Händel, Dr. Green u.s.w.«21 Mit dem Eintritte besserer, gesellschaftlich reinerer Zeiten und mit der Entstehung des wahren Oratoriums war auch das wüste Reich des demagogischen Orators zu Ende.

Seine Behauptung, der Oratorientext Saul sei durch eine seiner Vorlesungen angeregt, ist nicht schlechterdings abzuweisen, denn der Mann steckte voller Einfälle. Die Autorschaft des Jennens würde damit gewiß fallen, weil dieser, ein sehr reicher und pomphaft auftretender Mann, das unsaubere Lokal Henley's am Schlachtermarkt niemals besucht, noch nach den Winken des verachteten Orators gearbeitet haben kann. Aber Henley hatte vielen Zuspruch von poetischen und literarischen Lohnarbeitern, die ihn hörten, seine Tollheiten[21] lächerlich machten und seine Einfälle auszumünzen suchten. Ein solcher war der bereits 1736 verstorbene S. Humphreys, der Verfasser von Debora; ein solcher war auch Newburgh Hamilton, der Bearbeiter des Textes zum Alexanderfest, und letzteren habe ich im Vorworte zu der Ausgabe des Saul (Band XIII der Händelgesellschaft) auch als den muthmaßlichen Autor bezeichnet – nicht aus Respect vor der Behauptung eines Henley, sondern aus einem besseren Grunde. Auf Anlaß der besänftigenden Kraft des Davidischen Harfenspiels, preist im Oratorium Saul der Hohepriester die Harmonie als mitwirkende Macht bei der Weltschöpfung (This but the smallest part of harmony) in Worten welche der kleinen Cäcilienode Dryden's nachgebildet sind, und es liegt nahe daß diese nicht einmal sehr passende, mindestens überflüssige Einschaltung nur von Jemand ausgehen konnte, der Dryden's große Ode bereits mit Glück zu einem Musiktexte geordnet hatte und nun auch einige Hauptgedanken der kleinen auf die eine oder andere Art zu verwenden gedachte. Der Satz wurde bei der Ueberarbeitung ausgeschieden, und Händel wird schon damals mit seinem Dichter sich dahin geeinigt haben, lieber die ganze Dryden'sche Ode zu componiren und zwar als ein Werk für sich, was auch im nächsten Jahre geschah (s. Bd. II, 430); an einer derartigen directen Beziehung der beiden Stücke ist nicht zu zweifeln, denn sie geht unzweideutig auch aus der Musik hervor, in welcher ein Hauptgedanke, die markige malerische Begleitung, an beiden Orten auftritt, nur je nach den Worten verschieden gestaltet und in der Ode weiter ausgebildet. Und dieses scheint mir mit ziemlicher Sicherheit auf Newburgh Hamilton zu leiten. Auch der breite, in ursprünglicher Anlage vielfach zu der Prosa des recitirenden Schauspiels auseinander fließende Text, sowie die Bereitwilligkeit, ihn flugs umzuarbeiten, auszuflicken und auf das unbarmherzigste zusammenstreichen zu lassen, ist durchaus mehr nach seiner Art als nach der irgend eines andern damals mit Händel in Verbindung stehenden Poeten; wie wenig dies z.B. von Jennens zu erwarten stand, mag man aus dem abnehmen was unten bei Belsazar mitgetheilt wird. Der verstorbene Dr. Ayrton hatte in seine reiche Sammlung von Opern- und Oratorientexten eine Elegie und eine unvollendete Tragödie Saul[22] von Aaron Hill22 aufgenommen als vermeintliche Grundlagen dieses Stückes; aber die Tragödie, von welcher nur der erste Akt fertig wurde, hat eine ganz andere Anlage, und die Elegie über den Tod Saul's und Jonathan's ist nur deßhalb der dieses Oratoriums ähnlich, weil sie gleichfalls nichts ist als eine gereimte Bearbeitung der biblischen Worte. Doch sind Hill's Reime und Verse gänzlich verschieden von denen des Oratoriums, so daß nicht die geringste Entlehnung stattgefunden haben kann. Uebrigens hat uns der Dichter nicht verschwiegen, welche Hülfsquelle er außer den Berichten der Bibel (1 Sam. 17 bis 2 Sam. 1) benutzte: es war das Epos Davideis von Abraham Cowley,23 denn er sagt in einer Vorbemerkung, er habe diesem den nicht biblischen Charakter der Merab (ihr scornful behaviour A. I, Sc. 2, ihre aristokratische Verachtung David's) entlehnt.

Mit Debora und Athalia verglichen, ist Saul in seinem inneren Baue gesetzmäßiger, in der Charakteristik gehaltvoller, tiefer, und im Ganzen oratorischer. Dichtung und Musik, oder der Gegenstand und die Kunst, stehen hier wieder in der innigsten Harmonie. Dieses Werk im großen historischen Styl nimmt zwischen den früheren und den späteren biblischen Oratorien eine lehrreiche Mittelstellung ein.

Die Ouvertüre (in Cdur) ist die längste, welche Händel zu irgend einem Werke gesetzt hat; auch in ihrer Form weicht sie von seinen übrigen Instrumentaleinleitungen ab. Es war damals für ihn die Zeit der Orgelconcerte und Orchestermusik, und so eröffnete er auch den Saul mit einer längern »Sinfonia« von vier Sätzen, bei welcher die Orgel als Einzelinstrument mitwirkte. Der Anfangssatz, ein ziemlich langes Allegro, ist sehr tonreich und anmuthig. Diesem folgt ein sangbares Larghetto in Amoll; am Schlusse desselben heißt es: »Organo ad libitum«, womit auf ein freies Orgelspiel hingewiesen wird, welches die Bestimmung hatte den nächstfolgenden Satz, ein fugirtes, mit Orgelsoli ausgestattetes Stück von großer Lebhaftigkeit und echt Händel'schen Sprüngen und Läufen,[23] einzuleiten. Die Menuett am Schlusse schreitet anmuthig und würdevoll einher.

Ein »Epinicion oder Triumphgesang für den Sieg über Goliath und die Philister« eröffnet die erste Scene der Handlung. Zu einer Siegesfeier paßt die längere, mannigfaltige und frohsinnige Sinfonia sehr gut; sie steht insofern mit dem Werke in einem naturgemäßen Zusammenhange und sollte bei einer öffentlichen Aufführung nicht wegbleiben. Muß indeß aus zwingenden Rücksichten gekürzt werden, so veranlaßt der Ausfall der Sinfonia wenigstens keine große Lücke, da dem ersten Chore eine höchst würdige Instrumentaleinleitung von ziemlicher Länge voranschreitet.

Die prachtvolle Anfangsscene in sieben Absätzen bildet gleichsam ein Stück, eine Cantate für sich. Der erste Chorsatz (How excellent) ist ein feierlich freudiger Aufblick zu Dem, der über allen Welten thront; der folgende sanfte Soprangesang (An infant rais'd) – zuerst von Frau Arne, später von einem Knaben, »the Boy«, gesungen) erkennt es preisend, wie Gott durch eines Jünglings Hand den Riesen schlug; ein Satz für die drei unteren Stimmen (A way the monster atheist strode) mit höchst malerischen und wirksamen Gängen in Octaven gedenkt des schimpflich gefallenen Recken und Atheisten; ein kurzer Chor (The youth inspir'd) wiederholt dies frohen und leichten Herzens; die anschließende längere Doppelfuge schildert die Wirkung der That David's auf das bereits verzagende Israel, welches dadurch wieder Fassung und Muth gewinnt und die Feinde vor sich her treibt. Hier wendet sich die Stimmung wieder zu dem Anfange (How excellent), dem reinen freudigen Preise Gottes, zurück, und ein längeres Halleluja beschließt das Ganze. Eigentliche Schlachtenmalerei liegt hier dem Tonsetzer gänzlich fern, so fern wie dem Volke Israel das Verweilen bei der bloßen Naturwirklichkeit; Aufstreben zur Höhe, Schwelgen im Göttlichen verlieh dem Geiste dieses Volkes erst die rechte Frische, und dem entsprechend werden auch Händel's Töne da am lebendigsten wo das Siegeslied sich unmittelbar dem Göttlichen zuwendet. Der Eingang verdient schon in dichterischer Hinsicht Bewunderung, eben weil er sich so einfach zu der Höhe eines Psalms aufschwingt und seiner Natur nach durchaus das ist, was die Israeliten in solcher Lage und Stimmung[24] würden gesungen haben, ja wirklich vielfach sangen, wie ihre Dichtung bezeugt. Das Siegeslied bringt uns also den Vorgang ganz so entgegen, wie er sich in der eigenthümlich hebräischen Form und Auffassungsweise zur allgemeinen Wahrheit steigerte; indem es uns ein Volksthum von eigenartigem und ganz entschiedenem Gepräge zeigt, stellt es uns zugleich auf den Grund und Boden, auf welchem die folgende Handlung sich bewegt: und hierin war die Hand eines echten Künstlers thätig, schon bei der Abfassung des Textes. Denn wie sehr auch die Vorgänge als biblische uns bekannt sind, wie nahe sie unserm religiösen Gefühle stehen, als wirkliche Kunstwerke müssen sie nach Zeit und Volk einen festen Untergrund haben und dem Hörer stets ein rein künstlerisches Verhältniß zu dem Gegenstande ermöglichen, dann erst vermag ihn die große Sache und ihre Wahrheit auch im Gewande der Kunst zu bewegen.

Zweite Scene. Der Dichter hat den Anfang der Handlung sehr sinnig und zugleich ganz bühnendramatisch gehalten, indem er Saul's Tochter Michal wie auf der Warte zeigt, wo sie nach David ausschaut und endlich ruft »er kommt, er kommt!«, in einem einfachen Liede (Oh godlike youth) die glücklich preisend, die ihm zur Braut erkoren sei, aber seufzend hinzufügend, zwischen ihr und ihrem Glücke sei leider eine starke Scheidewand. David wird nach seiner Heldenthat durch Abner dem Könige vorgestellt. Saul kennt ihn noch nicht – hier hat der Verfasser des Textes sich mit Recht an den ursprünglichen Bericht gehalten und die ausschmückende Sage einer späteren Zeit abgewiesen –, fordert ihn auf am Hofe zu bleiben und verheißt ihm eine seiner Töchter zum Weibe. David dankt in einem Gesange (Oh king, your favor), dessen etwas überschwenglicher Ausdruck hier ganz am Orte ist. Seine fromme Bescheidenheit erwirbt ihm Jonathan's Freundschaft; die offnen herzlichen Worte, welche dieser an ihn richtet, werden von der hochmüthigen Prinzessin Merab in einer überaus charakteristischen Arie (What abject thoughts) verhöhnt. Zuerst stand hier ein Gesang für Jonathan (Wise valiant good), den Händel aus dramatischen Gründen wegließ, einige Gedanken desselben sehr passend für Merab's Arie verwendend. Nicht minder glücklich ist der Gesang gestaltet, in welchem Jonathan dieser Schwester antwortet, als sie, ganz vergessend daß ihr Vater einst[25] Esel hütete, ihm seine Freundschaft mit einem so niedriggebornen Menschen vorhält. »Rang und Hoheit sind nur Tand, Birth and fortune I despise«, entgegnet er heftig; sein ehrenhafter Trotz und reiner einfacher Charakter konnte wohl nicht besser ausgedrückt werden, als durch eine klare bestimmte Melodie, in welcher der Nachdruck auf dem schlechten Takttheile bei gewissen wiederkehrenden Stellen eine wegwerfende Verachtung hochgeborner Vorurtheile anzeigt.

Hier ruft der »Hohepriester« den brüderlich verbundenen Jünglingen segnende Worte zu, preisend alle die schon in der Blüthe der Jahre ihr Gemüth dem Göttlichen zuwenden: ein Gedanke, den Händel, weil er seinem Herzen so nahe lag, musikalisch sehr schön verkündete, aber auch bald wahrnahm, daß ein Hoherpriester in dem natürlichen Laufe dieser Handlung keinen Raum hat. Zuerst suchte er noch das kleine herrliche Lied in Hmoll (While yet thy tide) zu retten, später wurde der ganze Part gestrichen.

Saul bestimmt seiner ältesten Tochter Merab den David zum Gatten. Sie weist die Zumuthung einer solchen Verbindung mit Entrüstung von sich, entschlossen die Reinheit ihres königlichen Blutes zu wahren. Ihre Arie (My soul rejects) überbietet noch die frühere an hochfahrender Keckheit; in der Melodie ein Gegensatz zu dem trotzigen Gesange Jonathan's, offenbart sich hierdurch höchst einfach und glücklich, daß selbst zwei so verschiedene Naturen, wie der schwärmerisch edle Prinz und die hochmüthige Jungfrau, gewisse Familienzüge mit einander gemein haben. Sodann erhält Michal das Wort, und die Scene konnte nicht besser abschließen, als mit einem Liede(See, with what a scornful air) in welchem sie ihren Gegensatz zu Merab sehr liebenswürdig und ihre Neigung zu David sehr zart ausspricht. Drei Hauptpersonen der Handlung sind also gleich hier zu Anfang in klaren Charakterbildern aufgestellt; die volle Aufmerksamkeit kann sich nunmehr dem Mittelpunkte zuwenden, Saul und David, deren gegensätzliche Naturen das Drama bewegen und deßhalb erst nach und nach im Verlaufe desselben sich offenbaren können. Sc. 3. Die Töchter Israel's ziehen dem siegreichen Heere entgegen unter Sang und Klang und dem Schall ländlicher Instrumente.[26]

Händel verwendet hier Glockenspiel, muntere Gänge in Octaven und den einfachsten Harmonien, alles, Spiel und Gesang, höchst unschuldig, einfach und dennoch fähig zu einem mächtigen Chore anzuschwellen, was erst das Kennzeichen der wahren idealen Einfachheit ist. Die Musik ist durchaus originell, überraschend und ergötzlich; alle Feierlichkeit ist hier verbannt, es erschallen nur fröhliche volksmäßige Töne; dabei die Worte harmlos und herzlich. »Saul, du hast deine Tausend geschlagen, willkommen deinen alten Freunden! David schlug Zehntausend, zehntausend Preise seien ihm geweiht!« wie konnte man sich in solcher Lage besser ausdrücken, und ehrenvoller selbst für den König? Aber als Saul das Lied hört, regt sich in seiner Brust der Tyrann, der es wollte vergessen haben daß er ein erwählter Volkskönig war, den der Freisinn verdroß welcher den Mann noch unbefangen nach dem Gewichte seiner Thaten abschätzte, und der hier, und wohl nicht zum ersten Male, für den Bestand eines Thrones zitterte, welcher in der Liebe des Volkes stark obwohl nicht unerschütterlich gegründet war. Das Einstimmen des Heeres in den Lobpreis David's verletzt den König tief, zunächst als Krieger; Neid, Argwohn und Haß schießen in seinem Busen auf. Eine herrliche Baßarie (With rage I shall burst) giebt hiervon Zeugniß.

Jonathan ahnt die schlimme Wirkung der wohlgemeinten Begrüßung, die sich auch gar bald offenbart. Von hier bis zum Schlusse des ersten Aktes ist die Anlage etwas verwirrt und zusammenhangslos durch Benutzung verschiedener sich widersprechender Berichte über David's Leben. So, wenn Michal den David auffordert, den trübsinnigen König durch Harfenspiel zu erheitern »wie er schon oft gethan habe« –: diese Bezugnahme auf das, was später unter Mitwirkung der dichtenden Sage über David's Jugendleben in Umlauf gesetzt wurde, raubt der Handlung hier die Naturfrische und verleiht ihr ein dogmatisches Gepräge anstatt des dramatischen. Außerordentlich schön besingt Michal die Wirkung des Davidischen Harfengesanges (Fell rage and black despair); nur daß sie dabei nicht auf eine gegenwärtige, die Grenzen des Drama einschließende Wirkung, sondern auf angebliche Vorgänge früherer Tage Bezug nimmt, deutet wieder auf den berührten Uebelstand unkritischer Vermengung verschiedener[27] Geschichtsquellen. Noch weiter verlieren wir uns von dem Geschichtlichen in das Reich späterer Dichtung und Deutung, wenn sich der Hohepriester »die Melodie von David's Harfe«, mit dem Orator Henley zu reden, weiter ausmalt und dabei nach Dryden's Muster (wie schon S. 22 erwähnt) eine Art Cäcilienode vorträgt. Diese Abschweifung wurde später sammt der ganzen Rolle des Hohenpriesters natürlich gestrichen. Man kann die von Händel angewandte Mühe, sich in solcher Verwirrung einigermaaßen Licht und ebenen Weg zu schaffen, schon daraus ermessen, daß er die sechs Scenen, aus welchen der Text des ersten Aktes ursprünglich bestand, mit Auslassung und Aenderung von Personen, Chören, Arien und Recitativen nach und nach auf vier zusammen zog. Eine nicht geringe Schwierigkeit bereitete die Frage, was am passendsten sein möchte von David vor Saul gesungen zu werden. Der Dichter hatte ihm anfangs Worte in den Mund gelegt (Fly, malicious spirit, fly), welche geradezu die Verscheuchung des bösen Geistes zu bezwecken schienen, und Händel strengte sich sehr an, dazu eine geeignete Musik zu erfinden. Doch was er setzte, ist höchstens erträglich, keineswegs bedeutend und nichts weniger als wunderwirkend; der mißlungene Versuch überzeugte ihn dann wohl erst von den durchaus verfehlten Worten, und nach vielem Hin-und Herrathen nahm die ganze letzte Scene endlich folgende Ordnung an.

Scene 4. Man muß sich Saul und Abner im Hintergrunde oder in einem besonderen Gemache, die übrigen Personen in einer Vorhalle versammelt denken. Abner bemerkt einfach recitativisch, daß Saul sich in einer beängstigenden Aufregung befinde. David singt dem Könige ein kurzes Lied von Gottes Barmherzigkeit (Oh Lord whose mercies), höchst zart und würdevoll. Es ist alles vergeblich, sein Zürnen läßt sich nicht besänftigen, sagt Jonathan, ebenfalls im einfachen Recitativ. Sodann kommt Saul an die Reihe. Bevor er den Wurfspieß schleudert, vernehmen wir die Gedanken welche sein Inneres durchwühlen in einem ziemlich ausgeführten trefflichen Baßgesange(A serpent in my bosom warm'd), der an Polyphem's Weise erinnert; namentlich ist der Ausgang, wo der Spieß auf den entfliehenden David geschleudert wird, ganz dem Schlusse des Terzettes entsprechend wo Polyphem den Felsblock auf[28] Acis herabstürzt. Aber warum, muß man fragen, ließ Händel sich hier die Gelegenheit entgehen, die verschiedenen Gemüthsbewegungen der an dieser Scene betheiligten Personen in einem einzigen Satze verbunden darzustellen, er der so sehr nach Gegensätzen haschte und in der Verknüpfung gegensätzlicher Empfindungen eine so unübertroffene Meisterschaft besaß? Wie wir nicht zweifeln dürfen, ist dieses Versäumniß durch den hier so über Maaß und Ziel gedehnten Text verschuldet, bei dessen Kürzung Händel sich zufrieden gab bevor er ihn, der Sache entsprechend, auf seinen eigentlichen dramatisch-musikalischen Kern zusammen gedrängt hatte. Ein Satz, ein Quintett etwa, an welchem die Hauptpersonen selbständig theilnehmen konnten, wäre hier sehr passend und für das Werk um so erwünschter gewesen, da dasselbe trotz der hervorragenden Bedeutung des Individuellen in diesem Oratorium jetzt nur zwei mehrstimmige Sologesänge enthält, die Duette zwischen David und Michal im zweiten Akte.

Jonathan erhält den Befehl, seinen Freund zu ermorden; kämpfend zwischen zwei entgegen gesetzten Pflichten, entscheidet er sich mit freudigem Muthe, für den Freund alles zu wagen. Die Musik in welcher er sich ausspricht, zuerst im begleiteten Recitativ (Oh filial piety) und darauf in einer wehmüthig langsam beginnenden und lebhaft und kräftig endenden kurzen Arie (No, cruel father), ist von der ganzen letzten Scene wohl das schönste und wirksamste, wenigstens das einzige was durch keine Verbesserung bereichert werden und durch keine Aenderung seine Stelle einbüßen kann. Der Befehl Saul's und der Gemüthskampf Jonathan's sind durch eine Arie der Merab(Capricious man) geschieden, in welcher sie das Bubenstück ihres Vaters mit Kopfschütteln betrachtet. So malerisch und gedankenreich der Gesang ist, so wenig ist er an dieser Stelle zuläßlich; sein Wegfallen ist gewiß zu beklagen, hat aber doch das Gute, daß eine Kundgebung der hier gänzlich stummen Michal dann nicht vermißt wird. Auch der kurze Gesang des Hohenpriesters (Oh Lord whose providence), welcher der Arie Jonathan's folgt, könnte nur der Tonart wegen als Einleitung zu dem Schlußchore des ersten Aktes geduldet werden. Aber dieser Chor in Gmoll schließt sich auch recht gut der Arie Jonathan's in Gdur an. Abgesehen von der[29] Gewinnung einer zweckmäßig kurzen und gedrängt fortschreitenden Handlung ist das Wegbleiben des »Hohenpriesters« überall schon deßhalb nothwendig, weil die hier wirksamen Kräfte nicht im geringsten priesterlicher Art sind noch die Beihülfe des Priesterstandes in Anspruch nehmen. Das Ernste und Erhabene dieses Gegenstandes tritt nur um so machtvoller hervor, wenn es ohne Zuthun von Priestern und Leviten in der Würde und Hoheit rein geschichtlicher Gewalten sich offenbart. Ein ganz anderes Priesterthum war es, welches im Bunde mit einem jugendlichen Volksthume das Königthum in Israel gegründet hatte: es war ein wesentlich prophetisches, in Samuel, der Saul erkor und salbte, seinen Höhepunkt erreichend und mit ihm zu Grabe gehend. Dieses altehrwürdige und machtvolle Priesterthum Israel's gehört so sehr in die Geschichte Saul's, daß es (wie wir später sehen werden) in der Stunde der Entscheidung noch einmal wieder wie aus dem Grabe sich erhebt, um durch ein letztes Wort dem ungerechten Herrscher die göttliche Strafe anzukündigen und das wahre Königthum in David sicher zu stellen. Aber der salbungsreiche und harmlose, alles prophetischen Geistes baare Hohepriester, den der Dichter hier mitgehen heißt, war ein Geschöpf nachdavidischer Zeiten.

Der erwähnte Schlußchor »Preserve him for the glory, O schirme ihn zu deines Namens Preis, des Volkes Rettung und der Heiden Schmach« ist eine einfache schlanke Fuge von ziemlicher Ausdehnung; die Instrumente schließen sich den Singstimmen in Einklängen oder in Octaven an und die Fuge selbst strömt im ununterbrochenen Flusse des Contrapunktes lebhaft dahin. Der Satz, nach dem Muster seiner Clavier- und Orgelfugen angelegt, ist dennoch eine echte Vocalfuge welche den Text mannigfaltig, eindringlich und zuversichtlich ausspricht – ein kunstvoller wahrer Gesang, nicht eine künstliche Geduldprobe für »Kenner«.

Den zweiten Akt eröffnet ein Chor, welcher zu dem vorauf gegangenen musikalisch in dem denkbar größten Gegensatze steht. Dem ungelehrten Hörer erscheint er als eine freie Composition in der Form der Arie oder Rundstrophe mit einem gegensätzlichen Mitteltheile und einer höchst merkwürdigen, sprechend deutlichen Begleitung. Aber in Wahrheit bewegen sich alle vier Singstimmen in[30] canonischen Nachahmungen, so außerordentlich sicher daß selbst die Freiheit ihres Ganges sich nur als eine höhere Form der Gesetzmäßigkeit darstellt, und rednerisch so durchaus frei daß jeder Ton mit Nothwendigkeit aus dem gesungenen Worte hervorzuquellen scheint. Es ist die wunderbarste Art der Canonik die erdacht werden kann, und dennoch ist nicht hierin sondern erst in dem Grundbasse die größte Kunst dieses Satzes gelegen. Der Grundbaß ist wiederkehrend oder rundläufig(ostinato) bei dem Zeitmaaße Andante Larghetto im Viervierteltakt; er hat den Umfang eines Taktes


1. Neue Oratorien

und kehrt ununterbrochen sechzehn mal wieder. Die Begleitung, welche sich ihm zuerst anschließt, geht schon im zweiten Takte in eine lebhaftere Bewegung


1. Neue Oratorien

über; im dritten Takte tritt der Gesang hinzu. Takt 18 bildet den Uebergang zu der langsamer und in geschlosseneren Harmonien fortschreitenden, sieben Takte lang anhaltenden Zwischenperiode, wo der Basso ostinato ruhigeren Tönen Platz macht; aber mit dem 25sten Takte setzt er auf's neue ein in achtmaliger Wiederholung die Hälfte seines früheren Laufes unter theilweis anderer Begleitung noch einmal zurücklegend. Der Träger, gleichsam der gestaltende Mittelpunkt des Satzes ist also der geschlossene Grundbaß; über ihm schwebt die Begleitung, auf ihm erhebt sich die Macht des Gesanges. So entsteht aus der Verbindung der beiden schwierigsten Formen des Tonsatzes ein Doppelkunstwerk, welches in seiner Art ohne Gleichen ist und bei der Freiheit des Gesanges wie der Begleitung den Gedanken an eine künstliche Gestaltung fast garnicht aufkommen läßt. Das Ganze zählt nur 34 Takte. – Und sein Inhalt? »Envy, eldest born of hell! Neid, Erstgeburt der Hölle, o hör' auf in der menschlichen Brust zu wohnen! Allem Guten mißgünstig, alles Glück untergrabend, alle Welt plagend, von aller Welt verabscheut, doch dir selbst die größte Qual, zugleich Schuld und Strafe: (Mittelsatz:) birg' dich in tiefste Nacht, Tugend erkrankt vor deinem Blick! (Nachsatz:) weg, Erstgeburt der Hölle, verlaß die Menschenbrust!« Welch ein merkwürdiger Text! Gewiß, der Gedanke, die hier waltende lasterhafte Leidenschaft als eine geistige Persönlichkeit[31] einzuführen, wie in den Moralitäten des Mittelalters als eine wirkliche Gestalt, ist so merkwürdig wie für den Aufbau des wahren Oratoriums von entscheidender Bedeutung. Die Anregung dazu ging von Cowley's Davideis aus, wo die Hölle, erbittert über das Aufstreben eines so reinen gottgeliebten Helden wie David, den Neid (Envy), welchen der alte Dichter hierbei in grellen Farben schildert, an Saul absendet,24 und wenn Händel irgendwo selber in die Gestaltung des Textes eingriff, so geschah es an dieser Stelle, wo nur ein rein musikalischer Tiefblick zu ergründen vermochte, daß eine solche kernhafte Verdichtung der hier die Geschichte bewegenden Macht nothwendig und künstlerisch möglich war. Was Saul's Gemüth zerrüttete und endlich seinen und seines Hauses Untergang herauf beschwor, war die Eifersucht auf Kräfte und Gewalten, die in ihrer natürlichen, ganz unschuldigen Art über das Maaß der ihm erlangbaren königlichen Macht hinaus ragten, und der Keim dieses verhängnißvollen Lasters hätte sich nicht entwickeln können, wenn nicht ein zu starkes, durch seine ersten großen kriegerischen Erfolge genährtes Streben nach persönlicher Herrschaft in ihm vereinigt gewesen wäre mit der Unzulänglichkeit oder innern Unfähigkeit, völlig selbständig und nach allen Seiten hin in überschauendem großem Sinne[32] würdig und gerecht zu regieren. So warf seine Eifersucht sich zuerst auf die geweihte Gestalt Samuel's, hielt sich hier aber noch frei von sträflichen Gedanken, da Saul nie so weit sank, an dem großen ehrwürdigen Gründer seines Königthums, dem geistigen Vater seines eignen besseren Selbst sich zu vergreifen, dieser auch später in heiliger Entsagung jeden Vorwand zum Hader entfernte. Als nun aber in David ein Held empor kam, der zunächst auf dem Gebiete, wo Saul's ursprünglichste und bewährteste Tüchtigkeit lag, mit diesem wetteiferte und als Kriegsmann ganz so in die Erscheinung trat wie das Volk es sich immer von seinen echten Lieblingen wünscht – was niemand besser merkte und zu beurtheilen verstand als gerade Saul, der eben durch solche Liebe genährte, verwöhnte und zum Thron erhobene Volkskönig –, und als derselbe junge Held dabei in den verwickeltsten Lagen mit wunderbarer Klugheit und Umsicht sich benahm, stets wie in göttlicher Sicherheit den entwirrenden Faden und die rechte Mitte fand, also diejenige unschätzbare Gabe besaß, deren Mangel Saul bei sich selber nur zu bitter empfand: so steigerte die Furcht Saul's alte argwöhnische Eifersucht hier zu Neid und Haß, aus spite wurde envy, um die so prägnanten englischen Ausdrücke zu gebrauchen, und giftiger Neid war es, was ihn zuletzt immer mehr und mit jedem Schritte heftiger gegen David, seinen treuesten und besten Diener, entflammte und inneren wie äußeren Untergang zur Folge hatte. Diese giftige Wurzel der bösen Macht wird in dem obigen Chore bloß gelegt, und damit ist alles, was bei den Vorgängen aus unheimlicher Tiefe wirkt, in das hellste Licht gerückt, in seiner Wesenheit aufgezeigt, das Kunstwerk wahrhaft groß, einig und der Geschichte gegenüber frei selbständig gestaltet, das Gemüth des Hörers von der Last und dumpfen Schwüle befreit, mit der das Ereigniß auf die Zeitgenossen drückte, und so die Grundbedingung erfüllt ohne welche man Werken der Kunst nicht mit vollem Verständnisse noch mit reiner Erhebung zu folgen vermag, ja ohne welche ein höchstes, seinen Gegenstand von Grund aus bewältigendes Kunstwerk überhaupt unmöglich ist. Von der musikalischen Verkörperung hängt dabei freilich zuletzt alles ab. Und hier darf man es unbedenklich aussprechen, daß, wie den Tonsetzern vor Händel's Zeit aus verschiedenen Ursachen eine derartige Aufgabe noch nicht[33] vorlag, so diejenigen nach ihm nicht mehr fähig waren, eine solche zu bewältigen; aber auch niemand neben ihm: denn dies ist ein Gebiet, auf welchem er als schöpferisch im höchsten Sinne und als unerreichbar dasteht. – Wem außer ihm sollte wohl die Anschauung zugänglich und natürlich gewesen sein die sich hier ausspricht? In der untersten Stimme zuerst ertönt »Envy«, langsam und fremdartig feierlich; der Tenor wiederholt das Wort (welches im Deutschen an dieser Stelle nicht wiederzugeben war, aber durch den Aufruf »Weiche« recht passend ersetzt werden konnte) eine Quarte höher, und so steigt es auf durch Alt und Sopran. Die drohende Stimme scheint wie in verschiedenen Himmelsräumen zu erschallen, und wenn irgendwo, so ist bei diesem Chore eine zahlreiche Sängermasse von unbeschreiblicher Wirkung, ja zur vollen Darstellung des hier beschlossenen Ideals geradezu nothwendig; wer ihn am zweiten Tage der Händelfeier im Krystallpalast 1859 aus dem Munde jener Tausende empfänglichen Sinnes vernommen hat, dem wird eine unvergeßliche Erinnerung geblieben sein. Es war wie ein Chor der Engel welche über das Laster des Neides und eifersüchtiger Mißgunst die Verwerfung aussprechen – und ein solcher Chor der Heerschaaren Gottes ist es wirklich, dies eben ist das Ideal welches Händel hier verkörpert hat. Es sind die Himmlischen und göttlich Reinen, deren Stimme laut wird; die Geißel schwingend, treiben sie das in der Menschenbrust hausende Ungeheuer vor sich her, drohend, mit Herrschergewalt ausgestattet, aber auch in jener Milde welche sich über Versuchung erhaben weiß. Daher trotz der starken Worte nichts, was an den Ton menschlicher Leidenschaft erinnerte, obschon Wortausdruck und sinngemäße Begleitung bis in's einzelnste bewundernswerth durchgeführt sind. Die Anregung zu dieser Vorstellung kam dem Tonmeister ebenfalls von dem alten epischen Dichter der Davideis, der wie die Hölle durch den Neid mit Saul, so den Himmel durch Engel mit David verkehren läßt, wie es sich denn auch, sobald man in diese Anschauung eingegangen war, ganz von selbst ergab, Geist wieder durch Geist bezwingend, den höllgebornen Neid durch die ihm entgegen stehenden guten Engel und Schützer der Menschheit in seine finstere Behausung zurück treiben zu lassen. Aber um auch aus dem Chore selbst zu erkennen, daß der Art dieser[34] Gestaltung durchaus bewußtvolle Absicht zu Grunde lag, vergleiche man nur, wie Händel eine nah verwandte Leidenschaft unter andern Verhältnissen aussprach. Im Herakles vernehmen wir an entscheidender Stelle den prachtvollen Chor »Eifersucht, o Höllenfluch!« Wie schmerzvoll erregt, beängstigt und mitbetroffen ertönt es dort auf griechischem Grund und Boden, wo selbst die Götter menschlich fühlten und fast mehr an den Leidenschaften als an den Leiden der Erdenkinder theilnahmen! Der Abstand der beiden Chöre ist so groß, wie der der hebräischen und der griechischen Welt. In dem hebräischen Chore waltet Mitleiden, in dem griechischen Mitleidenschaft; der erste in seiner unantastbar heiligen Ruhe denkt nur daran die schwachen Menschen zu hüten und zu schützen, nicht durch menschliche Betrachtung und menschlich erregte Theilnahme, sondern durch eine rein göttliche Läuterung. Aus einem solchen Geiste scheint auch die Kunstform wie mit Nothwendigkeit zu entspringen. Denn ziemt es sich für die himmlischen Diener Gottes, in geschlossenster Macht aufzutreten, höchste Gebundenheit mit höchster Freiheit vereinend und im kleinsten Kerne die größte Wesenheit entfaltend: so war nichts geeigneter zu ihrer Darstellung, als das musikalische »Alles in Einem«, der wiederkehrende Grundbaß von welchem alles ausgeht, zu welchem alles zurückstrebt, und auf welchem sich der kunstvolle Gesang in so großer Freiheit aufbaut, daß die einzelnen Stimmen wie große geistige, in freier Selbstbestimmung ihre Bahn wandelnde Gesammtpersönlichkeiten erscheinen. Es ist schwer zu sagen, ob ein Kunstwerk von solchem Gehalte und solcher Vollendung am meisten wegen seiner Erhabenheit oder wegen seiner Reinheit oder wegen seiner Tiefe zu bewundern sei, und sicherlich wird jeder, von welcher Seite er nun auch in dasselbe eindringe, schon durch seine rein musikalische Schönheit entzückt werden. Das Oratorium erreicht in diesem Chore seinen geistigen, wie in dem Schlußchore seinen geschichtlichen Höhepunkt.

Jonathan theilt seinem Freunde den Sachverhalt mit, und zwar daß sein Vater eben aus Neid ihn hasse, wobei er in einer Arie (But sooner Jordan's stream) seine aufopfernde Treue betheuert und sodann weiter berichtet, daß Merab bereits mit einem Andern vermählt sei, – was David nicht als ein Mißgeschick sondern als eine Wohlthat bezeichnet und seine Neigung für Michal kundgiebt,[35] beides im Recitativ wie in einer anschließenden Arie (Such haughty beauties). Beide Arien bleiben am besten weg; aber ist das Gespräch überhaupt nothwendig? Sicherlich nicht; mit dem kurzen folgenden Recitative Jonathan's »Mein Vater kommt! zieh dich zurück, mein Freund, ich will versuchen seinen Zorn zu stillen« – kann nach dem Chore die Handlung fortgehen. Saul's Frage, ob sein Befehl vollzogen sei, beantwortet Jonathan mit einer eindringlichen Vorstellung zu Gunsten David's, und schließt mit dem einfach schönen beweglichen Liede »Sin not, o king, O frevle an dem Jüngling nicht.« Saul, anscheinend ergriffen, sichert ihm in einem unmittelbar folgenden trefflichen Gesange (As great Jehovah lives) feierlich Leben und Freiheit zu und heißt ihn wieder an seinen Hof kommen. Jonathan (dessen kurze betrachtende Arie »Wisest and greatest« hier als überflüssig und für den Gang der Handlung störend wegbleiben mag) ruft den Freund herbei. Als Unterpfand der Versöhnung erhält David die Michal zum Weibe und den Auftrag zu weiteren (und, wie Saul hofft, mit seiner Vernichtung endenden) Kämpfen gegen die Philister. Nichts kann den Sturm der Freude David's über diese plötzliche Wendung seines Geschickes besser verkünden, als der kleine Gesang in welchem er, in harmlosem Glauben an Saul's Aufrichtigkeit, seinen Dank und seine fromme Gesinnung ausspricht (Your words, oh king); selbst da wo die Worte nur auf Gott und Gottvertrauen deuten, sagt uns die Begleitung, daß noch ein anderes Gefühl vorhanden ist welches in lebhaftester Wallung sein Herz bewegt. Michal nimmt das Wort und erklärt jetzt ihre Neigung, worauf das neue Paar in einem zarten Duett (Oh fairest of ten thousand fair) sich gegenseitig preist und in süßer Unschuld sich seiner Liebe freut; ein Chor über dasselbe Thema schließt sich an, und durch beides wird die hier waltende Grundstimmung vortrefflich festgehalten.

Händel läßt auf den Chor eine »Sinfonia« in zwei Sätzen folgen, von denen der letzte hauptsächlich aus Sologängen für die Orgel besteht; gelegentlich setzte er ein Violinsolo an die Stelle der Sinfonia. Als Hochzeitsmusik darf man diese Instrumentalsätze nicht ansehen, sondern vielmehr als eine Brücke von einer Scene zur andern. Zwischen beiden liegt nämlich der neue siegreiche Feldzug David's[36] gegen die Philister; ein verbindendes Instrumentalstück darf deßhalb nicht fehlen, doch ist die reich instrumentirte energische Sinfonia, welche jetzt die letzte Scene des zweiten Aktes einleitet, ohne daß dieselbe einer solchen Einleitung nothwendig bedürfte, hierzu vielleicht noch besser geeignet und kann deßhalb unbedenklich entlehnt werden.

Wie sehr dem Tonsetzer auch noch im zweiten Akte die Breite des Textes zu schaffen machte, sieht man daraus, daß alles was bei den angegebenen Kürzungen sich bequem in eine einzige Scene zusammen fassen läßt, von dem Dichter ursprünglich in sechs Scenen auseinander gelegt war. Das bisherige nun als die erste Scene angesehen, beginnt die folgende zweite (ursprünglich die siebente und in der jetzigen Ordnung die dritte) mit der Klage David's vor Michal über ihres Vaters Falschheit, der seinen Siegesbericht finsteren Blickes anhörte und mit dem Wurfspieße beantwortete. Michal drängt zu schleuniger Flucht in einem kurzen, echt dramatischen Duett (At persecution I can laugh); er entflieht durch's Fenster. Doeg, Saul's Kreatur, kommt ihn zu fangen, findet aber nur ein Bild im Bette anstatt des angeblich kranken Mannes; seine Drohungen erwidert Michal mit einem herrlichen Gesange voll Muth und Gottvertrauen (No, let the guilty tremble – Nein, laß den Frevler beben!).

In der nächstfolgenden Scene tritt Merab auf, beklagt David's Geschick, der, niedriggeboren wie er sei, doch jetzt als ihr Verwandter und als ein ehrenwerther Mann ihre Theilnahme in Anspruch nehme; an dem bevorstehenden Fest der Neumonde werde es schlimm ablaufen, wenn nicht Jonathan sein bestes thue: und dann singt sie eine Arie von schöner geschmückter Melodie (Author of peace) des Inhalts, der Lenker unserer Herzen möge Jonathan die rechten, auf Saul besänftigend wirkenden Worte in den Mund legen. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, daß die unaufhaltsam ihrer Entscheidung zueilende Geschichte für derartige Zwischenscenen keinen Raum mehr habe, und daß im vorliegenden Falle durch eine so milde und besorgt friedliche Kundgebung der Charakter der Merab, wie er im ersten Akte gezeichnet worden, wieder verwischt werde. Aber wie man sich hüten muß, das im letzten Grunde nur musikalischen Gesetzen unterworfene Oratorium nach rein bühnendramatischen Anforderungen zu meistern, so löst sich auch das, was zuerst als Verzeichnung[37] des Charakters erscheinen möchte, bei genauerer Betrachtung vielmehr in eine feinsinnige Umbildung und wahre Bereicherung desselben auf. Als stolz auf Stand und Geburt haben wir Merab, als erhaben über solche Schrullen, wenigstens Angesichts wahrer Größe, und als höchst gemüthsinnig und weich haben wir Michal zuerst kennen gelernt. Nun in der Glut der Gefahr ist die einst so zarte süße Jungfrau schnell zu einer Heldin gereist, deren hoher reiner Muth in der Arie »Nein, laß den Frevler beben« wahrhaft entzückend aufleuchtet – und ihre Schwester, die spröde Königstochter, ist ganz in Milde und Sanftmuth aufgelöst, was ihr Gesang »Vater des Friedens« nicht minder schön ausspricht; beide haben sich umgewandelt, nicht durch Willkür des Künstlers sondern aus der Fülle ihres Gemüths, und stehen abermals in einem Gegensatze zu einander, der ihrem Charakter nach so vollkommen naturgemäß wie musikalisch wirksam ist. Unschuld ist der gemeinsame Zug aller neben Saul auftretenden Personen dieses Oratoriums, der sich natürlich vorwiegend in den Gesängen Jonathan's, Michal's und David's, aber nun auch in der genannten Arie Merab's kund giebt. Aus Merab's Umstimmung wird auch die völlige Vereinsamung Saul's wie die Unmöglichkeit seiner Rettung erst recht deutlich; verlassen, losgelöst selbst von seiner Familie, ganz in den Händen schurkischer Sclaven, taumelt er seinem Untergange zu. Nichts ist daher mehr geeignet, das Gefühl eines tragischen Ausganges zu verstärken, als die schönen Gebetslaute Merab's, deren milde Wehmuth uns zugleich ihre Unwirksamkeit verkündet. Der pomphaften und volltönend instrumentirten, übrigens nur 32 Takte langen Sinfonia in Cdur, welche der Schlußscene vorausgeht, wurde schon vorhin zwischen der ersten und zweiten Scene eine passendere Stelle angewiesen, und der erste Satz der dort befindlichen Sinfonia dürfte sich vorzüglich zur Einleitung dieser letzten Scene eignen. Das breitere Vorspiel entstand hier in Rücksicht auf das Neumondsfest, dessen Feier ursprünglich ein größerer Raum gewidmet war; spätere Kürzungen ließen nichts davon übrig, als den bloßen Namen, und dadurch ist auch die genannte Sinfonia gleichsam heimathlos geworden.

Saul, zum Aeußersten entschlossen und diesmal seiner Beute gewiß, da David der Sitte gemäß an dem altheiligen Feiertage bei[38] Hofe erscheinen mußte, fragt seinen Sohn, wo der Mann aus Bethlehem bleibe. Als Jonathan erwiedert, er sei zu einem Familienfeste in seine Vaterstadt gegangen, und nach Anhörung der heftigsten Vorwürfe befremdlich äußert »Was hat er denn gethan daß er sterben sollte?« schleudert Saul in blinder Wuth den Wurfspieß sogar auf seinen eignen Sohn. Hier unmittelbar fällt der Chor ein (Oh fatal consequence of rage) und entwirft eine ausführliche bewegte Schilderung des Zornes, dieses rasenden, alle Bande der Vernunft und Sitte durchbrechenden, blindlings aus Schuld in Schuld sich stürzenden und seinen eignen Untergang herbei führenden Ungeheuers. Das Chorbild zerlegt sich in zwei große Hälften, von denen jede wieder aus zwei musikalisch contrastirenden Theilen besteht, die erste aus einem fugirten Vorder- und einem recitativisch-harmonischen Nachsatze, die andere aus einer von kleinen Motiven erbauten Doppelfuge und einer schlanken einfachen Fuge zum Schlusse. Mannigfaltigkeit und eine durch die Gegensätze hervor gerufene übersichtliche Klarheit ist also vollauf vorhanden; die Länge eines Schlußchores wurde hier erreicht nicht durch breite contrapunktische Ausbildung der einzelnen Sätze, sondern durch eine fast unveränderte Wiederholung beider Hälften. Der plastische Wortausdruck ist wieder bewundernswerth; der Ton des Ganzen ist, im Gegensatze zu dem des Anfangschores über den Neid, durchaus menschlich betrachtend, menschlich schildernd und theilnehmend gehalten.

Der Anfang des dritten Aktes zeigt uns Saul verkleidet bei der Hexe zu Endor, um sein Schicksal zu erfragen, da die Gottesorakel für ihn verstummt sind. Die Philister haben mit aller ihrer Macht das Land überzogen, die entscheidende Schlacht steht bevor; noch einmal verlangt es Saul, die Stimme jenes großen Weisen zu vernehmen, der einst ihn, den unbekannten Jüngling aus dem Volke, des Königsthrones würdig fand. Die ganze Scene, in welcher das Weib den Samuel aufruft und dieser vom Grabe herüber ein letztes Wort mit Saul redet, ist von erschütternder Naturtreue und voll hoher Originalität bei der denkbar größten Einfachheit. Das Dämonische des Weibes, die Zerknirschung Saul's, die selige Ruhe des Propheten, aus dessen über das Schicksal seines Volkes in Wehmuth erzitternder Stimme ein unabwendbares Verhängniß spricht –,[39] alles das könnte jetzt sehr leicht pomphafter, aber niemals wahrer und daher bei richtigem Vortrage auch niemals eindringlicher gesagt werden. Von Samuel's Worten sind diejenigen (zusammen acht Takte Recitativ) überflüssig, welche auf frühere Vorgänge und Prophezeiungen Bezug nehmen; diese sind zu streichen, so daß die betreffende Stelle heißen müßte: Has God forsaken thee? and dost thou ask my counsel?..... God this day... has rent the kingdom from thee, and bestow'd it on David, u.s.w.

Hiermit tritt Saul vom Schauplatze ab, lebt aber vereint mit seinem herrlichen Sohne im Preis- und Trauergesange David's fort. Von der Schlacht selber kommt nichts zum Vorschein; eine kurze Sinfonia nur deutet auf das schreckliche Ereigniß, welches Saul's Königshaus zertrümmerte und Israel zum letzten Male in das Joch der Philister zwang.

Ein Amalekiter, der beutegierig das Schlachtfeld durchstreifte und den Leichnam des Königs fand, bringt Scepter und Krone desselben zu David mit der Versicherung, er selber habe den tödtlich getroffenen und von Feinden umringten Fürsten auf seine Bitte erschlagen. In einem heftigen Gesange (Impious wretch) kündigt David ihm zur Vergeltung dafür den Tod an. Bei den Schlußworten »deß Hand den Gottgesalbten schlug« geht die Melodie von Ddur in Dmoll über und leitet dadurch die prachtvolle ergreifende letzte Scene ein, welche als »Elegie auf den Tod Saul's und Jonathan's« bezeichnet ist.

Die musikalische Gestaltung derselben versuchte Händel auf zwiefache Art. Anfänglich gedachte er das für Königin Caroline gesetzte Begräbnißanthem (II, 436 ff.) dabei zu benutzen und zwischen die bedeutendsten Chorsätze desselben einige recitativischen Zeilen aus David's Klageliede einzuschalten. In der alten Handschrift oder im ersten Entwurfe der Partitur ist dies auf einer einzigen Seite folgendermaaßen angedeutet.


»[40] Elegy on theDeath of Saul and Jonathan.

the Sinfonie,The ways of Zion do mourn, and she is.....

in the lastHow are the mighty falln! She tat [that] was

funeral Anthemgreat.... Princess of the Provinces.


1. Neue Oratorien

When the Ear heard him.... O how are the mighty falln.... He deliver'd the poor that cried.... if there was any Praise he thought on those things.


1. Neue Oratorien

[41] Their Bodies are buried in peace.... The mercifull goodness of the Lord endureth... in Childrens Childern.

Poi segue High Priest [das in unserer Ausgabe S. 236 gedruckte einfache Recitativ Ye men of Judah etc.]. Coro. Gird on thy Sword


Alles ist jetzt einmal kreuzweis mit Blei durchstrichen; denn Händel sah bald, daß dieser Gegenstand einen von dem der Begräbnißode sehr abweichenden Charakter hat und schon wegen seines Ausganges nicht den kirchlich feierlichen, sondern den elegischen Ton erheischt. Nachdem dies alles gestrichen war, blieb der Name »Elegie«, welcher auch für die jetzige Klagescene noch durchaus passend ist, an dem kleinen siebentaktigen Instrumentalsatze (S. 210 unserer Ausgabe) hängen, der in den früheren Ausgaben wunderlicher weise eben als »Elegy« in den Appendix gesetzt ist. Daß Händel ihn wirklich und in dem von uns bezeichneten Zusammenhange als Einleitung, gleichsam als Aufruf an den Chor, spielen ließ, lehrt seine nachträgliche Bemerkung »senza Organo«, ist auch wohl von selber klar, denn wie wäre ein herrlicherer, ein in energischerer Gedrungenheit vorschreitender Uebergang von dem Marsche zu dem folgenden Klagechore nur denkbar? Jetzt freilich findet er sich in dem Directionsexemplare durchstrichen und verklebt, woraus indeß, wie aus andern Anzeichen, nur hervor geht, daß der jüngere Schmidt später noch manche Aenderungen auf eigne Hand vornahm.[42]

Bei der neuen Bearbeitung entstanden dann erst jene unvergänglichen Tonsätze, welche zu den größten Zierden dieses Oratoriums gehören. Als Instrumentalspiel am Eingange steht der weltberühmte Todten- oder Trauermarsch, der, soweit die englische Sprache reicht, überall ertönt wo ein Brite mit Musik zu Grabe geleitet wird, und auch uns Deutschen einst, wenn unsere musikalischen Fehden ausgetobt haben, ein ebenso theures Nationalstück werden, ja bei allen Völkern Heimathsrecht erlangen wird. Denn als die personificirte Einfachheit und Ursprünglichkeit, gleichsam als aus lauter Urtönen gebildet, berührt dieser Tonsatz diejenige Saite der menschlichen Empfindung, deren Schwingung überall, wo ein echt menschliches Mitgefühl waltet, gleich ist. Händel, in der fast übermenschlichen Sicherheit seiner musikalischen Empfindung, wählte eine Durtonart (Cdur) und löste damit das Problem, welches alle unsere breiten, malerischen, oft musikalisch reichen und schönen, oft auch grell schmerzlich ertönenden Moll-Trauermärsche unangerührt lassen müssen, denn er bringt damit zugleich den »Trost in Thränen«, versüßt die Wehmuth und umspannt das Gewölk des Schmerzes durch des Himmels Reinheit und Unendlichkeit. Nur bei Zugrundlegung der Durtonart ist es möglich eine solche Fernsicht zu eröffnen, eine solche Verschmelzung von Trauer und Trost zu bewirken; auf ihr breitet Händel seine einfachen Töne aus, die dem Gemüthe jedes Theilnehmenden die richtige Bahn vorzeichnen, die tiefste Anregung gewähren, aber keinen Zwang ausüben durch bedrückende Tonmassen oder grelle Effecte, sondern dem Spiel der geistigen Kräfte freien Lauf lassen, so daß Jeder je nach Lage und Stimmung mitgehen und mitfühlen kann – der Eine mäßig und gefaßt, der Andere von Schmerz zerrissen, blutenden Herzens in die Unendlichkeit dieser weichen duftenden Töne sich einspinnend, seine Schmerzmomente hinein webend, heraus hörend, Alle aber von dem sanften Wohllaut und dem durchklingenden unaussprechlichen Frieden wie von einem heilenden Balsam berührt. Musikalisch erwarte man, wie bei derartigen Händel'schen Meistersätzen überhaupt, das Allereinfachste: 8 tonische Takte von Saiteninstrumenten in tiefer Lage mit Posaunen im Einklange machen den Anfang, Orgeln und Flöten wiederholen dieselben eine Octave höher;[43] sodann haben die vorigen Instrumente einen Satz von Gdur nach Dmoll in 4 Takten, worauf alle Instrumente vereint in ebenfalls 4 Takten auf Grund des anfänglichen Cdur-Motivs ein Tutti bilden; als Orgeln und Flöten auch das Gdur-Dmoll-Solo in der oberen Octave wiederholen, kehrt das Cdur-Tutti noch einmal wieder und führt zum Schlusse. Also 8 Takte zu 8, je halbes Orchester; 4 Takte Soli gegen 4 Tutti; noch einmal 4 Soli gegen 4 Tutti: Summa 32 Takte. Oder mit andern Worten: nachdem ein 8taktiger, sanft und mäßig bewegter Satz in tonischen Accorden zweimal, dunkler und heller, erklungen ist, tritt in Violinen und Posaunen die Tonart der Dominante auf mit einer absenkenden Wendung nach Dmoll, in ergreifenderen und schmerzvolleren Tönen, worauf aber sofort das ganze Orchester, und zwar in der wirksamen Lage der sogenannten Naturharmonie, auf Cdur zurückgeht und dadurch den Klagelauten der Einzelnen, die sich heftiger hervor drängen und trostlos in Moll versinken wollen, das erhebende Gegengewicht gemeinsamer Theilnahme und den Trost einer festen einklangvollen Naturordnung entgegen setzen, auch dann, als der Schmerz, in die oberen Töne sich flüchtend, noch einmal in den Dominant- und Dmoll-Klängen laut werden will: womit denn der natürliche völlige Abschluß gegeben ist. Was auch das Gemüth Tiefstes und Unaussprechliches bewege, diese so einfach gegliederten 32 Takte sind weit genug es zu befassen.

Der vorhin erwähnte, aus der früheren »Elegie« übrig gebliebene kleine Instrumentalsatz im Cmoll leitet einen ergreifenden Chor ein (Mourn, Israel – Klag', Israel): und hier wo die Menschenstimme laut wird, dringen auch sofort düstere und heftigere Töne hervor, ganz in Händel's Art und in Gemäßheit eines der ersten Grundgesetze der Tonkunst, demzufolge erst der Gesang in Leid und Freude das Innere aufschließt, dadurch bei aller seiner scheinbaren Enge und Begrenzung das Gebiet dieser Kunst wahrhaft erweitert und geradeswegs in eine reichste Tiefe führt, über welche das äußerlich so viel mannigfaltigere und buntere Spiel der Instrumente sich nur andeutend, nur auf Umwegen und wie in einer Vorhalle auszusprechen vermag. Dem Klagechore über das auf Gilboa's Gefilden erschlagene jugendliche Heer folgt eine Reihe von Liedern, die nach dem Texte wie nach dem biblischen Gedichte sämmtlich von David zu[44] singen wären, in der Wirklichkeit aber fast von ebenso vielen verschiedenen Sängern vorgetragen werden als Stücke vorhanden sind. Händel hat hier auch nirgends »David« sondern überall nur den Namen des betreffenden Sängers vorgezeichnet: bei dem ersten Liede »Mr. Beard« (Tenor), bei dem zweiten »Mrs. Arne« und später »Sigra. Frasi« (Sopran), bei dem dritten »for Sigra. Galli« (Contraalt, später auch einem Altcastraten mit italienischen Worten mundrecht gemacht), bei dem vierten zuerst im Original »Mrs. Arne« und dann im Handexemplare für folgende Aufführungen nach einander »Sigra. Francesina«, »Frasi«, »Avolio«, was immer Sopran bedeutet.25 Das erste dieser Lieder (Oh let it not – O schweigt in Gath) trifft wundervoll stark den Ausdruck tiefster Scham David's über den zerschmetternden Schlag, welchen abermals die Philister gegen sein Vaterland geführt hatten, sein Heldenherz zuckt unter dem Hohn der Feinde und weint über die Schmach, aber es ist die Zerknirschung einer hohen stolzen Seele, was durch die langathmige, schwungreiche, theilweis fast in Gesangrede übergehende Melodie so schön und mit so einfachen Mitteln gezeichnet ist. Obwohl dieser Eingang nun auch in der Musik ganz aus David's Seele gesungen ist, widerspricht dem doch keineswegs, daß nicht er sondern ein »Tenor«, eine ungenannte Stimme aus Israel den Satz vorträgt, denn seine Empfindung war die jedes echten Israeliten und gelangt nur dadurch im Oratorium zu ihrer vollen Bedeutung, daß sie als von der Persönlichkeit des Dichters losgelöst und über dieselbe hinaus greifend erscheint. Der nächstfolgende Gesang (From this unhappy day – Nach diesem Tag der Schmach) wendet sich nach dem Schlachtfelde, an das Gebirge Gilboa, dessen Gefild nicht mehr in Pracht und Anmuth strahlen sondern veröden müsse, weil Saul's Schild und Kraft hier brach. (Bei der Aufführung ist dieses Stück hin und wieder ausgelassen.) Wie sicher treffend brachte Jonathan's Pfeil den Tod, heißt es dann in dem dritten, höchst[45] anmuthreichen Liede (Brave Jonathan – Wenn Jonathan den Bogen zog), mit bloßem Grundbaß begleitet, in welchem also die Melodie mit ihrer Kraft alles allein ausrichten muß, auch sich in den einfachsten wohllautendsten Gängen bewegt und doch selbst im Malerischen so Großes leistet. Aufgegriffen und vollständig abgeschlossen wird das Bild der beutereichen Schlacht durch den Chor »Eagles were not – Nie war der Adler rasch wie sie«, welcher in nur 12 Takten an lebhafter Bewegung und voreilender Begleitung auf die behagliche malerische Breite und Ruhe des Vorgesanges den bekräftigenden Nachsatz bildet: ein psychologischer Meisterzug, den man wohl zur Nachahmung empfehlen dürfte, wenn sich nicht wieder das Beste davon aller Nachahmung entzöge. Im Vortrage hängt alles davon ab, daß die kleine Chorstrophe als das erscheint was sie wirklich ist, als ein Nachruf der an die Stelle des Nachspiels tritt und eben wegen seines unerwarteten Einfalles eine so aufregende, aber auch wegen seiner Wahrheit und seines wesenhaften Zusammenhanges mit dem vorauf gegangenen Gesange eine so tiefe Wirkung hervor bringt.

Hierauf erst, nachdem die äußeren Bezüge in großen einfachen Strichen angedeutet sind, dringt der Ton mit voller Stärke in das Herz des Gegenstandes ein; mit dem Beginn des Liedes David's »In sweetest harmony – In süßer Harmonie vereint« versinkt die Seele urplötzlich wie in abgrundlose Tiefen des Schmerzes und kostet Weh und Wonne einer ganz reinen, nur dem edelsten Gemüthe entspringenden Klage. Wenn süße Wehmuth völlig in Musik aufgehen wollte, müßte sie diese Gestalt annehmen. Der Chor, in steigender aber mehr nach Innen dringender Bewegung, fällt ganz wie von selbst in David's Gesang ein, zuerst die Oberstimme allein und ohne alle Begleitung in die auf ruhendem Tone hinschmelzende Klage »O schwerer Tag«, hervor quellend wie eine Thräne die sich endlich nicht mehr zurück drängen läßt und, einmal in's Auge getreten, nun den mit voller Gewalt ausbrechenden Strom der Empfindungen öffnet; denn die unteren Stimmen haben das leise Mitsingen des Soprans kaum vernommen, als sie denselben Ruf heftiger ertönen lassen und dadurch auch die Oberstimme mit sich fortreißen. Aber unwillkürliche Heftigkeit verursacht auch[46] wieder plötzliches Einhalten: so ist die ganze Betheiligung des Chores hier zu Anfang in 4 Takten erschöpft, in 4 Takten von reinstem und kunstvollstem Naturlaute. Das Solo David's26 von 8 Takten, welches den Gesang weiterführt, wird dann vom Chore, wobei David stets mitsingt, in 5 Takten gedrängt wiederholt, ebenso tiefbewegt und lauttönender als vorhin, aber in geschlossener und daher ruhigerer Haltung. Ein weiteres, ausführliches Solo David's von 24 Takten leitet den Chor auf einen dem Anfange ähnlichen Einsatz, der dann aber fest gehalten wird und in den herrlichsten größten Zügen zum Schlusse führt; namentlich ist die schwungvolle Linie der Melodie in ihrem auf- und absteigenden[47] Schlußgange »wie hebst du je empor dein sinkend Haupt!« über alle Beschreibung großartig einfach und von ausdrucksvollster Tiefe. Chor und vorauf gehende Arie sind auf dieselben Grundgedanken gebaut, was namentlich gegen Ende des Chores immer deutlicher hervor tritt. Die Arie hat einen längeren Vordertheil in der Haupttonart (Edur) zur Verherrlichung Jonathan's, und einen kürzeren Mitteltheil in Fis- und Gismoll zum Preise Saul's; auf letzteren folgt nicht wieder der Vordersatz, sondern der durch eine völlig neue und unerwartete Steigerung aus den eigensten Gedanken desselben heraus gewachsene Chor, welcher mithin formell die Stelle des da Capo in der Arie vertritt, wie er seinem Inhalte nach die süß schmerzliche Bejahung und Bekräftigung des ganzen Israel zu dem von David angestimmten Klageliede bildet: wodurch denn in der Einheit der Stimmung die Einheit der Kunstform bewundernswerth gewahrt ist. Dies ist nun wieder, und zwar in verhältnißmäßig engem Rahmen, eins der ewigen Muster von geschlossenem Aufbau der Form und Tiefe der Gedanken, wie Händel sie in unbegreiflicher Fülle und Vollendung geschaffen hat.

So endet eine Klage, welche die gefeierten und nun in die Nacht der Vergangenheit hinsinkenden Helden durch die Gluth einer alles verklärenden Liebe wahrhaft wie mit Abendsonnenglanz vergoldet. Was hier laut wird, muß angesehen werden als ein Nachhall jenes hoffnungsfrohen Jubels, mit welchem das Volk Saul's Emporkommen zum Thron und jeden seiner herrlichen Siege begrüßte. Blieb das, was in Wirklichkeit erreicht wurde, zwar weit zurück hinter der hochfliegenden Hoffnung, so war doch die im Jugendrausche einmal entzündete Liebe des ganzen Israel zu seinem ersten Könige so tief gedrungen, daß alles Leid der späteren Zeiten sie nicht wieder zu entwurzeln vermochte; aus obiger Klage spricht denn auch weit mehr diese unerschütterliche Liebe, als das durch Saul gebrachte wirkliche und dauernde Glück des Volkes. Aber wenn die Liebe das Maaß ihres Glückes in sich selber trägt, so haben wir auch noch in diesen ihren letzten Lauten ein unvergängliches Zeugniß, wie tief Saul und sein Haus mit dem Volke verwachsen war und wie sehr seine Herrschaft im Ganzen als ein Segen empfunden wurde. Daß dies wirklich die wahren Gefühle der Edelsten[48] Israel's waren beim Untergange ihres ersten Königs, lehrt die ganze Geschichte; als das glänzendste Zeichen davon und zugleich als ein untrüglicher Beweis, daß die dankbaren Empfindungen des Volkes nicht auf Täuschung beruhten, sondern wirklich aus einem durch Saul zu kräftigerm Aufstreben erhobenen Gemeinganzen kamen, ist eben das Lied David's, des großen Gegners von Saul, erhalten, in welchem der gefallene Held nun »nach seinem bessern Selbst unter Menschen ewig fortlebt«.27 Als ein überaus herrliches Denkmal von Gemüthsreinheit, Geisteshoheit und Vaterlandsliebe ist dasselbe der musikalischen Todtenfeier in unserm Oratorium mit Recht überall zu Grunde gelegt. In diesem einzelnen Falle war es nun anscheinend ein Leichtes, der Handlung des Oratoriums den echt geschichtlichen Charakter zu wahren, und doch hängt die Wahrheit der Geschichte hier schließlich wieder ganz allein von der musikalischen Gestaltung ab; denn erst durch eine Anordnung, wobei der Chor, obwohl auf's innigste mit David zusammen gehend, doch als geschlossene selbständige Macht in freier Betheiligung dem Sänger zur Seite tritt und dadurch unzweideutig als Stimme des Volkes Israel sich kund giebt, ist das, was David dichtete und sein Heer auswendig lernte, im Oratorium die Sprache des ganzen wahren Israel geworden. Eine andere Fassung war wohl denkbar, ja lag vom Standpunkte beschränkter Geschichtsbetrachtung aus sogar weit näher. David, der Dichter, konnte auch der allein vortragende Sänger sein, dessen Wort und Weise der Chor, d.h. sein Häuflein Kriegs- und Leidensgefährten in der Verbannung, Strophe um Strophe wiederholte, wie ja auch berichtet wird, er habe sein Lied ihnen alsobald eingeprägt. Und da nichts gewisser ist als daß die Strophen hierbei sämmtlich nach derselben Melodie abgesungen wurden, so könnte auch jetzt noch eine derartige musikalische Fassung geboten erscheinen da wo man eben den ursprünglichen Charakter treu bewahren wollte. Also das Lied fortlaufend von David d.i. von einem und demselben Sänger nach einer und derselben Melodie vorgetragen, vom Chore stetig und in gemessenen Absätzen wiederholt,[49] würde anscheinend eine alterthümliche Erneuerung derjenigen Musikweise ergeben, in welcher dasselbe seiner Zeit bekannt wurde; – und wenn etwa Benedetto Marcello (oder Gluck – von Späteren, denen der rein geschichtliche Sinn im Bereiche ihrer Kunst schon abhanden gekommen war, ist hier garnicht zu reden) den Text zu setzen gehabt hätte, so würde er durch eingrabende Studien, die den Gelehrten vielleicht heute noch beachtenswerth däuchten, die Wurzeln des alten biblischen Gesanges bloß zu legen gesucht und sich bemüht haben, auch musikalisch wieder auf David's Lager in Ziklag zurück zu gehen: und ein Gelingen dieser Art wäre sein Triumph gewesen. Aber was wäre damit erreicht? und wie wenig würde die alterthümelnde Weise den eigentlichen Gehalt jenes unsterblichen Liedes zu Tage fördern, dessen Größe und Bedeutung eben darin liegt, daß der Gesang aus dem Herzen David's auch ein Gesang war so ganz nach dem Herzen Israel's, dessen musikalische Darstellung daher zunächst und vor allem nur den Zweck haben konnte, dies in voller Wirkung hervor treten zu lassen. Händel hütet sich wohl anzudeuten, daß nur David's Freunde in sein Lied eingestimmt hätten; er theilt ferner die Strophen des Einzelgesanges verschiedenen Stimmen oder Personen zu, läßt also den Dichter als solchen hinter seinem Gedichte zurück treten und bewahrt ihm nur die rein persönlichen Worte über Jonathan. Deutlicher konnte er es nicht aussprechen, daß er die ganze Scene im oratorischen, nicht im bühnendramatischen Sinne aufgefaßt wissen wollte, wie es denn auch unnatürlich wäre, das Lied nur von David's damaligen Genossen gesungen zu denken, die wohl David's Edelmuth und Seelengröße bewundern, auch sein Lied treu nachsingen lernen, aber nicht aus vollem Herzen in den Lobgesang auf einen Mann einstimmen konnten, der sie in die Fremde getrieben und bis auf den Tod verfolgt hatte, nicht einstimmen eben in dem Augenblicke wo sein Tod ihnen Allen Leben und Vaterland wiedergab, nicht so einstimmen wie von dem Chore in Händel's Musik eingestimmt wird. Die Vertheilung des Liedes David's an mehrere Sänger, welche auf den ersten Blick als eine willkürliche That des Componisten erscheint, abzielend auf rein äußerliche Mannichfaltigkeit, ist in Wirklichkeit also nur die wahrhaft kunstvolle Ausdeutung desselben, dem historisch[50] Ueberlieferten so wenig widersprechend, daß dieses dadurch erst seinem innersten Wesen nach zur reichsten Entfaltung gelangt. So greift das wahre Kunstwerk immer selbst über das herrlichste geschichtliche Denkmal hinaus, welches seine Unterlage bildet; und die Benutzung von künstlerischen Quellen und Vorlagen versteht Händel freiesten Sinnes stets nur so, daß er willig die nächste enge Geschichts- und Charaktertreue preisgiebt, um zu der weiteren, allgemeineren und innerlich desto gewisseren zu gelangen.

Nun folgt der Schluß. Der große Nachdruck, welcher auf ihn gelegt ist, ergiebt sich aus seiner Bedeutung; er mußte mehr, als gemeinhin der Schluß von solchen Werken, enthalten, da er den eigentlichen Ausgang der hier behandelten großen Begebenheit noch darzustellen hatte. Und solches geschieht auf die denkbar vollendetste und kühnste Weise.

Ein junger Priester in David's Gefolge, Abiathar (Abjathar oder Ebjathar, nach anfänglicher Bestimmung weniger passend »High Priest«), leiht dem Sehnen und Hoffen seines gebeugten Volkes Worte, indem er, die Trauer verscheuchend, auf David als auf ihren siegreichen gottgeliebten Hort hinweist. Zuerst geschah dies in einem kurzen einfachen Recitative (S. 236 der Ausg.), dann in einer längeren Baßarie (S. 232 das.), später, nach dem Textbuche erweislich seit 1750, wieder in dem früheren Recitative, welches hier auch gewiß am passendsten ist.28

Wie Israel dem Aufrufe des Priesters entsprach, zeigt der gewaltige[51] Schlußchor in Cdur »Gird on thy sword – Gürt' um dein Schwert«, ein Schlußsatz wie ihn Händel seit 1720, dem Psalmengesange zu Esther (I, 476), nicht wieder geschrieben hatte.29 Um die einzige Stütze, welche stehen blieb als der Feind alles zerschmetterte, um die stets siegreiche Fahne des durch Glück erhöhten, im Unglück bewährten Helden David schaart sich nun das Volk, ausrufend »Gürte dein Schwert um, du Mann der Macht, führ' uns zum Streit, denn Dir winkt Sieg« – mit einer Wucht, einer unwiderstehlich forttreibenden Gewalt, in der das felsenfeste Vertrauen, die unerschütterliche muthvolle Zuversicht eines ganzen Volkes liegt. Man fühlt es bei dem ersten Tone, der Mann dem dies gilt, ist der hehre Kriegsmann, der Mann der That, der echte volle Mann dem unwillkürlich alles zuströmen muß. »Voran, voran, der Sieg ist dir bereit« – bei diesem Einsatze des Basses, der aufsteigend durch die Stimmen läuft, wird die Tonart verlassen, auf Cdur plötzlich Adur gesetzt, und als der Gang nach 9 Takten in Gdur schließt, folgt ähnlich und ebenso plötzlich Edur: ein Effect, der bei Händel selten ist, aber hier als ein Ruck in der Tonbewegung die großen Massen ganz unerwartet fortschnellt und entflammt; die Begleitung eilt voran und malt die lebhafte und athemlos freudige Willigkeit, mit welcher den Impulsen gefolgt wird. Der in Edur beginnende Einschnitt wendet sich bald nach Cdur zurück, schließt mit starken einfachen Hebungen den ersten Absatz und leitet den zweiten ein (»Richt' auf Judäa's Macht«), welcher größtentheils in fugirter Bewegung verläuft, wie der vorige überwiegend einfach harmonisch gehalten ist. Das »Wohlauf, voran« aus dem ersten Satze ist dem Hauptthema »Richt' auf Judäa's Macht« als Gegensatz eingeflochten, der aber in bündigster Form ebenfalls von der leitenden Stimme ausgeht und in seiner Lebhaftigkeit das Hauptmotiv zum Schlusse hin auf einen Augenblick sogar vollständig überwindet, jedoch nur, um dasselbe dadurch unmittelbar hernach in desto größerer Kraft und Geschlossenheit hervor zu locken. Von solchen Zügen unerwartet freien Spieles[52] und lebhaft aufleuchtender Beseelung der Form ist Händel's Musik übervoll, und da nicht am wenigsten wo es sich eben um die schwierigsten Formen des Tonsatzes handelt. Mit niederschmetternder Wucht ruft nun der Chor vereint »Dein starker Arm, mit Kraft gestählt, macht stolzer Feinde Wangen bleich« – als dritter Einschnitt überleitend zu dem zweiten Haupttheile des Chores worin es heißt, daß Israel, von David's Tugend entzückt, in umdrängenden Mengen ihm auf seinen herrlichen Pfaden folgen werde: in einzelnen Stimmen von dem Chore durch lebhafte Zurufe begleitet oder unterbrochen, künden sich die Schaaren an wie sie hoffnungsfroh nach David's Lager ziehen, von allen Stämmen Israel's Alles was aus dem letzten Kriege noch Leben und wahren Lebensmuth sich gerettet hatte, so daß sein Lager anschwoll und »groß wurde wie ein Lager Gottes«.30 Was jener alte Chronist berichtet, gewinnt in dieser Musik wieder Leben, Gestalt und Glanz, und wenn irgend etwas, so vermag sie uns von der aufgehenden Sonne der Davidischen Zeit eine Ahnung zu geben. Der Chor, unübertroffen an Kraft der Zeichnung und Uebersichtlichkeit des Baues, an Massenbewältigung durch die einfachsten Mittel und großartiger Dramatik, zerfällt sinnreich in zwei große Hälften, von denen die erste und größere die Befreiung Israel's von mächtigen Feinden, die andere die Freude des Volkes über das neu gegründete Reich ausdrückt. Ueberall hierbei hebt sich die glanzvolle Gestalt David's als der leuchtende Mittelpunkt hoch empor, und Heldenfeier ist niemals begeisterter und in voller Unbefangenheit prachtvoller dargestellt, als hier, war aber auch niemals berechtigter; denn David zerriß die Jahrhunderte lange Kette von Unterdrückungen durch eine Reihe der glänzendsten Siege, und aus einem Spott der Philister erhob er sein Israel schnell zum Herrn der ganzen umwohnenden Völkergruppe, ja berührte mit seiner Macht die Schwelle der Weltherrschaft und führte die schöne einzige Zeit herauf, in welcher Volksleben und höhere Geistesbildung gemeinsam in Blüthe standen wie nie weder zuvor noch nachher bei diesem Volke. Einen solchen Verlauf nahm die durch Saul[53] als den ersten seiner Könige aufgerufene, sodann aber in Verwirrung gestürzte nationale Bewegung, und hiermit gelangte sie zu ihrem Abschlusse. Dies ist denn auch der ganz treue geschichtliche Ausgang, die durch die Heilkraft eines gesunden aufstrebenden Volksganzen bewirkte Versöhnung und damit der wahre. Schluß der Tragödie von Saul. Indem unser Oratorium durchaus von diesem vollen tiefen Strome der Geschichte getragen wird und nach gedrängter Darstellung der Hauptmomente auf unvergleichliche Weise den Blick zu lenken weiß in das heran nahende schönste Zeitalter Israel's, steht der hohe Schlußchor da wie das in die Wolken gestellte rosige Morgenroth, welches alle Herrlichkeit des anbrechenden Tages in süßer Vorempfindung kosten läßt. Alles was von einem echten Geschichtsbilde verlangt wird, erfüllt das Oratorium Saul im höchsten Maaße, da es den geschichtlichen Vorwurf treu und in seinen erhabensten Zügen wiederspiegelt.31[54]

Bei öffentlichen Aufführungen wird die Gesammtwirkung dieses Oratoriums von der richtigen Behandlung der beiden ersten Akte abhängen; denn in dem Schlußakte fließt die musikalische Strömung so stark, daß ein Vergreifen kaum möglich ist. Unter »Behandlung« wolle man aber nicht zunächst, oder doch nicht ausschließlich, Streichen und Kürzen verstehen, sondern vielmehr dies, daß man nichts einübe was nicht zuvor verständnißinnig erfaßt ist, und nichts singen lasse wozu nicht einigermaßen die Kräfte vorhanden sind. Die Handlung geht von der zweiten Hälfte des ersten Aktes bis in den Anfang des dritten wesentlich unter einzelnen Personen vor sich, wobei nicht der Zweck sein konnte, möglichst starke sinnfällige Contraste aufzutragen, und namentlich auch der nicht, eine sogenannte dramatische d.i. bühnengemäße Beschleunigung zu erzielen, die in einem Oratorium, welches mit dem Aufgeben der äußeren Darstellung auch von den Fesseln derselben entbunden ist, nicht erzielt werden kann noch soll, – sondern wo der Schwerpunkt in die Zeichnung von Charakterbildern und Stimmungsscenen gelegt ist, in denen und durch welche die Handlung auf völlig musikalischem Grunde fortschreitet, so daß das Dramatische immer entweder (im Recitativ) auf bloße Andeutungen beschränkt bleibt, oder (in Arie und Chor) erst als ein Zweites und Abgeleitetes sich ergeben kann. Nur auf solche Weise vermag das Oratorium seinen Gegenstand zu erschöpfen und ein vollendet selbständiges künstlerisches Ganzes zu liefern. Wollte man bei Saul etwas streichen, so würde wohl zunächst an die Reihe kommen aus dem ersten Akte: Merab's erste Arie »Wie schändest du dein stolz Geschlecht« S. 63–66, – der zweite Theil von Jonathan's[55] Arie »Rang und Hoheit« S. 69, – der erste Theil von Michal's Arie »Seht wie sie so höhn'schen Blicks« S. 72–74, – und Merab's Arie »Bethörter Mann, der Launen Raub«. Aus dem zweiten Akte: die ganze oder fast die ganze Scene nach dem Eingangschore zwischen Jonathan und David S. 122–131, zwei Arien und mehrere Recitative. Fast alle diese Gesänge sind nicht lyrischer oder dramatischer, sondern betrachtender Natur und würden nach jetzt herrschender Auffassung eben deßhalb getilgt werden müssen; Merab's große Arie müßte also fallen, obwohl sie musikalisch vieles andere überragt und in den Händen einer bedeutenden Sängerin ihres Erfolges gewiß ist. Wir meinen nun durchaus, man solle weglassen was an sich entbehrlich oder von den vorhandenen Kräften nicht zu bewältigen ist, obwohl auch der geringeren Kraft durch Eröffnung des rechten Verständnisses oft unverhofft Flügel wachsen; aber wir meinen auch, man solle wenigstens so bescheiden oder nur so aufrichtig sein und das nicht als einen Mangel des Werkes hinstellen, was lediglich ein Mangel der aufführenden Kräfte ist; und wir bestreiten das Recht zu jeglicher Kürzung, selbst der wohl angebrachten, sobald sie durch Ansichten geleitet wird, die, dem Wesen des Oratoriums fremd, nur aus schwächlicher Abhängigkeit entweder von dem Kirchen-, oder dem Bühnen-, oder dem Liedgesange entspringen. Die Form der Rundstrophe mit Wiederholung des Vordersatzes, sonst bei Händel das gewöhnlichere, kommt in Saul nur selten zur Anwendung, sicherlich deßhalb, weil für derartige breite Arien in dem ganzen Mitteltheile dieses Oratoriums als Gegengewicht die breiten Chöre fehlten, wie solche in Samson und anderswo vorhanden sind. Hierdurch ist also dem für die mittleren Theile des Werkes ihrer kleinen Scenen wegen so wünschenswerthen raschen Fortgange der Geschichte der beste Vorschub geleistet.

Die erste Aufführung ging am 16. Januar 1739 vor sich;32 bis zum 19. April wurde das Werk noch fünfmal wiederholt. Von der zweiten Aufführung an, seit dem 22. Januar, werden die Orgelsätze, mit denen Saul ausgestattet ist, in den Ankündigungen ausdrücklich[56] angeführt, »With several new Concertos on the Organ«. Andere (z.B. Arne, Festing und Genossen in ihren wöchentlichen Subscriptionsconcerten bei Hrn. Hickford) beeilten sich, ihm diese Neuigkeit der Orgelconcerte sofort nachzumachen. Das Textbuch verlegte Thomas Wood, die Gesänge brachte John Walsh im Februar.33 Saul wurde auch später noch oft mit Beifall wiederholt. Eine Freundin Händel's, die geistreiche Frau Delany, bezeichnet das Oratorium als eins ihrer Lieblingsstücke,34 womit, sobald das Werk nur erst durch richtige Aufführungen bekannt geworden ist, das allgemeine Urtheil übereinstimmen wird; und bei der Wiederholung 1745 mahnte Jemand, diese Musik werth zu halten, deren wunderbare Macht durch Verherrlichung des Schmerzes den Schmerz lindere.35[57]

Die erste Vorstellung des Saul hat dadurch eine geschichtliche Bedeutung erlangt, daß mit ihr die Folge von zwölf Oratorien-Aufführungen begann, welche Händel fortan mit geringen Unterbrechungen jährlich veranstaltete. Die große oratorische Periode singe hiernach mit dem 16. Januar 1739 an. Händel miethete das bei den kriegerischen Verhältnissen leer stehende und günstig gelegene Haymarket-Theater (Heidegger's Opernhaus) für zwölf Aufführungen, und gab wöchentlich eine.36 Parterre und Logen legte er zusammen, wie bei Concerten bräuchlich geworden war, und nahm für den Platz 1/2, Guinee, für die Gallerie 5 Shilling; letztere wurde um Vier, der erste Platz um Fünf geöffnet, und die Musik begann um sechs Uhr: Bestimmungen welche auch für seine späteren Aufführungen und in andern Theatern Geltung behielten. Außer Alexander's Fest »mit verschiedenen Concerten für Orgel und andere Instrumente« erneuerte Händel auch die Allegorie Il Trionfo del[58] Tempo e della Verità, ebenfalls mit Instrumentalconcerten;37 außerdem stand noch ein ganz neues Werk bereit und kein geringeres als »Israel in Aegypten«: so daß er trotz der höchst ungünstigen Zeitverhältnisse wohl mit einiger Zuversicht seines Erfolges gewiß sein durfte.


Israel in Aegypten. 1738.

(Israel in Egypt.)


Bei Saul hatte Händel auf's neue erfahren, welche Schwierigkeiten die breit auseinander gehenden, theils dem gesungenen theils dem gesprochenen Bühnendrama nachgeahmten modernen Texte einer oratorischen Composition bereiteten, aber auch, welch eine reiche Goldader das einströmende biblische Gedicht ihm geworden war. Lebhaft wandte er sich daher nach einer Quelle zurück, die ihm noch immer die frischeste Erquickung und die stärkste Anregung zum Schaffen gewährt hatte, nach den Dichtungen der Bibel, und warf sein Auge nun auf den Lobgesang welchen Moses und die Kinder Israel für die Errettung aus der Macht der Aegypter jenseit des rothen Meeres anstimmten.

Zunächst war seine Absicht nur, dieses Lied für sich, noch ohne Beziehung auf ein größeres Ganzes, in Musik zu setzen, wie aus seiner Handschrift unzweideutig hervorgeht. Am vierten Tage nach Beendigung des Saul, am 1. October, begann er den jetzigen zweiten Theil des Israel und überschrieb ihn »Moses Song. Exodus. Chap 15 | angefangen Oct. 1. 1738«. Am Schlusse steht: »Fine. Octobr 11. 1738«.

Nach Beendigung des großartigen Preisgesanges muß ihm bald klar geworden sein, daß derselbe zu seiner vollen Wirkung auch jener großen geschichtlichen Unterlage bedurfte, aus der er entsprang. Die Knechtschaft Israel's in Aegypten nebst der Befreiung mußte dargestellt werden, und Händel gedachte den Kreis erschöpfend weit zu ziehen, indem er auf den Anfang des Elends, auf Joseph's Tod,[59] zurück ging. Hierbei scheint ihn zunächst eine rein musikalische Erwägung geleitet zu haben, die nämlich, die herrliche Begräbnißhymne für Königin Karoline oratorisch zu verwerthen. In Saul, wie er sich soeben (S. 40 ff.) überzeugte, hatte sie nicht passen wollen, und doch ging sie so weit über die kirchenmusikalischen Bahnen hinaus und war so voll von Charaktergehalt, daß in ihr gleichsam eine unwillkürliche Bewegung zu einem oratorischen Ganzen hin sich kund gab.38 Nun meinte er, was bei Saul's Untergang sich nicht habe schicken wollen, könne wohl als Todtenklage um den edlen milden Joseph am Orte sein: und so ließ er den ganzen ersten Theil seines neuen Werkes bestehen aus einer Klage Israel's über den Tod Joseph's, zu welcher die volle Hymne verwandt wurde, nicht mehr und nicht minder. Mit dem Entschlusse war auch die Ausführung gegeben, weil an Worten und Musik alles fertig vorlag; nur ein Vorspiel zur Eröffnung des Oratoriums mußte hinzu gefügt werden, und so entstand die schöne, tief empfundene Einleitung in Gmoll,39 welche also streng genommen dem eigentlichen Anthem als einem Kirchenstücke nicht zugehört, sondern die Ouvertüre zu Israel in Aegypten bildet.

Alles dies war in einigen Tagen geplant und berathen, so daß Händel schon am vierten Tage nach Beendigung des Lobgesanges den geschichtlichen Mitteltheil seines Gegenstandes vornehmen konnte. Dieser, der jetzige Anfang des Oratoriums, ist auf dem ersten Blatte des Originals überschrieben »Act 1. Neue Oratorien; 2d | 15 Octobr 1738«, die anfänglich gesetzte Musik aber später verworfen und auf dem vierten Blatte neu begonnen »Now there arose a new King« mit der Ueberschrift[60] »Part 1. Neue Oratorien; 2 of Exodus«. Am Schlusse des Chores »And believed the Lord« steht: »Fine della Parte 2da d'Exodus | Octobr. 20. 1738. | Octobr 28« [d.h. völlig geendigt]. Also der jetzige erste Theil sollte ursprünglich der zweite Theil sein, und der »Gesang Mose's« dann der dritte; letzterer ist in der Handschrift nicht ausdrücklich als dritter Theil bezeichnet, enthält aber, nach nochmaliger Durchsicht und Ausfeilung, zum Schlusse über das Ganze die Bemerkung – »den 1. Novembr völlig geendiget«.

In diesen drei Theilen wurde Israel auch von Händel zur Aufführung gebracht; aber zum Druck gelangte das Anthem als ein Werk für sich, und der zweite und dritte Theil als Oratorium »Israel in Egypt« ebenfalls für sich, und da die Händel'sche Zusammensetzung nirgends angedeutet war, mußten sich die Aufführungen in späterer Zeit natürlich an die gedruckte Partitur halten. So ist es gekommen, daß dem Werke jetzt, wo es mit dem ursprünglich zweiten Theile beginnt, die Ouvertüre oder Instrumentaleinleitung fehlt. Weil Händel niemals ein derartiges Werk ohne Vorspiel gelassen hat, ist es gegen seinen Sinn und Brauch, ein Oratorium mit dem planen Recitative anzufangen. Man pflegt zwar zu sagen, die eigentliche Ouvertüre sei in dem ersten Chore gegeben; aber die Voraussetzung, welche hierin liegt, nämlich daß Händel bei dem Anfange eben dieses Werkes absichtlich dem ersten Chore einen Platz habe anweisen wollen, welchen sonst die Ouvertüre einzunehmen bestimmt ist, erweist sich nicht nur aus der Entstehung des Werkes als grundlos, sondern ist auch an sich zu beanstanden, da nach Händel's reiner Anschauung Gesang und Spiel einander weder vertreten noch im Wege stehen. Ob ein Vorspiel vorhanden oder nicht, ist von keiner Erheblichkeit und war nur wegen der daraus gezogenen Folgerungen hier eingehender zu erörtern. Uebrigens wäre ein passendes Vorspiel bei Israel ganz am Orte und dessen Beschaffung immerhin weit verdienstlicher, als die Verwüstung der Partitur durch unklare, in's Blaue hinein fahrende sogenannte »Bearbeitungen« und »Instrumentirungen«. Händel blieb sich darin treu, dem jetzigen Anfange in der Aufführung seine Stelle als Mitteltheil zu belassen: als er i.J. 1756 das Werk nach langer Ruhe wieder erneuerte und der Wirkung zu lieb nach Kräften neu aufputzte, vertauschte er das[61] Anthem, die Todtenklage um Joseph, mit dem ersten Theil aus Salomon, ließ aber dann, ganz wie früher, das »Nun kam ein neuer König in Aegypten« folgen. Weil ihm aber auch bei dieser Umstellung ein durchgreifender Erfolg nicht glücken wollte, ein solcher dagegen später durch die jetzt gebräuchliche Art der Aufführung erzielt ist, so dürfte eine gewisse Berechtigung vorhanden sein, sich hier nicht an Händel's Praxis sondern an das zu halten, was sich durch den allgemeinen Erfolg so glänzend bewährt hat. Wer in diesem Anfange, in dem Fehlen einer Instrumentaleinleitung, in dem einfachen Recitativ, etwas besonders Sinnvolles und Charakteristisches erblickt, preist eine Schönheit an welcher der Tonsetzer unschuldig ist und die lediglich durch die veränderte Art der Aufführung entstand. In Händel's Sinne erklärt sich der jetzige Anfang des Israel am einfachsten durch einen Blick auf die Oratorien Samson, Theodora u.a., deren zweiter Akt, ebenfalls ohne Vorspiel mit einem bloßen unbegleiteten Recitative beginnt. Damit soll indeß nur eine nicht unwichtige Thatsache festgestellt, aber keineswegs gesagt sein, daß es sich irgendwie empfehle, bei der Aufführung des Israel wieder auf Händel's Verfahren zurück zu gehen. Mit gutem Recht sehen wir das Oratorium in seiner uns überkommenen und vertraut gewordenen Gestalt als ein Ganzes an, was aus einer Besprechung desselben erhellen wird.

Nach den Händel'schen, nun auch in unserer Ausgabe40 mitgetheilten Ueberschriften enthält der erste Theil des jetzt zweitheiligen Werkes den »Auszug« aus Aegypten, der zweite das »Lied Mose's« über den Auszug; der erste die That, der zweite den Preisgesang der That. Die Worte sind der Bibel entlehnt, der erzählende Theil in trefflicher Auswahl aber immer mit Bewahrung seiner ursprünglichen historischen Form.

Auf das anhebende Tenor-Recitativ, welches die nach Joseph's Tode begonnene Bedrückung der Israeliten in Aegypten erzählt, ergreift der Alt das Wort und führt den Bericht weiter in schweren, thränengesättigten Tönen, in die sofort der Doppelchor eintritt.[62] Er ist aus drei Motiven aufgebaut: aus dem des Alt-Solo »Und die Kinder Israel's schrien in ihrer harten Arbeit« – aus dem unruhig bewegten über die dem vorauf gegangenen Recitativ entnommenen Worte »Sie erlagen der Arbeit« – und aus dem gewichtvollern »Und ihr Schrei'n stieg auf zu dem Herrn«. Letzteres ist das, was der Chor neu hinzu bringt, mit welchem er auch, Soprane und Alte unisono, beginnt. Nach diesem Anfange bildet sich nun die Gestalt des Chores durch die Vereinigung und Gesammtdarstellung des zuerst in Tenor-Recitativ Alt-Solo und Chor-Unisono getrennt Aufgetretenen. Die drei Empfindungen: Druck und Plage der Arbeit, Schreien in der Knechtschaft, Aufsteigen des Schreiens zu Gott, sind hier so bewundernswerth verschieden, in so schlagende Gegensätze gestellt, daß uns erst aus Händel's Tönen ihre Natur recht klar zu werden scheint. Nur bei einer solchen Gestaltung war es möglich, die gemeinsame Stimmung schweren, bleiernen Druckes in dem ganzen Chore durchtönen zu lassen; was unter andern Umständen sicherlich Monotonie erzeugt hätte, bewirkt hier nun das klare Verständniß der ganzen Lage und alle tiefere Theilnahme. Das unaufhaltsame Drängen der Unterdrücker ist der bewegende Theil des Chores; zwischendurch wird laut, daß Nothschreie zu Gottes Thron aufsteigen, aber mit starker Hand hält die Tyrannei alle Hoffnung nieder: worauf endlich das Schreien sich überlaut erhebt, alle Stimmen vereinend, für einen Augenblick alle Drangsal übertönend, und wenn auch nicht Freiheit so doch einen kurzen Stillstand der Noth bewirkend. Dieser Ausbruch steht in der Mitte des Satzes; wie er in dem unteren Chore ermattend austönt, kündigt sich in dem oberen sofort wieder die Drangsal an: aber es ist als könne sie nicht mehr mit voriger Gewalt zur Geltung kommen, denn Tenor und beide Bässe singen ihr das in uralt religiösen Naturlauten erschallende »Und ihr Schrei'n stieg auf zu dem Herrn« nun weit muthvoller entgegen, welches sodann zum Schlusse, als trostreiche Verheißung auf den die Mitte des Chores durchschneidenden Schmerzensschrei, inder vereinten Gewalt beider Chöre die ganze Masse ergreift und damit schon jetzt in hoffnungslosesten Anfängen den siegreichen Ausgang verkündet. Das ist Händel'sche Exposition! Man erwäge nur die Schwierigkeiten, die sich hier, noch dazu bei einem rein erzählenden[63] Texte, aufthürmten, und nun die leichte, durchsichtige Zeichnung, den treuen Zug des Lebens in welchem das Ganze gestaltet ist, Ende und Mitte tiefsinnig verbunden: so wird man einen solchen Satz nur mit stummer Bewunderung betrachten können.

Hierauf, heißt es weiter, sandte Gott Moses und Aaron, die Zeichen und Wunder thaten. Das erste war: Verwandlung des Nilwassers in Blut. Vierstimmiger Chor »Mit Ekel erfüllte der Trank nun« – eine einfache, ausdrucksvolle Fuge, so ausdrucksvoll und grausig, daß ein ausgeprägter Vortrag körperliches Unbehagen verursachen könnte, wenn nicht die Kunst und das schöne Ebenmaaß der Tonformen das Gegengewicht hielten. Die Fuge ist aus einer seiner um 1720 entstandenen, aber erst 1735 gedruckten Clavier- und Orgelfugen41 umgebildet, was unten im 2. Kapitel ausführlicher zur Sprache kommen wird.

Die zweite, fünfte und sechste der Plagen, welche Aegypten züchtigten, Frösche Viehpest und Blattern, faßt eine Altarie zusammen. Diese Arie singt man in England mit treuherzigem Ernst ab wie sie da steht, in Deutschland wird sie wunderlich angeglotzt. Die welche meinen, Händel habe sich mit den hüpfenden Fröschen einen Scherz machen wollen oder sei hier in kindische Malerei verirrt, halten sich bei weitem nicht für die dümmsten. Der Scherz muß ihm aber wohl fern genug gelegen haben, wenn man noch darüber streiten kann, ob hier in der Begleitung überhaupt ein Hüpfen der Frösche angedeutet sein solle, denn mit Recht ist darauf hingewiesen, daß Händel derartige Figuren wie


1. Neue Oratorien

fast stereotyp anwendet, wo er Schreck und Grausen ausdrücken will: und daß er den Violinen, sogar einer einzigen, in einer Arie dies ebenso gern überträgt, als einer größeren Begleitmasse des Chores, wissen wir ebenfalls aus zahlreichen Beispielen. Zudem schildert uns die Arie drei Plagen, wo es denn nach Händel's Art völlig undenkbar wäre, daß der Text zur Spielerei mit einer einzigen mißbraucht sein sollte. Aber eine Rücksichtnahme auf die Bewegung der Frösche ist damit nicht abzuweisen, sie ergiebt sich hier sehr natürlich. Lag ihm bei der schreckerregenden[64] Natur des Gegenstandes die angedeutete Begleitung nahe, so war nur nöthig der Figur eine abspringende, hüpfende Bewegung zu geben: in diesem Sinne, für Händel aber auch nur in diesem Sinne, war es einer musikalischen Nachahmung noch möglich, die eigenartige Bewegung der Frösche abzureichen. Man muß nur beachten, in welcher Weise er überhaupt die Kreatur nachahmt. Er thut dies nie äußerlich, nie vereinzelt, läßt sich nur für das Ganze einen Impuls geben, den er dann in Form eines Motivs zu einem idealen Charakterbilde auswirkt. Dabei läßt sich von den Graden seiner Benutzung der musikalischen Merkzeichen natürlicher Dinge fast eine Scala bilden. Was direct in's musikalische Gebiet einschlägt, d.h. dem Tone wie dem Sinne nach einer tonkünstlerischen Aufgabe sich bequemt, Vogelsang, das wirbelnde Gesumm der Fliegen u.dergl., zeichnet er möglichst naturgetreu, und wieder um so mehr je näher es der wirklichen oder idealen Musik steht, also die Nachtigall treuer als irgend einen andern Vogel – man vergleiche nur die Nachtigallenarie in Allegro »Wie süß, o Trost der Nacht« mit der Vogelarie in Josua »Horch, 's ist der Vögel Morgenschlag«. Was ferner ab liegt, was nicht geradezu von der Musik zu erfassen ist, was nicht tönt oder singt, erreicht er – ebenfalls wieder ganz in den Bahnen der Kunstnatur beharrend – auch nur auf Umwegen: und hier ist das Gebiet des ihm Erreichbaren wahrhaft unendlich, immer durch die jeweilige Aufgabe bedingt, daher auch vorweg durch allgemeine Gesichtspunkte nicht weiter zu begrenzen, denn wenn auch alle directe musikalische Nachahmung da wo Klang und Stimme aufhören natürlich ihr Ende findet, hängt doch die indirecte und abgeleitete von Umständen ab, die mit jeder neuen Aufgabe Neues zu Tage fördern können. Den Kukuk und die Wachtel z.B. zu copiren, wie andere, große und kleine, Meister gethan haben, ist Händel nie in den Sinn gekommen; sollte es aber Gott gefallen haben, Kukuk und Wachtel in den Plagen Aegypten's oder sonstwo im menschlichen Bereiche eine Rolle spielen zu lassen, so würde er ihnen auch musikalisch gerecht geworden sein. Noch weit ferner lag ihm, das Hüpfen der Frösche zu copiren; was in der vorstehenden Arie sich davon geltend macht, ist anzusehen als eine aus der Natur dieser Begleitung sich ergebende Folge, nicht als Zweck und erster Anstoß[65] dazu: nur in diesem beschränkten und rein künstlerischen Sinne hat er es nachahmen wollen und können. Ganz ebenso verhält es sich mit dem im folgenden Chore auftretenden Heuschreckenbaß.

Weil Frösche, Blattern und Pestilenz hier nicht eben besonders starke oder mannigfaltige musikalische Empfindungen erregen, wurde der Text zu einer Arie gestaltet, da es einem einzelnen Sänger bei glücklicher Begabung und Einsicht leicht ist, den Vorgang individuell zu beleben. Aber bei der Verkündigung der drei folgenden Plagen (der dritten, vierten und achten nach biblischem Berichte) macht sich der Chor um so entschiedener wieder geltend. Er, Moses, sprach das Wort: so beginnen die starken Bässe und Tenore unisono, die Instrumente wiederhallen, und auf einen Schlag wie aus dem Staube hervor wimmeln Schaaren von Mosquitos und Hundsfliegen (Fliegen und Mücken in unserer, Läuse und Ungeziefer in Luther's, Fliegen und Läuse in der englischen Uebersetzung) auf in die Luft; wieder und wieder erschallt das Wort in eherner Festigkeit, und immer auf's neue stürmt das Ungeziefer drunter und drüber in schwarzen Wolken heran. Endlich aber, auf ein neues Wort, kommen noch die furchtbaren Heuschrecken hinzu und fressen das Erdreich kahl. Er läßt sie anrücken in einer Figur der Bässe, die, mit dem in die Geigen verlegten Geschwirr des lustigen Ungeziefers vereint, alle menschliche Existenz unsicher zu machen droht. Die Originalität des Chores ruht auf dieser Begleitung, namentlich auf der der beiden Violinen und Viola, welche uns das Fliegengewühl in rosig harmonischem Geschwirr und handgreiflicher Natürlichkeit vorführen. Dieser Gedanke, ohne Vorgänger hier bei Händel völlig neu in die Erscheinung tretend, hat einen reichen Stammbaum von bewußten oder unbewußten Nachahmern aufzuweisen; nur haben die modernen Nachahmer den Gegenstand gewechselt und das, was Händel in reizender Frische dem kreatürlich Lebendigen ablauscht, auf Elfen, Spuk- und Traumgeister übertragen, auf Wesen also, die mit der Natur nur durch das Band des reflectirenden Verstandes zusammen hangen, denen es bei vielleicht tiefem Sinne und hoher poetischer Schönheit doch als Gegenstand musikalischer Gestaltung an aller und jeder Naturwahrheit gebricht – weßhalb auch kein objectiver Maaßstab für die Beurtheilung solcher Musik vorhanden ist. Und nothwendig[66] folgt hieraus weiter, daß diese modernen Gebilde, als abhängig von gewissen sie tragenden Zeitstimmungen, auch mit dem Schwinden jener Stimmungen ihres Stützpunktes verlustig gehen und farblos erbleichen, während Händel's Fliegenschwärme allen Menschengeschlechtern gleich lebenswahr und lustig erscheinen müssen. Der Unterschied zwischen idealer Nachahmung von Naturerscheinungen und musikalisch-realistischer Nachahmung von Phantasiegebilden ist für die Kunst ein großer und wichtiger, der zuletzt in den Gegensatz von Ernst und Tändelei ausläuft: und man wird wohl nicht umhin können anzuerkennen, daß es kein Zeichen sei von Gesundheit der Kunst, wenn eine musikalisch-realistische Darstellung auch da versucht wird, wo nicht wirkliche sondern nur abgeleitete Natur vorhanden ist. Die bildende Phantasie ist zwar höchst machtvoll und herrlich in ihrem Gebiete, aber ein kümmerliches Ding als Surrogat der Natur. Möge man dies einmal ernster als bisher in Erwägung ziehen! Niemand hat der Kunst vorzuschreiben, was sie machen und wie weit sie gehen soll: aber das Entstandene darf man frei prüfen und den einfachen Grundsatz zur Geltung bringen, daß verschieden geartete Wesen auch ein verschiedenes Schicksal haben. Und so kann es kommen, ja ist ganz natürlich, daß ein Gestirn des Himmels noch in altem Glanze leuchtet, wo die Glühwürmchen aus dem Elfenreiche mit ihren erborgten, an der Poesie entzündeten Flämmchen längst erloschen sind.

Was die Heuschrecken von der Feldfrucht übrig gelassen, zerschmettert nun der Hagel, der als achte (in der Bibel als siebente) der Plagen mit unbeschreiblicher Gewalt herein bricht. Mehr noch als der vorige ist es ein Doppelchor im älteren Style, wo die Hälften respondirend mit ihren Endpunkten in einander einfallen und dadurch sich gegenseitig steigern. Die Gewalt dieses Chores muß erlebt sein, um für möglich gehalten zu werden. In England ist er so erprobt, daß alles, was sonst Gewaltiges an Chören dort zu Gehör kommt, nach dem »Hagelchor« abgeschätzt wird, und was ihm an Wirkung auch nur beinahe gleichkommt, muß schon eine beneidenswerthe Höhe erreicht haben. Wirklich steht er da wie ein musikalisches Urgebirge in großartig einfachen Zügen. Die Singstimmen bewegen sich in den leichtesten Intervallen, die zugleich immer die machtvollsten[67] sind, und nicht minder einfach ist die Begleitung in der das wilde Unwetter hernieder prasselt. Der kühnste Zug des Ganzen, völlig im Einklange mit dem furchtbaren Schauspiel der Natur, ist die Darstellung des Blitzes, der aufzuckend und das Gewölk zerreißend auf die Erde herabfährt unter nachrollendem Donner:


1. Neue Oratorien

Ein geistvolleres und in idealem Gewande treueres Bild der erhabenen Naturerscheinung ist nicht denkbar; das Motiv gehört auch zu den glücklichsten und trägt auf's entschiedenste Händel's Gepräge, was um so merkwürdiger ist, da er (wie an einem andern Orte nachgewiesen werden soll) den Keim dazu direct von Stradella entlehnte.42

Nach einem solchen unter Angst und wechselnden Schrecken durchlebten Tage bricht finstere Nacht herein, eine Finsterniß deren Anblick die Menschen erstarren macht: und man sollte, ohne es erfahren zu haben, wieder nicht für möglich halten, daß die Kräfte der Musik, und zwar so winzig einfache wie die hier angewandten, zureichten, ein derartiges Dunkel sammt seinen menschlichen Zuständen[68] hervor zu zaubern. Die Singstimmen, nachdem sie in den ersten zehn Takten als geschlossener vierstimmiger Chor aufgetreten sind, gehen in Recitativ auseinander, scheinen sich aufzulösen, in der Dunkelheit sich zu verlieren; eine wiederholt das Wort der andern oder führt es weiter, und dadurch bildet sich ein Fortgang in welchem die Stimmen gleichsam umher tappen und bei leisem Erzittern einer düstern Begleitung einander die Hand zu reichen und sich zu halten suchen. Es ist das größte Chorrecitativ, in seiner Art also der größte Kunstsatz welcher vorhanden ist, und steht im ganzen Bereiche der Tonkunst ohne Nebenbuhler da.

Mit jähem Schlage zerreißt die Musik das Nachtbild und deckt einen Tag auf voll Jammer und Verzweiflung: der Schlag traf die Erstgeburt, die Blüthe Aegypten's. Erbarmungslos wie der Gesang erschallt, wirkt er doch erst wahrhaft zerschmetternd durch die Schläge des Orchesters, die ihn heben und beflügeln. Auch diesem Chore liegt eine Händel'sche Clavierfuge (Nr. 1 der Sammlung v. 1735) zu Grunde, die aber eine noch viel merkwürdigere und lehrreichere Umgestaltung erfahren hat, als die S. 64 erwähnte. Die weitere Darlegung wird ebenfalls unten im 2. Kapitel erfolgen.

Das ist die letzte und schrecklichste der Plagen, welche über die Peiniger Israel's herein brechen. Aber Israel, aber sein Volk Israel hat der Herr nicht vergessen, er schützt und hütet es wie ein Hirt: und hiermit wird den grausigen Bildern ein anderes gegenüber gestellt, welches nur idyllischen Frieden und selige Sicherheit athmet. Dieses wundervolle Chorbild muß zwar unter allen Umständen die Herzen gefangen nehmen, wirkt aber hier als Gegensatz zu den düsteren Schreckensscenen wahrhaft zauberisch. Der Gang in die öde langgedehnte Wüste wird froh belebt durch die Morgensonne der Freiheit, welche nach langer, langer Knechtschaft jetzt zum ersten Male aufglänzt. Alles drängt sich auf ihren Weg, nichts will zurücke bleiben, so daß, immer den wirklichen Vorgängen entsprechend, der Chor in dem Nachsatze zu einer Massenhaftigkeit anschwillt, die selbst in diesem Kraftoratorium kaum überboten wird. Freilich groß war das Wunder, welches sie errettet und in Bewegung gebracht hatte, so groß, daß sie über seinem Anschauen und vor seiner Wirkung, über die zusammen strömenden unzählbaren Massen, nun[69] freudig erschraken. Der wahre Lebensgrund der Geschichte wird durch Händel's Töne wieder sichtbar wie unmittelbare Gegenwart. Das Volk Aegypten's – heißt es in dem folgenden Chore, einem fugirten Satze in umgekehrter Beantwortung und in phrygischer Tonart – sah sie erleichterten Herzens davon ziehen, denn ihr früherer Hochmuth hatte einer dumpfen Furcht Platz gemacht. Der fremdartige Tonsatz muß nachdrücklich betont und doch leicht vorgetragen werden; wo man aber in dieser Hinsicht seiner Sache nicht sicher ist, lasse man ihn lieber ganz weg. Händel hat ihn(wohl erst bei der nächstjährigen Aufführung) ebenfalls überschlagen und dafür von Sigra. Francesina die ursprünglich für Athalia gesetzte Arie »Through the land, so lovely blooming«43 singen lassen, und so wenig auch aus später anzugebenden Gründen Händel's Kürzungen und Aenderungen bei diesem Oratorium im Allgemeinen gebilligt und nachgeahmt werden können, dürfte diese Arie doch zu den Stücken gehören, welche sich noch am leichtesten einfügen lassen; sie hält die Stimmung gegenwärtiger Freude fest und läßt in süßer Vorahnung die Wonne der Fluren Kanaan's kosten.

Will man sich indeß über den in rein künstlerischer Hinsicht vorhandenen kleinen Mißstand hinweg setzen, daß auf einen Fortissimo-Chorschluß ein neuer Chor in gleicher, fast noch überbietender Stärke beginnt, so wird die Phantasie der Hörer, die durch alles Vorausgegangene ohnedies schon erwartungsvoll auf das Stärkste und Außerordentlichste gelenkt ist, etwas besonders Erhebendes darin finden, sich mit den glücklich Befreiten sofort an das rothe Meer versetzt zu sehen, dessen Fluthen auf einen majestätischen Wink Gottes weichen und einen Weg bilden, durch den Israel so trocken hindurch zieht wie über die Wüste. Zur Verkündigung dieses Ereignisses wählt Händel einige einfache Accorde, deren Ausdrucksgewalt er so über alles, was vor und neben ihm versucht wurde, zu steigern wußte, daß Derartiges nun allgemein als urhändelisch und als sein[70] festestes Besitzthum angesehen wird, obwohl es zum Theil nach älteren Werken umgebildet ist, z.B. das gegenwärtige nach dem Magnificat von Erba. Aehnlich geformte musikalische Machtsprüche kommen von nun an mehrere vor und helfen wesentlich das Werk in seiner überragenden Größe aufbauen.

Die besprochenen Worte »Er gebot der Meerfluth: und sie trocknete aus« öffnen wie ein großes Prachtthor die Schilderung des Durchgangs durch das Meer, sowohl der Israeliten wie der nachsetzenden Aegypter, und beider Schicksale. In herrlicher Sicherheit beginnt das Thema den kunstvoll fugirten Doppelchor »Er führte durch die Tiefe trocken sie hindurch«, und wir sehen das Volk in breiten Massen hindurch schreiten, allseitig umwogt von den abfließenden, emporschlagenden Wellen, die vor ihren Tritten zu fliehen scheinen und sich weiterhin zu glänzenden Wogenbergen aufthürmen – die aber aufbrausend sofort zurück stürmen, als Israel kaum das Ufer erreicht und das Heer der Aegypter soeben den Wasserweg betreten hat. Der behaglich breite und geschmückte achtstimmige Gesang wird mit dem Eintritt des »Doch die Feinde überströmte die Wasserfluth« gleichsam durch die anrückenden zischenden Stromwellen des Orchesters auf einen vierstimmigen und einfach harmonischen eng zusammen gedrängt: mit größter Wildheit schlagen die Wogen zusammen und peitschen die Feinde in den Abgrund; wie verzweifelt sie auch gegen die tobende Fluth ankämpfen, nicht Einer, nein, nicht ein Einziger vermag zu entrinnen. Welch ein Bild! In den Vorgang furchtbar erhabener Natur, wie tief Menschennatur und Schicksal eingezeichnet!

Und welch ein Schauspiel, welch ein Erlebniß für Israel! Ueberwältigt, starr vor Entsetzen, recken sie ihre Arme empor zu der himmlischen Allmacht; Furcht und Zittern drängt jeden Laut der Freude zurück: nun glauben sie dem Herrn und seinem Diener Moses. Mit diesem Bekenntniß, einer der Stimmung entsprechenden tiefbewegten aber durchaus nicht lauten Feierlichkeit, schließt der erste Theil.

Es scheint uns, in so weit vorgeschrittenen christlich-humanen Zeiten, wohl ein strenger und harter Zug, daß die Menschen so vor dem Handeln der Gottheit verschwinden und wie vernichtet dastehen,[71] unfähig, selber werkthätig einzugreifen da wo es sich doch nur um ihr eignes Heil handelt – und allerdings lag das im Gefühl und Glauben jener Urzeiten: aber welch eine Fülle von wahrer menschlicher Freiheit schließt der eine Gedanke ein, daß auch der höchste und unbedingt siegreiche Gott erst Glauben verlangt, nachdem er seine Wunderthaten gewirkt und das Heil bereits gebracht hat! Ihre Anbetung, wie furchtsam sie sich auch äußere, ist daher nicht mehr gegründet auf götzendienerischer Knechtschaft, auf Ertödtung, Erdrückung, Verläugnung des Menschlichen, sondern auf dem Bewußtsein jener inneren Befreiung, mit deren Beginn für die Menschheit die Morgenröthe eines höheren Tages anbrach. Die Erlösung Israel's aus der Sclaverei Aegypten's und der dadurch sich bildende Gottesstaat (republikanische Theokratie) ist daher der wahre Anfang der menschlichen Geschichte.

Blicken wir zurück auf die Kunstmittel, welche der Meister zur Schilderung so gewaltiger Vorgänge anwandte, so findet sich nirgends etwas Gemachtes, von dem Musiker abseiten des Gegenstandes auf eigne Hand Erdachtes, sondern überall nur die Wahrheit des Lebens, verklärt durch das Aufgebot der besten Kräfte der Kunst. Auch die Form des großen Ganzen – so scheint es dem aufmerksamen Zuhörer – hat er sich von dem Gegenstande einfach herreichen lassen. Wohl war es eine grandiose Idee, ein Oratorium, ein erhabenes Bild aus der Völkergeschichte, fast ausschließlich in Chören aufzuthürmen, eine Kette von harmonischen Bergriesen wie mit Schöpferhand hinzustellen. Aber es ist Gewicht darauf zu legen, daß beim Anhören des Werkes keinem der Gedanke an einen derartigen Vorsatz in den Sinn kommen wird: so sehr bewährt sich das, was da steht, als durch den Gegenstand bedingt und gegeben. Es ist nur natürlicher Fortgang in dem einmal angeschlagenen musikalischen Sprachtone, wenn so in Chören fortgeschritten wird von der Fliegen- und Mückenplage bis zur vollendeten Errettung; der eine Chor ruft den andern als nothwendige Folge und Ergänzung hervor. Ein solches Wagniß war aber nur ausführbar bei der Kunst, die Händel in einem von Andern nicht wieder erreichten Grade besaß, selbst Chormassen in vollendeten und (ohne das Gebiet des Chores irgendwie zu verlassen) immer neuen Gegensätzen zu gestalten – was eine Allseitigkeit[72] in der Bewältigung der Mittel der Tonkunst oder, um es mit andern Worten zu sagen, eine geistig-künstlerische Freiheit bekundet, die unbegrenzt scheint und auf alles das Siegel des Gelingens drückt, ohne welche hier aber auch rein garnichts auszurichten war. Er horstet wie ein Adler, wo Andere sich nur mit Mühsal bewegen; unter Wundern hat er seine Heimath. Was Andern unaussprechlich, dafür scheint ihm der Ton angeboren, und so erweitert er die Grenzen der Kunst und durch sie die der Menschheit.

Zweiter Theil. Staunen und Furcht vor der Gewalt, die unsichtbar so Großes wirkte, werden endlich durch den hervor brausenden Strom des Dankesjubels überwunden, durch das unsterbliche Lied welches Moses und die Seinen am Gestade des rothen Meeres anstimmen. Der zweite Theil bildet hierdurch ein Werk für sich. Wie wir S. 59 sahen, hat Händel ihn auch ganz für sich componirt und zwar in der Form einer Cantate, deren Anfangssatz zum Schlusse wiederholt wird, wodurch das Ganze als eine zu großen Formen erweiterte Rundstrophe erscheint. Aber auch wenn das Stück als »Lied Mose's« bei ihm nicht gesondert entstanden wäre, würde es die angedeutete Fassung und Rundung erhalten haben, weil diese dem Gegenstande allein angemessen ist. Denn da in dem Liede das große Ereigniß sich abspiegelt und gleichsam als noch einmal geschehend vorüber rauscht, stimmen die Worte zum Theil genau mit dem geschichtlichen Berichte des ersten Theils überein, es bedurfte also einer formellen Zusammenfassung des Ganzen, wenn dem Gesange der Charakter eines großen einheitlichen Preisliedes gewahrt bleiben sollte.

Solches ist hier geschehen und zwar auf eine Weise, die man wohl anstaunen, aber in ihrer Art mit nichts anderem vergleichen kann. Das ganze Preislied legt sich wunderbar reich und mannigfaltig aus einander, doch alles überstrahlt der goldne Ring des denkbar größten Chores, der es umschließt. Händel hat demselben einen aufrufenden Eingang gegeben, den er auch »Introitus« benennt, in langgehaltenen, himmelanstrebenden Tönen verkündend »Moses und die Kinder von Israel sangen also zu dem Herrn, ihn laut preisend«: und nun beginnt der Anfang des eigentlichen Liedes »Ich will singen zu dem Herrn«. Der Introitus enthält also nur die erzählende Hinweisung[73] auf den folgenden Siegsgesang, und man wird diese köstliche Einleitung auch den Worten nach durchaus natürlich finden und um keinen Preis missen wollen. Man sei aber erinnert, daß das, was hier preiswürdig und dem Ganzen unzertrennlich eingefügt erscheint, in einem andern Zusammenhange wohl belacht und verworfen ist, denn z.B. der oft bespöttelte Anfang der alten Passionen »Das Leiden unsers Herrn Jesu Christi wie es uns beschreibet der heilige Evangelist.....« ist dem Wortsinne nach ganz dasselbe. Und dennoch besteht ein Wesensunterschied, aber lediglich ein musikalischer: so sehr ist die Musik Herrin jeder Sprachfügung, und so wenig ist ihr an sich etwas zu gestalten unbedingt versagt.

Der große Doppelchor ruht, wie der Anfangschor des ersten Theiles, auf drei Grundgedanken: auf dem feierlich einfachen »Ich will singen zu dem Herrn«, dem jubelnd belebten »denn er hat herrlich triumphirt« (oder »geholfen wunderbar«, wie wir der Sangbarkeit zu lieb übersetzen mußten), und dem stürmischen »das Roß und den Reiter hat er in's Meer gestürzt«. Der Anfang ist höchst simpel aber herzerhebend, der zweite Gedanke quillt aus dem ersten hervor und setzt sich ungehindert, frei in die Stimmen sich ausbreitend, eine Weile allein fort wie ungebundener Jubel, bis das heftige dritte Motiv dagegen auftritt. Letzteres bildet hierauf den Contrapunkt des sich wiederholenden Hauptgedanken, das Jubelmotiv schallt dazwischen auf, mit ihm wechselt das dritte, schmiegt sich aber dem Hauptmotiv, wo es nur hervor tritt, so fort wieder an: man sieht gleichsam die geheimen Gedanken unter den fromm aufsteigenden Tönen sich bewegen, man empfindet in welchem Sinne der andächtige Hymnus zum Himmel emporklimmt – es ist, weil der gefürchtete Feind so herrlich und für immer überwunden worden. Diese Vorstellung wird steigend lebendiger, mächtiger, so sehr, daß das sie vertretende dritte Motiv bald in allen Stimmen des Chores zur alleinigen Herrschaft durchdringt: und nun auf einen Augenblick, den stärksten Moment des ganzen Chores, schwelgt Alles in der Erinnerung an den schmählichen Untergang des für unbezwinglich gehaltenen Feindes. Nach diesem Sturm aber richtet sich der Blick nur um so einziger, nur um so glühender nach Oben, die weihevollen Töne »Ich will singen zu dem Herrn« erschallen allein, und zwar durch[74] Engführung der Stimmen in sich selber auf's kunstvollste verschlungen; gleich dicht und in ebenso wenige Takte drängt sich das Jubelmotiv daran; und an dieses als starker Schluß das, was den ganzen Freudensturm erregte, das »Roß und Reiter hat er in's Meer gestürzt«. Indem alle drei Gedanken sich hier so eng an einander legen, wird der große, breit und reich entfaltete Chor schließlich noch einmal wie in seinem Kerne sichtbar. Diese höchste Klarheit des Ausgangs, im Einklange mit dem ganzen Vorlaufe, krönt den Hymnus. Das einfache Hauptmotiv, welches bei seiner alterprobten Klangmacht (man vergleiche die im ersten Bande S. 393–97 beigebrachten Beispiele) hier erst strahlenden Glanzes in seiner wahren Heimath erscheint, bringt das Grundgefühl als solches in dem ganzen Satze zur Geltung und zügelt durch seinen Charakter wie durch seine symphonische Macht die stürmische Bewegung. Leben und Leidenschaft waltet überall: die in verschiedene Empfindungen auseinander strebende, aber durch ein gemeinsames Grundgefühl harmonisch fortschreitende Bewegung des Gemüths schreibt den Tönen Form und Gang vor, bewegt auch die größten und in sich kunstvollst geschlossenen Tonmassen, ja, beherrscht sie wie ein unumschränkter Gebieter und spricht aus ihnen wie ein lebendiger Geist. Alles steht herrlich da in voller Blüthe des Klanges.

Nach dieser erhabenen Kundgebung religiöser Begeisterung als Ausdruck der Stimmung des ganzen Volkes werden auch einzelne Stimmen laut. Zwei der Töchter Israel's, zwei Soprane, treten zuerst hervor und führen vor dem »Herrn ihrem Erlöser« einen heiligen Tonreigen auf, ein schönes Duett im Steffani'schen Styl, welches allerdings auch schön und mit Verständniß gesungen werden muß, in denselben großen Zügen und Formen in denen es aufgezeichnet ist, mit liebevoller Beachtung der kleinen Zwischengänge; begeistert und innig, mit nachdrücklicher Betonung, nicht tändelnd, spielerisch und in accentlosem Ableiern der Töne. Dann ist es eines großen Eindruckes sicher, während es bei der allgemein in unserm Deutschland üblichen Vortragsart gleich so vielen andern Oratoriengesängen nur erkältend wirkt.

Der Chor fährt in zwei Absätzen fort: »Er ist mein Gott, ich will ihm bereiten eine Wohnung, meines Vaters Gott – ich will[75] ihn preisen«, und wie in dem Gelübde nichts liegt als Verehrung und frommer Dienst, ist auch die Musik ganz in dem strengen Ernst des Kirchenstyls gehalten, der erste Absatz achtstimmig in erhebenden Accorden, der letzte »ich will ihn preisen« in einer vierstimmigen Doppelfuge. Dergleichen ist nun wohl bei Händel klarer, tonreicher, eindringlicher, auch in der Form zusammenhängender, aber nicht eigentlich gestaltenheller als in den alten Kirchenstücken dieser Art. Man muß indeß nicht meinen, durch solche Sätze sei das Oratorium selber Kirchenmusik geworden, denn Händel verfuhr hier nicht anders wie sonst überall: er hatte einen Text vorliegen, der in jenes kirchliche Gebiet einschlug, wollte und mußte ihn daher in der ihm zukommenden Stimmung gestalten, und gedachte nebenbei auch noch einen musikalischen Contrast zu erzielen. Es fragt sich nur, ob die Absicht des Künstlers hier mit Leichtigkeit erfaßt werden kann, und solches dürfte nicht der Fall sein, da der Text in einer Verbindung auftritt, welche ihn nicht als nothwendig gefordert erscheinen läßt. Deßhalb liegt es nahe, ihn mißverständlich als gegenstandlose Kundgebung einer kirchlich-erbaulichen Stimmung zu betrachten. Sollte daher bei der Aufführung etwas weggelassen werden, so würde dieser Chor vielleicht am ehesten zu entbehren sein.

Der folgende Satz (»Der Herr ist der starke Held«) ist nämlich ein. Duett für zwei Bässe, welches sich an das vorige Duett der Soprane recht gut unmittelbar anschließen würde; es ist ein berühmter, in seiner Art der größte Zwiegesang für zwei kriegerische Stimmen, denen hier nach allen Seiten hin – in der Länge des Satzes, der Breite der Formen, dem Umfange der Melodien, in der Gelegenheit zur Entfaltung der Künste des Gesanges sowie der vollen Kraft des Ausdruckes – der weiteste Spielraum eröffnet ist. Kühnheit und lebensfreudige Fülle bewegen das Bild; der zweite Theil scheint sich in dem »All' seine Helden, alle versanken« an einschneidender und gewichtvoller Betonung garnicht genug thun zu können, wie ihm denn auch namentlich in dem wiederholten und durch die Wiederholung gesteigerten erschütternden. Schlusse das Außerordentlichste gelingt. Was die Stimme nicht völlig auszujubeln vermag, übernimmt die Begleitung als. Freudentanz des Herzens und der Füße; hier springt die siegestrunkne Lust, und wo[76] der Gesang mit erhebendem Ernst das Schicksal der pharaonischen Krieger verkündet, zeigt uns die Begleitung, wie ob dieses Schauspiels das Herz der ehernen Männer in Jubel aufhüpft. So ist das herrliche Tonbild in das helle Licht der Freude gestellt, Ernst und Entzücken auf's glücklichste vermählend. War der Grundstamm Israel's von diesem Schlage, so hatte sich der gewaltige kriegerische Unsichtbare allerdings das rechte Volk erkoren.

Der Chor, hierdurch angeregt, lenkt seinen Blick auf denselben Gegenstand, aber er stimmt nicht ein in den Ton der Lust, sondern, in stille Betrachtung versunken, läßt er am Bilde derer, die in den Abgrund sanken wie ein Stein und nun in grausiger Tiefe ruhen, Menschenlauf und -Schicksal an sich vorüber ziehen. Die Betrachtung, in den vollendetsten Ausdruck gekleidet, scheint ziellos auf dem Tonmeere zu schaukeln, denn der kurze Satz von 17 langsamen Vierviertel-Takten beginnt in F- und endet in Edur; doch auch dieses Hinabgehen der Tonart um einen halben Ton wirkt mit dazu, das Gefühl des Versinkens lebendig zu erhalten. Aber am Schlusse überkommt die Mengen plötzlich wieder die Erinnerung an das unaussprechliche Glück, welches das ernst erwogene Verhängniß für Israel brachte: und sofort springt es auf, belebter und lauter »O Herr, deine Hand thut Wunder, große Wunder!« was die Chöre wechselseitig oder vereint in aufthürmenden Harmoniemassen zum Himmel rufen, mit dem heftigeren Nachsatze »Dein Arm, o Herr, hat die Feindesmacht in Stücke zerschlagen«. So steigert sich das Volk unversehens zu großer Leidenschaftlichkeit, sammelt sich aber schnell wieder durch einen feierlichen Aufblick, in directer Anrede und in Harmonien von riesiger Kraft ertönend »Und in der Größe deiner Herrlichkeit hast du sie gestürzt die gegen dich stritten«. Welch eine Reihe von psychologischen Meisterzügen!

Bei dem an die letzten Accorde eng anschließenden, durch sie gleichsam eröffneten fugirten Satze »Du sandtest deinen Grimm, der verzehrte sie wie Stoppeln« geht Händel in noch ernstere, einem Kirchenstücke entlehnte Formen über, da nur diese einen natürlichen Fortgang boten und die feierliche Würde bewahrten, wenn die Vorstellung vom verzehrenden Grimme Gottes musikalisch überhaupt zur Verwendung kommen sollte. Denn zu der dem Bilde ursprünglich[77] zu Grunde liegenden lebendigeren Vorstellung zurück zu greifen, auf die Schilderung eines Spreu und Stoppeln verzehrenden Feuers oder Wüstenbrandes sich einzulassen, kam ihm nicht in den Sinn, weil er wohl wußte wie wenig damit für die Sache erreicht wäre, ja wie gänzlich ihrer unwürdig es sein würde. So zog er sich in das tiefsinnige Dämmerlicht des Kirchensatzes zurück, wo ein feststehender Ausdruck einen feststehenden geweihten Sinn umschließt, wo der »Grimm« Gottes seinen heiligen Ernst und das »Vergehen wie Stoppeln« die Wirkung seiner läuternden Strafgewalt bedeutet; und eine höhere Belebtheit erzielte er im Bereiche dieser Formen dadurch, daß er aus den Tönen »der verzehrte sie wie Stoppeln« gesonderte Figuren bildete, die zumeist gegensätzlich in den unteren Chor verlegt sind, zuletzt aber in beiden Chören mit ganzer Macht allein zur Geltung kommen, wodurch der Chor in seinem Schlußgange den Ausdruck wegstoßender, niederschmetternder Härte annimmt. Diese Durchbildung zu einer lebensvolleren Gestalt, als auf altkirchlichem Grunde natürlich war, ist nur mit Bewunderung und mit großer Belehrung zu betrachten: aber trotzdem muß der Chor es sich gefallen lassen, zu den am wenigsten beliebten des Oratoriums gezählt zu werden, und mit Recht, denn hier ist nicht eine Vorstellung in ursprünglicher Lebendigkeit und in einem ihr gemäßen künstlerischen Ausdrucke gegeben, sondern es liegt nur eine abgeleitete Vorstellung und in musikalischer Hinsicht ein Compromiß vor; abgeleitete Vorstellungen bedeuten aber für die Kunst immer abgeschwächte und gemischte Anschauungen, Sonnenlicht durch Vermittlung des Mondes. Solche musikalische Compromisse kommen bei Händel mehrfach vor, namentlich in den Sätzen wo kirchliche Ausdrucksweisen angewandt sind. Er schließt sie nicht in Gedankenunklarheit oder Mangel an ursprünglichem Gefühl, wie Andere wohl, sondern absichtlich, – um da, wo die Verfolgung des natürlichen Weges in Sumpf und Niederung leiten würde, eine übertragende Brücke zu bauen und damit dem Gegenstande die Würde und der Kunst die Idealität zu retten.

Mit dem letzten Absatze dieser Reihe von Chören »Und vor dem Hauch deines Mundes (blast of thy nostrils in der englischen Bibel) zertheilten sich die Wasser« betritt er, wie nicht anders zu erwarten,[78] wieder den lebendigen Naturgrund, doch in einem sanften und sehr edlen, obwohl höchst belebten Ausdrucke, wogegen sich die langgehaltenen »Die Fluth stand aufrecht wie ein Wall« und »Die Tiefe erstarrte im Herzen der See« nur um so nachdrücklicher hervor heben. Hier ebenfalls, wenn auch in anderer Weise als vorhin, sehen wir das Einzelne nach den Maaßen und Forderungen des Ganzen gestaltet d.h. den Tonausdruck ideal gehalten.

Nun, nach jener Kette von Chorgebirgen, gelangen wir wieder in ein kleines grünes Thal des Sologesanges und hören zwei Gesänge nach einander, Tenor und Sopran, die auch dem Sinne nach nur zwei Seiten eines Ganzen bilden, Nachhall und Variation der schon mehrfach, aber immer in neuer Weise ausgedrückten Vorstellungen. Der kriegerische Tenor lenkt seinen schadenfrohen Blick auf den übermüthig-siegsgewissen Feind, dem Nachsetzen, Gefangennehmen, Raub austheilen und die Rachelust stillen Eins schien, der meinte, nur sein Schwert erheben zu dürfen, um sicheres Verderben zu bereiten. »Aber«, fügt der sanfte und doch so starker Hebungen und Accente fähige Soprangesang daran, »Du ließest weh'n deinen Hauch, da sanken sie wie Blei, das Meer deckte sie«. Ein malerischer Grundbaß, sechsmal wiederkehrend, hält die geschwungenen Linien zusammen und verleiht dem Satze auch formell die schönste Abrundung. Beide Arien sind gleich herrlich und bei einem der Musik nur einigermaaßen genugthuenden Vortrage großer Wirkung fähig. Man hört sie leider fast überall leb- und farblos ableiern auf eine Weise, bei welcher der Dünkel der Sänger und der ihnen gemeinhin beifallenden Kritiker fast noch peinlicher ist, als die zu Tage tretende Unfähigkeit, Compositionen dieses Styls bewältigen und würdigen zu können.

Der Chor (»Wer vergleichet sich Dir, o Herr, unter den Göttern?«) nimmt es steigernd auf in jenen erhabenen Harmonien, die in ihrem wunderbar reichen Tongange Mark und Bein durchdringen. Die letzten Accorde »Du strecktest aus die Rechte« leiten über zu einem kurzen contrapunktischen, in lebhafter Steigerung seinem Ende zueilenden Satze »Da verschlang sie das Grab«. Die Form ist also auch bei diesem Doppelsatze die schon mehrfach und aus dem angegebenen Grunde angewandte kirchliche. Diesmal[79] er scheint sie als besonders glücklich, denn die energischen hebräischen Anschauungen konnten hier fast ungedämpft zum Ausdruck kommen, selbst die Vergleichung Gottes mit den Göttern der andern Völker, da ihr Grundsinn doch nur war, daß Gott alle, auch die höchsten Geisteswesen überrage: und ganz in diesem allgemein gültigen Sinne wird es hier von Händel verkündet.

Aber Israel – so preisen Alt und Tenor in einem sanft lieblichen Zwiegesange – ist gnädig behütet und mit Macht zur Wohnstätte Gottes geführt. Das Duett hat aber bei seinem geringen Volumen einen schweren Stand zwischen den himmelan strebenden Chören, die es einschließen; es kann auch ohne irgend eine Lücke zu verursachen wegfallen, ja der nun folgende gewaltige Chor »Das hören die Völker und sind erstaunt« fügt sich dem Tone wie dem Sinne nach am besten an den vorigen in der äolischen Tonart an. Er malt die Schreckgestalt des Gerüchtes, welche, riesig anwachsend, durch die Länder eilt und die Völker in Furcht erstarren macht bis das Gottesvolk vorüber gezogen ist. Dieser Chor, der längste des ganzen Oratoriums, zerfällt in zwei fast gleiche Hälften: in der ersten waltet aufregender Schrecken, in der zweiten erstarrende Furcht. Die erste ist durchhin tief erregt (was schon die Begleitung


1. Neue Oratorien

andeutet) und hat ihre Schlagmomente auf der Vorstellung, daß namentlich Kanaan's Bewohner vor Angst vergehen müßten, an welcher Vorstellung sich das Herz so sehr weidet, daß es garnicht davon scheint abkommen zu können und immer auf's neue dahin zurück kehrt; bei den Worten »all die Eingebornen Kanaan's« sammeln sich immer alle Stimmen, und mit den wahrhaft zerschmetternden Accorden »durch die Stärke deines Arms« scheint sich ein Weg zu öffnen, auf welchem Israel ungefährdet dahin ziehen kann. Diese gewaltigen Worte herrschen gleichsam Alles zur Ruhe: hier beginnt die zweite Hälfte des Chores, Volk Israel wandert unangefochten durch die weiten Länder, durch Völkerschaften deren Herz in bittrer Feindschaft glüht, denen aber der Zaum der Furcht angelegt ist. So treten selbst die Gestalten der Ahnung unter der Hand des wunderwirkenden Tonmeisters in lebendige Gegenwart heraus; was von dem beglückten Volke, indem es Preislieder zu Gott aufjauchzt, im Geiste vorahnend erblickt wird, überschauen wir im Kunstbilde wie[80] einen belebten Vorgang. »Bringe sie hinein und pflanze sie auf den Bergen in deinem Erbtheil« fährt der Alt fort in einem köstlichen Gesange, der fromme Freudigkeit athmet, aber in jenen abdämpfenden Tönen, die er der starken und aufregenden Haltung der Chöre als Sologesang entgegen zu stellen liebt.

Nun neigt's zum Schlusse. Von den Mittelstimmen beider Chöre in Choraltönen unisono aufgerufen »Der Herr regiert auf immer und ewig,« antwortet Alles was Odem hat zweimal in denselben Worten, in demselben Tone und Geiste. »Denn die Reiter Pharao's« setzt der Tenor im einfachen Recitativ hinzu, und berichtet nun noch einmal mit flüchtigen Worten, was im rothen Meere ewig denkwürdig geschah. Hierdurch gesteigert, erschallen zum zweiten Male die eben gehörten Chorrufe. Der Tenor fährt im Recitativ fort zu erzählen, wie Mirjam, Mose's und Aaron's Schwester, mit Gesang, Pauken und Reigen die Schaar der Weiber führte: und nun hören wir sie selber ihre Stimme erheben, in Chortönen, unter dem Schweigen jeder Begleitung, den Worten nach das immer Eine »Singet dem Herrn, denn er hat gesieget wunderbar – das Roß und den Reiter hat er in's Meer gestürzt,« dem Tone nach auch nur eine geringe Erweiterung der soeben schon zweimal vernommenen Chorzeilen, und doch so neu, so feurig, so individuell belebt und groß, wie es nur aus einer heldenhaften Seele, nur von der wahren Schwester des großen Brüderpaares gehört werden konnte, die in der Bibel auch »Prophetin« genannt wird.44 An den Effect eines Frauenchores mit entsprechender Begleitung denkt Händel hier natürlich nicht weiter. Wie man ländliches mädchenhaftes Pauken und[81] Reigen vorzustellen habe, wenn die Sache seine naturtreue Abbildung erforderte, hat er uns in Saul gezeigt; aber hier war nicht der Ort dazu, hier nahm der Frauenreigen einen höhern Schwung und wurde sofort von der flammenden Begeisterung der Gesammtheit umschlungen. Es ist denn auch derselbe, schon zweimal gehörte volle Chor, welcher in Mirjam's Töne unmittelbar einfällt und sodann, durch sie begeistert und ihre Worte aufgreifend, den Schlußgesang anstimmt. Von diesem sagten wir schon vorhin (S. 73), daß er, wenige Anfangstakte abgerechnet, nichts ist als eine genaue Wiederholung des den zweiten Theil eröffnenden Hymnus. Hierdurch erhält die zweite und größere Hälfte des Oratoriums eine Uebersichtlichkeit und Abrundung, die bei dem Charakter derselben als Preislied und bei ihren durch die breiten Tonbilder weit auseinander tretenden Formen höchst erwünscht, ja im höheren künstlerischen Sinne durchaus nothwendig war. Händel scheint auch in diesem Betracht für Tongestaltung jede Form und Wendung in seiner Gewalt zu haben. Den deutschen Kirchenkantaten um 1700, an denen er seiner Zeit selber eifrig mit gezimmert hatte, war es allerdings nicht anzusehen, daß sie sich noch einmal zu einem solchen Wunderwerke ausbauen würden. Und noch viel weniger konnte man ahnen, daß der simple Lobgesang der Kinder Israel, wie ihn die Kirche, auch noch die evangelische, als eins der heiligen Vermächtnisse der »lieben Patriarchen und Propheten« so unschuldig absang, in einem Oratorium von dieser Größe seinen Abschluß finden sollte.

Viel bewundert ist die musikalische Sprachgewalt der Chöre, die Kraft mit welcher die denkbar größten Tonmassen sich heben und senken, ausdehnen und zusammen drängen und jedem Winke gehorsam sind. Die musikalischen Formen an sich thun hierzu nichts oder wenig, da sie nach Erfordern überall frei durchbrochen werden: um so mehr aber ist das Gewordene ein Abbild der Macht des Händel'schen Geistes. Was er giebt, strömt aus der ersten Quelle. So ist sein Ausdruck nicht zunächst verständnißvolle. Beobachtung des Wortsinnes, seine Betonung nicht eine Befolgung des Sprachtones, sondern rein auf schöpferischem Wege entstanden, durch Hervorhebung des innersten Wesens der Dinge. Insofern ist es schon' oberflächlich, hier überhaupt von Betonung und Ausdruck zu reden. Diese Tonkunst[82] erweist sich als schöpferisch in demselben Sinne, in welchem es von Gott heißt, was er aussprach das stand da: durch den Ton tritt der Gegenstand aus dem Gedanken in ideale Leibhaftigkeit über.

Den Arien hätte durch eine andere Fassung in diesem Oratorium anscheinend eine noch größere Wirkung verschafft werden können. Vergleicht man nämlich mit ihrer durchweg ruhigen, in sich abgeschlossenen, mit den Chören nicht weiter verknüpften Form und Haltung die so durchschlagende Wirkung der mit den Chören eng verbundenen, sie einleitenden und weiterführenden Gesänge in Judas Makkabäus und andern seiner Oratorien: so möchte man wünschen, daß auch in Israel eine derartige Verbindung hergestellt sei, und dem gegenwärtigen Geschmacke würde ohne Zweifel damit gedient sein. Aber man sieht bald, daß Händel zu der hier gebotenen Fassung seiner Arien die triftigsten Gründe hatte, ja garnicht anders verfahren konnte. Eine treue und ungesuchte Darstellung mußte den Text, wenn ihm sein Recht werden sollte, so lassen wie er ursprünglich stand, um so mehr da die großen Dimensionen des Werkes breite Tonbilder erheischten, deren ruhige Aufeinanderfolge hier einen weit großartigeren, die Phantasie beflügelnden und dem vielumfassenden Gegenstande angemesseneren Fortgang gewährt, als bei einer häufig wiederholten Ineinsbildung und Mischung von Solo- und Chorstimmen würde zu erreichen gewesen sein. Im Uebrigen ist von selber einleuchtend, daß hier den Chören das Beste und Wirksamste zufallen mußte und die Arien sich vorwiegend nur in den milderen Anschauungen geltend machen konnten. Dies führt uns auf die Gesammtform und Art des Werkes. Israel in Aegypten ist ein Oratorium, in dessen erstem Theile der Text die Begebenheit erzählend darstellt, in dessen zweitem ein Siegesgesang dieselbe Begebenheit in lyrisch-epischer Fassung d.h. im hohen Styl ebenfalls erzählend feiert: in dem ganzen Werke ist der Text also wesentlich beschreibend und berichtend. Man muß aber nicht meinen, deßhalb sei nun das Oratorium Israel ein Epos; es ist so wenig ein Epos, wie das Oratorium Saul ein Drama ist. Das Epos ruht auf der Sage, das Drama auf Action, das Oratorium auf keins von beiden. Letzteres ist eine Grundform der Musik, die beiden ersten sind Grundformen der Dichtung: sie können einander abreichen, aber ein genetischer[83] Zusammenhang fehlt gänzlich, als Kunstorganismen sind sie auf völlig verschiedenem Grunde gewachsen. Aus der Sage sproßt die Blüte des Epos, sie selber ist Anfang der epischen Dichtung; aber mit der Tonkunst steht die Sage direct in gar keiner Beziehung, sie bildet Gestalten für die Phantasie, nicht Stimmen für den Gesang; der gesangliche oder musikalische Theil des Epos ist niemals der Rede werth gewesen noch hat er je zu einer wirklichen Tonkunst geführt. Beide, Musik und Dichtung wenn sie rechter Art sind, gehen immer direct an das bedeutsame Ereigniß, nur von verschiedenen Seiten. Bei dem Epos wird ein Ereigniß durch Erzählung verkörpert, bei dem Drama durch Handlung: geschieht es aber durch die vereinten Kräfte der Musik, so heißt es Oratorium. Die Tonkunst hat gleich der Dichtung einen unmittelbaren Zugang zu der Geschichte, nicht einen durch Poesie erst vermittelten: bedient sie sich dennoch stets epischer oder lyrischer oder dramatischer Formen, so geschieht dies nicht, weil sie deren zur Einführung in einen Gegenstand bedürfte, sondern weil keine andere Arten von Wortgestaltung vorhanden sind. Die Musik faßt alle Dichtung, sobald sie sie benutzt, nicht als Dichtung auf sondern als Sprache, nicht als Kunst sondern als Stoff, alle künstlerische Gestaltung in diesem Gebiete ausschließlich sich selber vorbehaltend. Allein auf diesem Wege ist es der Kunst, auch der musikalischen, möglich zur Natur zu gelangen, und wiederum, ohne den einfließenden Quell der Natur ist jegliche Kunstgestaltung vergeblich und nichtig. Nicht durch ein Aeußerliches und Fremdes, einer andern Kunst Entlehntes, sondern nur durch den behandelten Gegenstand selber gewinnt das wahre Kunstwerk zugleich Gehalt und Form. So ist es bei allen Künsten: das vorliegende Ereigniß einer religiös-nationalen Befreiung anlangend, war es aber allein der Tonkunst gegeben, dasselbige als ein Lebendiges hinzustellen und dadurch allen Zeiten gegenwärtig zu halten. Denn für epische Dichtung war der Gegenstand längst verklungen, sie hatte es nie über den Siegsgesang und einige Wundersagen hinaus zu bringen vermocht; für das Drama war er nie zu verwerthen gewesen, auch kaum für die bildenden Künste: die Tonkunst allein hing noch mit tausend Fäden innig an ihm als an einem Lebendigen, vermittelt, nicht durch Dichtung oder Sage oder Bild, sondern allein durch das[84] religiöse Gemüth der christlichen Völker, in welchem diese unendlich große Wunderthat, das heilige Urbild aller wahren nationalen Befreiung, Jahrtausende lang und bis auf unsere Zeiten in voller Stärke wiederhallte. Deßhalb konnte auch noch in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein derartiges Kunstwerk, am Born der Natur geschöpft, zu Stande kommen. Durch die Anknüpfung an religiös-musikalische Weisen ist das Oratorium Israel freilich noch keine Kirchen- oder geistliche Musik geworden, wie man mißverständlich meint, ebenso wenig als es sich durch die Benutzung erzählender Texte in ein Epos verwandelt hat.45

Dem großen Werke Fluß und einheitliches Gepräge zu verleihen, ist auch der Wechsel der Tonarten und die dadurch bewirkte Modulation und Verknüpfung der Sätze wesentlich behülflich. Die großartige überraschende Verwendung der recitativischen Form, ebenfalls[85] auf Anregung und nach Vorlagen von Kirchensätzen ausgebildet, gewann ihm selbst für die vollstimmigsten Chöre den reichen Tonwechsel, der sonst nur im Solorecitativ erlangbar schien. Der eigenthümlichste Satz in dieser Hinsicht bleibt »Er sandte dicke Finsterniß« (S. 68), der in Cdur mit einer Neigung nach Fmoll einsetzt und in Edur schließt; aber auch alle übrigen Chorrecitative sind ebenso machtvoll als merkwürdig. Sämmtlich längere Chöre einleitend, entfernen sie sich meistens sehr weit von der anfänglichen Tonart. Auch bei den in eigentlichen Chorformen angelegten malerischen, große Vorgänge umfassenden Sätzen wird die Einheit der Tonart dann preis gegeben, wenn das darauf Folgende keinen rechten Abschluß und Ruhepunkt zuläßt. Der Chor im ersten Theil »Doch mit dem Volk Israel« (S. 69) beginnt in Ddur, senkt sich mit dem pastoralen Motiv sofort nach G- und Cdur, und knüpft einen freien Anhang daran der in Gdur schließt. Ein trefflicheres Beispiel noch ist der bald folgende »Er führte durch die Tiefe trocken sie hindurch« (S. 71), der in Esdur mit einem so langgestreckten vollkommnen Fugenthema beginnt, daß jeder, der hier nur sein Absehen auf die Form richtet und eine sogenannte Meisterfuge erwartet, sich getäuscht finden muß, denn obwohl alles höchst meisterlich gestaltet ist, hat der Satz doch nicht völlig die nach dem Eingange erwartete Ausdehnung, sondern wendet sich zuletzt durch Cmoll nach Gmoll, hier wie mit einem Halbschlusse unmittelbar einleitend, ja gleichsam hervorrufend den in aller Hinsicht gegensätzlich gehaltenen Chor »Doch die Feinde überströmte die Wasserfluth.« Wir bei unserer Gewöhnung an deutsche sogen. Meisterfugen würden kein Arg darin finden, wenn sich die beiden Themen zu doppelter und dreifacher Länge ausspönnen und in der anfänglichen Tonart mit einem Nachspiel schlössen, denn unser Gefühl ist durch diejenigen, welche wir im heimathlichen Sinne die deutschen Meister zu nennen pflegen, für große, wesentlich auf Chorwirkung beruhende Werke nicht richtig geleitet: aber der natürlich, wie durch Rede und Gegenrede, gesteigerte Fortgang wäre dann verloren gegangen, das also, was die Ausgestaltung des Einzelnen von dem Schwunge und der Haltung des Ganzen abhängig macht, über allen musikalischen Formen steht und mit ihnen nach höheren Zwecken schaltet. Ohne die klar bewußte Einhaltung eines solchen[86] Verfahrens wäre das Unternehmen, wesentlich, ja fast allein durch Chorwirkung ein einheitliches Oratorium zu schaffen, ein verfehltes oder unmögliches gewesen; nur eine mehr oder minder verbundene Lagerung von Chören, wie sie sich in Messen und andern Kirchenwerken vorfindet, hätte entstehen können, also nur was vor und neben Händel längst und überreichlich vorhanden war, nicht aber das völlig Neue und überragend Großartige was er durch geistvolle Benutzung kirchenmusikalischer Bildungen hier erst gestaltete. Auch im zweiten Theile finden sich Sätze dieser Art, aber das angeführte Beispiel ist vor allen andern lehrreich, weil es uns ein Verfahren zeigt, welches allein bei Händel möglich war. Man denke den Eingang einer solchen Doppelfuge mit einem so vollendet contrastirenden Thema und allen sonstigen Erfordernissen zu einer Meisterfuge in den Händen irgend eines andern der großen Tonkünstler, so würde man bald wahrnehmen, daß bei keinem derselben die geistige Freiheit hinreiche, hier die Herrschaft der Form abzuschütteln, und zwar deßhalb nicht, weil keiner von ihnen den Gedanken eines einheitlichen oratorischen Kunstwerkes erfaßt hatte, den Gedanken also, der als höheres Gestaltungsgesetz hier allein den Geist des Künstlers von den Fesseln musikalischer Formen zu befreien vermochte ohne ihn über die Bahnen der Kunst hinaus zu treiben. Man kann diesen Sachverhalt, so einleuchtend er scheint, doch nicht stark genug betonen, nachdem eben jene Freiheit, mit welcher Händel über die Fugenform schaltet, von beschränkten Tonlehrern als ein contrapunktischer Mangel hingestellt und für ein Ergebniß arbeitsscheuer Hast erklärt worden ist! – Wo im Verlaufe des Werkes irgend ein Einschnitt oder Abschluß sich findet, hält Händel strenge an der Einheit der Tonart fest. Dies gilt namentlich auch von allen Chören, auf welche Einzelgesänge folgen; niemals wird dann die Tonart zum Schlusse aufgegeben, selbst nicht bei einem so frei und weit sich ergehenden Chore wie »Das hören die Völker.« So sehr war es ihm Ernst, Chor und Arie in diesem Oratorium auseinander zu halten.

Schon im ersten Bande S. 168 ff. ist eingehend die Rede gewesen von der Benutzung fremder Compositionen für Israel, namentlich eines Magnificat von Erba. Da sich inzwischen noch manches andere gefunden hat, so wäre zu einem sehr ausführlichen[87] Berichte hinreichender Stoff vorhanden. Eine genügende sachliche Besprechung – und mit einer ungenügenden könnte niemand gedient sein – würde aber, vereint mit dem was die übrigen Werke betrifft, ein Buch füllen, möge denn auch lieber für ein solches zurück gestellt bleiben. Neue Thatsachen für Dionigi Erba als Autor des Magnificat waren noch nicht aufzufinden, aber eine seither vorgenommene genauere Untersuchung der Händel'schen sowie der im Besitz der Sacred Harmonic Society befindlichen Handschrift ergab als unumstößlich, daß beide nach Stimmbüchern angefertigt sind, die Händel'sche zeigt sogar deutliche Spuren, welche auf damals in Italien üblichen Stimmendruck hinweisen. Es ist also Hoffnung vorhanden, das Werk in der Gestalt gedruckter Stimmbücher noch einmal zum Vorschein kommen zu sehen. Inzwischen, am 3. Juni '63, ist es schon als ein Werk von Händel in London zur Aufführung gelangt,46 hat aber den Erwartungen nicht entsprochen, also den dortigen musikalischen Knownothings auf andere Art den nicht-Händel'schen Ursprung bezeugt. Das alte schöne Werk wird an sich bei verständigem Vortrage immer eines guten Eindruckes sicher sein, aber als ein vorgeblich Händel'sches muß es stets Fiasco machen und höchst befremdlich erscheinen. Es giebt hier also auch für die Menge eine kurze und überzeugende Beweisführung, die man denn getrost überall da anwenden möge, wo das Werk seinem Ursprunge nach zweifelhaft ist, oder als Composition eines Andern auf Kosten Händel's erhoben wird. Die alten Werke, welche er benutzte, sind überaus tüchtig, durch und durch gedankenreich, echt musikalisch, auch nicht ohne Erhabenheit und Lieblichkeit, aber im Ganzen eng und beschränkt, so daß ein Geist wie der seine auch nicht einen Augenblick, nicht einmal in den Jahren jugendlicher Unreife, darin seine Heimath finden konnte.[88]

Die erste Aufführung von Israel in Aegypten fand Mittwoch am 4. April 1739 statt »mit verschiedenen Orgelconcerten, und besonders einem neuen.«47 Die Zeitungen des folgenden Tages schweigen darüber, aber eine derselben, die Londoner Abendpost, hat eine Notiz von älterm Datum, welche uns jetzt höchst seltsam erscheinen muß. Sie schreibt: »Da die Theatercensur den Autoren fast so fürchterlich geworden ist, wie das Inquisitionsgericht den Juden und Ketzern, so waren die Patrone und Liebhaber der Musik in großer Angst für das Schicksal des neuen Oratoriums in Haymarket; Einige fürchteten nicht ohne Grund, daß der Titel ›Israel in Aegypten‹ völlig so anstößig sein würde, als der eines Befreiers seines Landes: aber da zur Aufführung desselben die Erlaubniß gewährt ist, müssen wir schließen, daß Hr. Händel ein größeres Wunder vollbracht hat, als Orpheus jemals, obwohl uns die Dichter von letzterem versichern, wilde Barbaren, ja Stock und Stein hätten die Macht seiner Harmonie empfunden.«48 Ein laut redender Beweis, daß das Oratorium damals, wie seinem Wesen und seiner Bildung nach, so auch dem Gefühl der Zeitgenossen ein wahrhaft Lebendiges war. Hierin ist zugleich für sein Schicksal der Schlüssel gegeben. Mit dem Leben der Gegenwart war es auf's tiefste verwachsen; aber in die Aufregung des Tages hinein gezogen, verrückte sich der Standpunkt für seine Beurtheilung, das Werk war zu schwer, zu feierlich ernst, zu gehaltvoll, um leichten vorübergehenden Stimmungen als erwünschter Ausdruck entgegen kommen und als solcher populär werden zu können. Daß man dergleichen überhaupt erwartete, mußte schon Andere fern halten, die sonst nicht fort geblieben wären; Vielen hatte die unruhige Zeit ohnehin alles Interesse an der Kunst verleidet. Nun kam ein Werk, in welchem eigentlich Niemand fand was er erwartet hatte; etwas Neues freilich war es, aber etwas wozu keiner[89] der Hörer den richtigen Maaßstab mitbrachte. Auch wer mehr gesucht und erwartet hatte, als eben in die herrschende Stimmung paßte, war durch die Menge unübersehbar großer Chöre fremdartig berührt und bald ermüdet. Händel hatte sein Oratorium geraden Schrittes von der Kirchenmusik aus gestaltet, ja sogar ein Stück derselben, das Begräbniß-Anthem, unverändert eingeflochten: bevor also das Werk in seinem wahren Charakter begriffen war, mußte sich nothwendiger weise die Ansicht dahin vereinigen, daß es zu ernst sei, zu sehr im Kirchenstyl gehalten. Auch noch manchen nicht unwichtigen Nebenzwecken und -Wünschen trat es damit hindernd in den Weg. Was sollte der praktische Walsh sagen, dem hier unter beinahe dreißig Chorabsätzen für seine »Sammlung beliebter Gesänge in dem neuesten Oratorium genannt....« die höchst dürftige Lese von fünf Arien und drei Duetten blieb? was seine Käufer, die treuesten Concertbesucher, die von den Tonmassen in Israel nichts nachsingen und -spielen konnten? Wollte das Oratorium nunmehr einen solchen Weg einschlagen, was konnten die Musikdrucker ferner noch verhandeln, was die Zuhörer aus den Aufführungen mit nach Hause nehmen? Händel, nach zwei Tagen peinlicher Unentschiedenheit, suchte zunächst den Wünschen für größere Mannigfaltigkeit durch Tilgung einiger Chöre und Einfügung von Sologesängen zu willfahren. Am 7. April zeigte er die zweite Aufführung zum 11ten an vorläufig »mit Aenderungen und Zusätzen« außer den beiden Orgelconcerten, und fügt hinzu, dies sei »die letzte Aufführung davon.« In einer Anzeige vom 10ten heißt es, den Wünschen der Freunde noch mehr entgegen kommend, das Werk werde »gekürzt und mit Gesängen vermischt.«49 Weder die Kürzungen noch die Einschaltungen waren erheblich, das Werk war auf seinen Säulen zu fest gegründet, in[90] allen Theilen zu stark verbunden. Händel hat in seinem Original vier Einlagen bemerkt als: No. 1, trough [Through] the Land, statt des gestrichenen Chores Egypt was glad when they departed; No. 2. Angelico splendor, nach dem Chore But the waters overwhelmed the enemies; No. 3. Cor fedele ex G, statt des Chores And in the greatness of thine excellency.... Thou sentest forth thy wrath; No. 4, La speranza la costanza, nach dem Duett Thou in thy mercy – sämmtlich aus andern Stücken entlehnt und von der beliebten Signora Francesina vorgetragen. Mit diesen und einigen andern Aenderungen ging die zweite Aufführung vor sich, ohne wesentlich größern Erfolg. Das Schicksal der Debora vor sieben Jahren (vgl. II, 284 ff.) schien sich wiederholen zu wollen.

Zwei Tage nach dieser Aufführung brachte die Zeitung nachstehenden Brief: »An den Herausgeber der Londoner Tagespost. Geehrter Herr! Bei meiner Ankunft in der Stadt vor drei Tagen war ich nicht wenig überrascht zu sehen, daß Hrn. Händel's jüngstes Oratorium, Israel in Aegypten, welches nur erst einmal gegeben war, zum Mittwoch als für das letzte Mal angezeigt stand. Ich meinte schon, sein Genius möchte ihn diesmal verlassen haben, wurde aber angenehm enttäuscht. Das Werk hat mich nicht nur vergnügt, sondern auch bewegt, denn niemals begegnete mir noch eine Musik, in welcher Wort und Sinn so gründlich studirt und so klar verstanden waren, und als der Bibel entnommen sind die Worte sehr erhabner Art. Es erweckt in der That meine Theilnahme, daß ein so ausgezeichnetes Werk eines so großen Genius verlassen dastand, denn obwohl eine gebildete und aufmerksame Versammlung gegenwärtig war, zweifle ich doch, daß sie genügt ihn zu weiteren Unternehmungen zu ermuthigen. Da ich es außerordentlich bedauern würde, der Gelegenheit beraubt zu sein das Werk noch einmal zu hören, und manche andere Zuhörer derselben Meinung waren, zugleich aber fürchte, Hr. Händel werde es ohne eine öffentliche Ermunterung nicht wieder vorbringen, da er sich durch seine Anzeige nämlich daß es das letzte Mal sein solle, gebunden erachten dürfte: so bitte ich um die Erlaubniß, durch Hülfe Ihres Blattes nicht nur meine Wünsche, sondern auch die verschiedener Andern dahin kundzugeben,[91] daß er das Werk zu beliebiger Zeit in der nächsten Woche wieder aufführen wolle. Ich bin etc. A.Z.«50

Aehnliche Wünsche, wie die unsers gutherzigen Musikfreundes vom Lande, dessen unbeholfener Ausdruck nur um so stärker für seine persönliche Meinung zeugt, müssen Händel von mehreren Seiten ausgesprochen sein, denn schon am nächsten Tage bringt die Zeitung die vorläufige Mittheilung von einer am 17. April stattfindenden Wiederholung,51 und dann am Tage der Aufführung noch die weitere Notiz, daß auch der Prinz und die Prinzessin von Wales zugegen sein würden.52 Beides bestätigte sich; der Prinz, damals zum Beschützer der Künste sich aufwerfend und namentlich alles fördernd[92] was in die oppositionelle Richtung einschlug, war nebst seiner liebenswürdigen Gemahlin gegenwärtig und zog eine glänzende Versammlung nach sich. Ein durchschlagender Erfolg, der dem Werke die Pforten einer größeren Oeffentlichkeit aufgethan hätte, war aber auch diesmal nicht zu erreichen; die am folgenden Tage zum 19ten angesetzte Wiederholung wurde als irrthümlich widerrufen,53 und so hatte es bei drei Aufführungen vorläufig sein Bewenden.

Dennoch sollte diese letzte, auf Wunsch der Freunde des Werkes veranstaltete und nur in Folge ihres eifrigen Bemühens so verhältnißmäßig zahlreich besuchte Vorstellung nicht vorüber gehen ohne Kundgebungen veranlaßt zu haben, die wenigstens sein tief erregtes Künstlergemüth einigermaaßen beruhigten. Er hatte seit der ersten Aufführung des Israel Tage der tiefsten Einkehr, der Besorgnisse und Zweifel verlebt, wie nie zuvor. Was er in freudiger Kühnheit aufgebaut hatte – war es nur ein Irrthum gewesen? War die Musik der Vorzeit, auf der er fußte, namentlich die kirchliche, wirklich keiner höheren Ausbildung fähig oder bedürftig? Mußte es bei den bisherigen Formen und Gegensätzen verbleiben, ließen sie sich durch nichts Höheres vereinen und krönen? Wenn sich dies heraus stellte, dann lag nicht nur hier ein einzelnes verfehltes Werk vor, sondern sein ganzes Leben war verfehlt, war seinem Kerne nach nur ein großer Irrthum, an welchem er nun, wo er die Höhe meinte erklommen zu haben oder ihr doch nahe gekommen zu sein, gräßlich scheitern sollte. Was derartige Gedanken noch beängstigender machte, war ein Blick auf die schwindenden musikalischen Kräfte. Vor wenigen Jahren noch hatte London alles in der Fülle, ja im Ueberfluß geboten, jetzt war ein auf Sologesang basirtes Werk in englischer Sprache kaum noch zu besetzen, die Chormassen behielten die nationale Beschränktheit und Steifheit trotz aller Händel'schen Zucht, und[93] der frühere musikalische Heißhunger des Publikums war einer trägen Uebersättigung gewichen. Waren dies nicht Zeichen absinkender Kräfte, also auch einer absinkenden Kunst? Glänzende musikalische Institute in Italien und Deutschland, üppig an Wuchs in Blüten und Düften prangend so lange ihnen der Tag hold war, verfielen ohne eine bleibende Frucht gereist zu haben – wie sollte es hier denn anders kommen? Doch dagegen bäumte sich wieder sein innerstes Bewußtsein, welches sich so sicher fühlte wenn nur von allem Uebrigen, von der Stellung der Menschen zu seiner Kunst, abgesehen werden konnte. Aber hiervon konnte er wieder nicht absehen, nicht nur weil seine Existenz von der Theilnahme der Oeffentlichkeit abhing, sondern namentlich, weil nach seiner großartig freien Anschauung nur diejenige Kunst wahre Kunst war, welche vor der Gegenwart die Feuerprobe bestanden hatte. Dann wieder wußte er sich so rein von Nebenzwecken, ausschließlich nur den Winken der Kunst gehorsam, eben bei seinen besten Unternehmungen. Und so schwankte er rathlos hin und her. Man hat nun – im gegenwärtigen scheinheiligen England ist dies Mode geworden – seine Zeitgenossen hart angeklagt, daß sie sich des Künstlers und seines Werkes nicht öffentlich angenommen. Möge also denen, die es heute so glücklich weit gebracht zu haben meinen, zur Beschämung dienen, wenn nun der Beweis vorgelegt wird, daß begeisterte Parteinahme sich bei diesem Werke entschiedener und lauter ausgesprochen hat, als bei einem andern Händel'schen, ja überhaupt bei irgend einem Kunstwerke aus damaliger Zeit. Am Tage nach der dritten Aufführung verfaßte ein Hr. »R.W.« (vermuthlich derselbe welcher als »Richard Wesley Esq.« unter den Subscribenten des Alexanderfestes erscheint) einen Aufsatz für die Londoner Tagespost, der Aufsehen erregte und viel gelesen wurde; die Nummer in der er erschien ist verloren gegangen. Als Händel im nächsten Jahre das Werk auf Wunsch der Freunde wiederholte, jedoch »nur das eine Mal in dieser Saison,«54 erinnerte sich der patriotische Herausgeber der Tagespost[94] auch des Aufsatzes vom vorigen Jahre und ließ ihn, mit einer wackeren Vorbemerkung versehen, wieder abdrucken. Hier folgt das Ganze.


»Weil nach der Nummer, in welcher der folgende Brief im vorigen Jahre gedruckt wurde, eine so große Nachfrage gewesen ist, daß die Wünsche durch die vorhandenen Exemplare nicht alle befriedigt werden konnten, so hat der Verfasser desselben zugelassen, daß wir ihn bei dieser Gelegenheit wieder abdrucken. Das Werk, von welchem hier die Rede ist, wird heute Abend aufgeführt; wir hoffen, der Brief werde eine nicht unpassende Einleitung dazu sein, indem er darauf gerichtet ist, jene feierliche Stimmung des Geistes zu erzeugen, mit welcher solche Werke heiliger Tonkunst angehört werden sollten. Und wenn die Eindrücke von unsern früheren Demüthigungen nicht mit dem kalten Winter wieder verschwunden sind, so darf man hoffen, daß das, was in dem Briefe über eine gegen uns gerichtete allgemeine papistische Verbündung geäußert ist, uns dazu helfen kann, in rechter Weise gegen alle unsere Feinde aufzustehen.


Mittwoch Morgen, April 18. 1739.


Geehrter Herr,


ich erlaube mir, mit Hülfe Ihrer Zeitung, nicht Herrn Händel sondern vielmehr der Stadt zu gratuliren zu der Versammlung, welche gestern Abend bei Israel in Aegypten gegenwärtig war. Die Herrlichkeit des einen Mannes tritt zurück verglichen mit der einer so zahlreichen Versammlung. Daß man die Neigung hat ein solches Werk zu ermuntern, und die Fähigkeit besitzt von einer so wahrhaft geistgeweihten Composition entzückt zu werden, ist nicht viel geringer als jene unvergleichliche Uebermacht selbst, welche zuerst die in diesem Drama enthaltenen edlen Gedanken aus der heil. Schrift auswählte und jedem derselben sodann durch die erhabene Tonkunst seinen wahren Ausdruck verlieh. Dieses hat der unnachahmliche Autor in einer Weise gethan, wodurch er weit sich selbst überragt, wenn man irgend eine andere seiner meisterhaften Compositionen damit vergleicht. – Aber welch ein herrliches Schauspiel! eine gedrängte Versammlung der ersten Häupter der Nation zu sehen, an ihrer Spitze den Thronerben und seine geliebte Gemahlin, alle wie bezaubert von[95] diesen Klängen, und so nicht nur in die Preise der Gottheit mit einstimmend, sondern auch zugleich den Fähigkeiten derjenigen menschlichen Natur, welche diese Klänge so zu sagen zuerst schuf, ihre Huldigung darbringend! Nichts zeigt den Werth eines Volkes mehr, als sein Geschmack für öffentliche Unterhaltungen: und sollte man annehmen dürfen, was ich zu unserm Besten hoffe man darf es annehmen, daß Werke dieser Art oft wiederholt werden könnten, so würden große und glänzende Versammlungen in den wahren Geist einer solchen Unterhaltung eingeführt werden, in den Preis Gottes für die Sorgfalt so er seinen Gerechten zuwendet (s. Textbuch S. 6), und für all das Gute was er ihnen gewährt. Wenn ein solcher Geschmack sich allgemein in einem Volke verbreitete, dieses Volk dürfte bei einer gleichen Gelegenheit, sofern eine solche ihm zustoßen sollte, dieselbe Befreiung erwarten, welche diese Preislieder feiern; und das protestantische, freie, tugendhafte, vereinigte, christliche England hätte wenig zu fürchten zu irgend einer folgenden Zeit von der ganzen Gewalt eines sich gegen uns erhebenden knechtischen, frömmelnden, unchristlichen Papismus, sollte sich je einmal so etwas ereignen.

Wenn die Stadt noch wieder mit einer Aufführung dieses Werkes gesegnet wird, so möchte ich jedem empfehlen, das Textbuch des Drama mitzunehmen: denn obwohl schon die Harmonie in sich selbst so unaussprechlich groß ist, ist sie es doch noch in einem unendlichen Maaße mehr, wenn die unterliegenden Worte dabei beachtet werden, besonders wenn jeder, der das Buch bei sich führt, zugleich ein Herz für den Sinn wie ein Ohr für den Klang mitbringen würde.

Der beschränkte Raum Ihres Blattes verstattet nicht auf Einzelheiten einzugehen: doch jene, welche die Musik hören ohne die Worte zu kennen, oder denen beim Besitz des Buches doch der rechte Sinn fehlt, wissen nicht wie viel ihnen von einem so vollkommnen Genusse verloren geht. Der ganze erste Theil [das Anthem] ist ausschließlich einer frommen Andacht gewidmet; und obwohl der zweite [der jetzige erste] Theil wesentlich historisch ist, so berichtet er doch die großen Thaten der göttlichen Macht, und Sinn und Ton haben[96] daher einen wechselbezüglichen Einfluß auf einander. ›Er sandte Hagel herab‹, und vor allen ›Aber die Feinde überströmte die Wasserfluth.‹ Die Erhabenheit der Einbildungskraft des großen Tondichters wird hier jedem, der Sinn und Ton erwägt, als unaussprechlich erscheinen. Dasselbe gilt von dem ›Er ist mein Gott, ich will bereiten ihm eine Wohnung‹ im dritten [zweiten] Theil. Desgleichen [die Arie] ›Du ließest weh'n deinen Hauch‹ und, um nichts weiter zu nennen, ›Der Herr regiert auf immer und ewig‹, und Mirjam's Gesang am Schlusse.

Es ist eine Art von gesondertem Dasein, was die Musik hier getrennt von den Worten für sich in Anspruch nehmen darf; es ist Seel' und Leib vereinigt, wenn gleichzeitig gehört und gelesen. Nähme man sich also vor Beginn der Aufführung nur einen Augenblick Zeit, die Worte dieses heiligen Drama zu lesen, so würde das Entzücken dadurch außerordentlich erhöht werden. Das Theater sollte man bei dieser Gelegenheit mit einer größeren Feierlichkeit betreten, als eine Kirche; und zwar deßhalb, weil die Vorstellung, zu welcher man geht, wahrlich in sich selbst die edelste Verehrung, der feierlichste Dienst der Gottheit ist, welcher nur jemals in einer Kirche statt fand. Eine so verklärt erhabene Bethätigung der Frömmigkeit, wie sie dieses Oratorium durchdringt, müßte für den, dessen Herz und Ohr würdig dafür gestimmt ist, selbst die Hölle weihen.

Denn die Art der Thätigkeit heiligt den Ort, und nicht der Ort die Thätigkeit. Und wenn äußerliche Dinge und Begebnisse meine guten Werke beeinträchtigen können, so sehe ich nicht, wo ich denn jemals ein gutes Werk vollbringen könnte als nur in der größten Einsamkeit. Wer dieses eine Abschweifung von dem erhebenden Gegenstande nennt, der wird mich entschuldigen, wenn er sich der beschränkten, sinnlosen Einwürfe erinnert, welche gegen eine so wahrhaft religiöse Vorstellung wie die gegenwärtige, und gegen die übrigen Oratorien, erhoben worden sind, sowohl gegen den Besuch derselben wie gegen die Mitwirkung bei ihrer Aufführung, lediglich auf Anlaß des Ortes an welchem sie statt finden, und zwar erhoben worden von Personen die Frömmigkeit und wahre Tugend besitzen.

Man hat mir erzählt, daß der große Tonsetzer selber die Worte[97] aus der heil. Schrift ausgewählt hat. Wenn dies der Fall ist, so zeigt seine vortreffliche Wahl wie auch seine herrliche Vereinigung der Pracht des Klanges mit der Größe des Gegenstandes, auf welchen Weg sein angeborner Genius ihn leiten möchte, wenn er nur Ermuthigung fände; und spricht es zugleich lebhaft aus, daß die Harmonie seines Herzens ebenso überragend und außerordentlich ist, wie die Schönheit und Gewalt seiner Einbildungskraft und seine Gewandtheit in der Tonkunst.

Ich kann nicht schließen, ohne mein Bedauern auszudrücken über den Nachtheil, welcher einem so großen Meister aus dem Zustande mehrerer seiner Sänger erwächst, welche so äußerst unzulänglich sind einem Gegenstande Genüge zu thun, der durch eine würdigere Aufführung doch nur in einem um so viel vortheilhafteren Lichte erscheinen würde. Diese Erwägung muß jeden human Gesinnten ernst stimmen, wo ein leichtsinniger Zuhörer ganz anders berührt werden würde. Ich schließe mit dieser Maxime: daß bei öffentlichen Vorstellungen ein jeder erscheinen sollte mit dem vernünftigen Wunsche unterhalten zu werden, oder mit dem höflichen Vorsatze, in keiner Weise das Vergnügen Anderer zu stören. Und daß man Zerstreuung und lärmende Gespräche einstelle, und sich der einfältigen Ziererei enthalte bei solchen Gelegenheiten laut den Takt zu schlagen, ist ein großes Kompliment welches man dem göttlichen Autor eines so geweihten Gegenstandes und auch der Versammlung erzeigt, in Wahrheit aber ein noch größeres in Bezug auf sich selbst. Ich kann nicht umhin, da ich einmal diesen Gegenstand berühre, noch hinzu zu fügen, daß ich bei der Musik und bei tiefem Schmerz in der Tragödie eine gänzliche Stille für einen weit angemesseneren Ausdruck von Beifall halte, als all den so sehr beliebten lärmenden Applaus, wie groß auch immer das Recht der Gewohnheit dafür sein mag. Ich bin etc. R.W.«55

Der Brief ist ein unschätzbares Denkmal aus jener Zeit. Er ist dem Verfasser aber nicht so leicht aus der Feder geflossen; man sieht an dem schweren ringenden Ausdrucke, wie viel Anstrengung[98] es ihn gekostet sich zu der Erhabenheit seines Gegenstandes aufzuschwingen. Aber solches ist ihm auch vollständig gelungen, er spricht die höchsten Wahrheiten aus, und es wird uns hier erst recht anschaulich welche Hemmnisse das Oratorium nieder zu halten suchten. Die heillose Ansicht der »Kirchlichen«, daß das Oratorium, weil heilige Dinge im Theater aufführend, eine Entweihung, eine Blasphemie sei, deren zugleich jeder sich schuldig mache der daran Theil nehme, war, wenn auch in etwas gelinderer Fassung, öffentliche Meinung geworden und als solche selbst in die träge Masse der Gleichgültigen gedrungen; und wer recht unbefangen, billig denkend und musikkundig zu sein meinte, moderirte das allgemeine Vorurtheil wohl dahin, daß Oratorien im Theater doch immer etwas verlören, eine so wundervolle Erhabenheit auch Händel's derartige Compositionen durchdringe.56 Dieser auf Gewohnheit und Geistesträgheit beruhenden Einbildung setzt nun unser Verfasser mit Händel'scher Kühnheit und ganz in seinem Sinne den Ausspruch entgegen, solche Werke müßten selbst die Hölle weihen. Händel hat aber auch, soviel man weiß, nie, nicht einmal vorübergehend in der Noth, dem Vorurtheile soweit nachgegeben, daß er für sein Oratorium ein Unterkommen in der Kirche gesucht hätte – wo man ihm doch Raum geschafft haben würde, wenn nicht bei den Hochkirchlichen, dann mit offnen Armen bei den Dissenters, von denen sich in den Methodisten in eben jenen Tagen noch ein neuer Zweig erhob. Aber seine Musik war keine Kirchenmusik, und fest hielt er am Theater, weil es als die allgemeine freie Concertstätte den einzig passenden Raum für seine Tonkunst darbot. Frei war er und kein Parteimann, und in Leben und Kunst blieb er dem Grundwesen seiner Natur getreu. So allein konnte entstehen was durch ihn entstand, konnte auch aus dem Gegenstande, der bisher nichts geboten hatte als Stoff zur Erbauung für Gläubige, ein Weihegesang der Freiheit werden, für alle Menschen, für alle Zeiten. Es bedarf keiner Worte über die wirklich wunderbare Stelle, wo der Verfasser des obigen Briefes sein Volk hinweist auf die Quelle der edelsten Kraft der Freiheit, welche hier[99] ströme für alle die nur Muth und Ernst besitzen um in vollen Zügen aus ihr zu schöpfen: man möge sie tief beherzigen, denn sie deutet geradeswegs auf den Kern der Wirkung, die von Händel's Kunst immer ausgehen muß wo sie in ihrer Eigenartigkeit und Reinheit aufgenommen wird. Auch schon damals im Laufe weniger Jahre hat sich sein Werk im Großen und Ganzen herrlich bewährt, ja selbst das von der Oeffentlichkeit preis gegebene Oratorium Israel übte durch die nie erkaltende Begeisterung der Eingeweihten auf diese selbst, und durch deren niemals verhehlte Ansicht, daß es zu tief, zu groß sei um von der flachen Menge verstanden zu werden, auch indirect auf die Gesammtheit eine nachhaltige Wirkung aus. Alles war heilbringend, was der Menge ihre geistlose Verflachung half zum Bewußtsein führen, an der man sonst zu Grunde gegangen wäre; die Zeit lag so im Argen, daß der Verfasser des Briefes die Zuhörer bei Israel ganz ernstlich für ihr Kommen und Zuhören preisen durfte, denn ihm und allen, welche die Gegenwart kannten, wollte es fast ein Wunder scheinen, daß solch ein Werk überhaupt noch angehört wurde. Und als nun durch das leichtsinnige und selbstsüchtige Treiben der Partei-Freiheitler die Nation nur zu bald in die Enge gerieth, waren es allein Männer von einer Höhe und Kühnheit des Geistes, wie sie sich in dieser Musik kund giebt, welche Rettung brachten und auf's neue für eine nun schon hundertjährige Dauer die britische Größe, das eigentliche moderne England begründeten. Nicht als ob diese Männer direct aus Händel's Werkstatt gekommen wären (obwohl von manchen unter ihnen bezeugt ist, daß sie ihm nahe standen), sondern frei von allen Seiten strebten die besseren Kräfte zum Lichte, zur Herrschaft empor: aber seine Musik bewirkte allgemeinhin die so nothwendige Läuterung und Vertiefung des inneren Sinnes und gewährte dem Gemüthe nach langem Schwanken gleichsam eine neue Verfassung, einen bleibenden Halt. Und schnell reiste die so gefestigte Gesammtheit zu entsprechenden sittlichen und politischen Thaten heran. Nicht erzeugen kann der Künstler die Kräfte der Zeit, wohl aber der edelsten Triebe derselben sich bemeistern, sie läutern, durch Läuterung unendlich steigern und so nach allen Seiten hin segensreiche Befruchtung ausstreuen. Ich schreibe kein Programm für die Gegenwart, sondern ein geschichtliches[100] Werk in welchem vorspringende Schritte untersagt sind, kann hier aber den Wunsch nicht zurück halten, daß unsere wahren Patrioten auf das Verhältniß der Werke dieses Künstlers zum Leben einmal ihr ganzes Nachdenken richten möchten.

Nach der Wiederholung am 1. April '40 ruhte Israel sechzehn Jahre lang, erschien dann am 17. und 24. März '56 in einem etwas neuen Gewande, indem statt des Begräbniß-Anthem fast der ganze erste Akt aus Salomon und einiges Andere nunmehr den ersten Theil bildete; am 4. März '57 wurde er wiederholt und am 24. Februar '58 zum letzten mal unter Händel's Direction gegeben: von ihm selber in allem also nur acht mal.57 Auch erschien nichts davon[101] gedruckt, die Partitur (des zweiten und dritten Theils, also des ganzen jetzigen Oratoriums) kam bei Randall erst nach Händel's Tode heraus. Der Erfolg blieb auch bei den letzten Aufführungen wesentlich der alte: die Menge hielt sich scheu zurück. »Israel zog nicht«, schreibt Frau Delany am 27. März 1756, »es ist zu feierlich für gewöhnliche Ohren,« auch die Ohren dieser hochgebildeten Dame waren diesmal »gewöhnliche«, denn eine Kaffeegesellschaft war verlockender für sie als das Oratorium.58 Das »Feierliche« darin – womit die in kirchlichen Formen gehaltenen Sätze gemeint sind, also dasjenige was wir oben als Compromiß, als geschickte musikalische Verdeckung eines weder zu umgehenden noch in ursprünglicher Lebendigkeit zu gestaltenden Textes, oder mit andern Worten als die schwachen Punkte des Oratoriums bezeichneten – hat von Anfang an nicht anziehend gewirkt. Völlig im Gegensatze zu den jetzt in England üblichen Declamationen über das »unbegreifliche« Schicksal Israel's und über Händel's stumpfsinnige Zeitgenossen, sind wir letzteren die Gerechtigkeit schuldig hervor zu heben, daß, wenn sie sich auch leider durch Trägheit und Vorurtheil abhalten ließen in das wundervolle Werk einzugehen, sie dabei wenigstens keinen verschrobenen Kunstsinn an den Tag legten, wenn sie auch eine freilich viel zu ferne, so doch eigentlich keine unrichtige Stellung zu demselben einnahmen und wenigstens zum Theil nur durch das zurück gehalten wurden, was auch die Kritik als die schwache Seite bezeichnen mußte. Hierauf kommt mehr an als man meinen sollte: der Trägheit, dem Vorurtheil ist abzuhelfen, der Verschrobenheit niemals. Denn so war immer noch freie Bahn gelassen, das Publikum auf einem andern Wege vielleicht desto sicherer zu gewinnen. Es ist garnicht ausgemacht, daß Händel, wenn er mit Israel in Aegypten, welches man viel zu voreilig das größte seiner Werke genannt hat, alsobald durchgedrungen wäre, auch so schnell wie jetzt den letzten Schritt gethan[102] und das Gebiet des vollendeten Oratoriums nach allen seinen Hauptrichtungen durchmessen hätte. Er würde in den erhabenen Gefilden der Psalmen, an denen seine. Seele hing, dann vielleicht länger verweilt und ähnliche Werke aus ihnen zusammen gestellt haben, mit denen der Kunst doch nicht weiter gedient sein konnte; er würde dies um so lieber gethan haben, da er hier Herr der Worte und von den Vorlagen kleiner Poeten unabhängig war. Aber ihm sollte noch keine Ruhe gegönnt sein, unaufhaltsam trieb ihn das Schicksal weiter.

So allein erfüllte er seine Mission – was jetzt durch eine unbefangene Ueberschau seines ganzen Lebens allerdings leichter begriffen werden kann, als von Händel selber in seinen derzeitigen Bedrängnissen. Es gab damals Augenblicke wo er sich völlig verirrt fühlte, die Spuren neuer Werke schienen immer wieder wie im Sande zu zerrinnen, nichts wollte haften. Wenn er aber mit diesen neuen und größeren Formen nicht durchdringen sollte, dann mußte er sich Bononcini's und anderer großer Meister erinnern, wie sie in ihren alten Tagen absanken, und ihm vor einem ähnlichen Schicksale bange werden; denn bereits in der Mitte der Funfziger stehend, sprudelte der Quell der Melodien nicht mehr in früherer Fülle, und nur dann fühlte er die ganze Jugend sogar in verstärktem Maaße wiederkehren, wenn er sich neue, größere, ja die höchsten Aufgaben stellte. Nun ging er einher tiefernst und grüblerisch, in Nachdenken versunken, wie man es an ihm in ähnlichem Grade nie zuvor wollte bemerkt haben; bei den bekannten früheren Anlässen war er mehr in hellen Zorn aufgelodert, jetzt aber versank er still in sich, studirte und studirte – vergeblich59, wie sich Viele sagten, denen schon diese größere Stille und Einkehr nicht das Anzeichen einer vor sich gehenden Vertiefung war, sondern der Eintritt der Schwäche und Muthlosigkeit und das Aufgeben seines früheren Charakters. Man betrachtete ihn als unglücklich, als Einen der sich selber so fühle, weil ihm höchst gewagte künstlerische Schritte mißlungen waren, und der Pöbel setzte sich nun zu Gericht, wie er es in solchen Fällen zu thun[103] pflegt. Londoner Geschwätz verbreitete sich weithin, auch nach Hamburg wo es bei Mattheson seinen Widerhall fand. Trotz Händel's Ablehnung machte dieser immer auf's neue Versuche, ihn zur Abfassung seiner Biographie zu bewegen (s. Bd. II, 383), auch jetzt wieder, zu einer Zeit also, wo der ausgesuchteste Hohn ihn wohl durch nichts hätte mehr verwunden können, als durch die Bitte, sein Künstlerleben zu Papier zu bringen. Mattheson konnte freilich nicht wissen, daß seine lästige Briefstellerei diesmal dem Empfänger wie eine bittere Satire vorkommen mußte, aber nichts entschuldigt die Art wie er davon erzählt. Er schreibt: »Seit der Zeit, und zwar den 10. Nov. 1739, da der Hof und der hohe Adel, ja die gantze Nation mehr auf den schädlichen Krieg, als auf Schauspiele und andre Lustbarkeiten bedacht, auch daher kein Vorwand zu nehmen war, geschah eine wiederholte, so höfliche, als vernünftige, und mit vielen Bewegungs-Gründen begleitete Anregung; sie ist aber eben so fruchtloß abgegangen, als die vorigen. Man hat mir im Vertrauen melden wollen, es trachte dieser weltberühmte Mann so fleißig nach der Auflösung eines gewissen Canonis clausi, der sich anfängt: Frangit Deus omne superbum etc. daß er alles andre darüber aus den Augen setzet. Allein ich will für die Wahrheit sothanen Berichts im geringsten nicht Bürge werden.«60 Mattheson's unläugbar großes Geschick, das, was sein Inneres bewegt, in einen behenden Ausdruck zu fassen, giebt sich hier sehr glücklich kund, denn die hündische Vorstellung, nach welcher Händel sich damals in dem Zustande eines gebrochnen Hochmüthigen befunden hätte, ist durch die anscheinend harmlos und vorsichtig mitgetheilte Nachricht, er grübele über einen musikalischen Räthselcanon mit dem Texte »Gott zerbricht alles Uebermüthige« witzig genug ausgesprochen. Die Mißdeutung niedriger Gesinnung stempelte hier zum Verbrechen, was sein eigentliches Verdienst und das Fundament seines Weltruhmes werden sollte! und die böse Nachrede, obwohl einer so schimpflichen Musikantenbeschränktheit entsprungen, ist bis in unsere Zeiten getragen. Freilich grübelte er damals, und zwar über die[104] tiefsten, über die verborgensten Räthsel über die je ein Kunstgeist gegrübelt hat, und er löste sie auch. Die Lösungen dieser Kunsträthsel hießen Saul Israel Allegro Messias Samson und ihre Vor- und Nachfahren.

Auch waren es voll und rein musikalische Aufgaben mit denen er rang, nicht allein betreffend den Aufbau großer Werke in seinem neuen Styl, sondern auch die einzelnen Musikformen, ihre Anlehnung an die Vorzeit, ihr Verhältniß zu derselben. Welche Probleme in dieser Hinsicht vorlagen, kann ein Wort desselben Mattheson uns am besten andeuten. Im Vollkommenen Capellmeister S. 76–78 theilt er den dreistimmigen Motettsatz eines älteren Meisters mit, um zu zeigen »wie schön und harmonisch die alten, lieben Leute zu Werke gegangen sind, auch in so wenig Stimmen; welches eben die grösseste Kunst ist« – und setzt hinzu: »Aber Kunst ist nicht Natur. Wenn dieser Styl dahin gedeien könnte, daß er die Leidenschaften und den wahren Sinn der Worte ausdrückte, so wäre seines gleichen nicht.«61 Nun, der viel wissende und lebendig anschauende, aber bei seiner Engherzigkeit nicht in die wahre Tiefe des künstlerischen Lebens eindringende Mattheson ist hier unfreiwillig zum Propheten geworden, denn dahin eben steuerte Händel, dies war der Inhalt des canonis clausi über welchen er grübelte. Zum Gelingen war auch nichts nöthig, als daß er die Linien voll auszog und zu Gestalten abrundete, in denen seine ganze Kunstthätigkeit von Anfang an einheitlich angelegt war; es handelte sich nur um ein Auswachsen und Reisen in einem wesentlich inneren, lediglich in schöpferischen Thaten sich bekundenden und dadurch dem Künstler selber erst klar werdenden Vorgange, nicht um ein Plänemachen und Reformiren nach einem Programm von Kunstgrundsätzen. Der Gegensatz zu Gluck ist hier sehr belehrend und bedeutsam. Dieser bewirkte seine berühmte Reformation der Oper nicht unwillkürlich und ausschließlich aus künstlerischem Drange, sondern erst nachdem er sich in ästhetischen Reflexionen einen gewissen Rückhalt gesichert hatte. Sein Werk trat nicht hervor nackt und bloß, in göttlicher[105] Unschuld und Hülflosigkeit, sondern gepanzert mit Kunstgrundsätzen, in streitfertiger Gestalt; die dadurch dem Verstande gebotenen Handhaben fachten Streit und Widerstreit an und halfen nun in derselben Weise zum Siege führen, in welcher sie bei der Production betheiligt gewesen waren. Gluck vermochte seine künstlerische That zu jeder Zeit vor dem Forum des Verstandes gewandt und beredt zu vertheidigen, nicht unähnlich den großen französischen Dramatikern, die in völliger Sicherheit mit Aristoteles in der Hand ihre Dramen schrieben und mit dem Schild des Aristoteles gedeckt das ganze folgende Jahrhundert in Bann schlugen – während Shakespeare und Händel bangen Herzens in ringender Geburt nur nackte Kreaturen zur Welt brachten, an denen zwar alles Fleisch und Blut, Leben und Dasein war, deren Lebensfähigkeit aber niemand vorweg zu demonstriren sich getraute, die Urheber am allerwenigsten. Aber gerade dies, daß gar kein Maaßstab für sie vorlag, kündigt die neue Species an, für deren Bestimmung eben diese Werke nunmehr Gesetz werden sollten. Ihren Freibrief erwarben sie sich lediglich durch die in öffentlicher Aufführung bezeugte Anerkennung, der Beifall machte sie erst wahrhaft lebensfähig, auch in den Augen ihrer Urheber: diese tiefere Bedeutung hat es, daß Händel in seinem großen objectiven Sinne stets der Oeffentlichkeit gewähren ließ, keine Beeinflussung sich gestattete noch veranlaßte, und nichts für vollgültig hielt, dem die Bewährung vor jenem Forum fehlte, wie er denn unzweifelhaft schon aus diesem Grunde niemals Israel in Aegypten für sein bestes Werk erklärt haben kann. Solche Künstler, die allergrößten ihres Faches, die auf Schöpferweise der Kunst neue Grundformen gewinnen, verehren in der öffentlichen Stimme nicht nur die Bestätigung der inneren, sondern namentlich noch die Andeutung der Richtung ihrer künstlerischen Thätigkeit, denken deßhalb auch nicht daran sie zu beeinflussen, weil sie ihnen nur dann die reiche Quelle der Belehrung sein kann, wenn sie lauter und ungehindert spricht, – der Belehrung nämlich, ob sie mit ihrer Kunst im Boden der Gegenwart wurzeln und wie sie als Künstler am sichersten das Leben ihrer Zeit leiten können. Ist die Oeffentlichkeit einmal ungerecht, so wird es schweigend geduldet und das Opfer mit einem wehmüthigen Blicke bei Seite geschoben; kein wahrhaft großer Künstler kämpft für seine[106] Werke je anders als mit den Waffen seiner Kunst, ja er versteht es nicht einmal. Ein so völlig reines Verhältniß zu der Oeffentlichkeit als Stimme des Lebens der Gegenwart hat den unberechenbaren Gewinn, daß das Dasein der Werke für alle Zeiten fest gegründet ist, ganz anders als bei den durch Polemik erhobenen, wo über kurz oder lang die alten Streitigkeiten gleich bösen Wunden immer wieder aufbrechen und das Kunstwerk auf's neue in Frage stellen. Was Shakespeare's Freunde 1623 bei der Herausgabe seiner Werke betheuerten »Wisset, über diese Stücke ist schon Gerichtstag gehalten, sie haben sich allen Anklagen gegenüber behauptet und sind mit einem approbirenden Erkenntniß der Richter entlassen« paßt in seiner Einfachheit für das ganz ähnlich entstandene Händel'sche Oratorium so genau, als ob es eigens dafür geschrieben wäre. Wir haben unsere Freude an der Gewandtheit Gluck's in Darlegung musikalisch-dramatischer »Wahrheiten« (wenn auch das Facit nicht ganz richtig sein sollte) schon deßhalb, weil sie auf ein Maaß von allgemeiner Bildung deutet, welches bei einem Musiker in seiner Zeit nirgends sonst anzutreffen war; wir nehmen Goethe's vielseitige Belehrungen dankend auf, freuen uns ihrer wie der feinsinnigen Bemerkungen Schiller's auch da noch, wo wir gewahren, daß ihre ästhetische Leuchte weiter reicht als ihre künstlerische Gestaltungskraft: aber seltsam, höchst seltsam und befremdlich würde es erscheinen, wenn die kunstwissenschaftliche Seite bei Shakespeare und bei Händel in ähnlichem Grade entwickelt wäre. Wirklich waren die beiden Großbrüder Gluck's und Goethe's in all diesem ungleich weniger beschlagen, ihre Einsicht umschloß in zwei oder drei einfachen Grundwahrheiten strengstens nur den Horizont ihres Schaffens, allerdings mit unfehlbarer Sicherheit auf die Kunde aller Zubehör desselben sich erstreckend, und nur mit den Werken und durch dieselben erweiterte sie sich. So folgt es mit Nothwendigkeit aus der Art der Entstehung derselben, so ist es immer gewesen wo große Kunstwerke wie Naturvorgänge, ihrer innern Herrlichkeit und Daseinsfülle noch unbewußt, in die Erscheinung getreten sind. Das nämlich ist der Fall in jeder Kunst so lange sie geraden Laufes in ihren eigensten Grenzen sich ausbildet und sodann, in der Periode des großen Styls, plötzlich zum Höchsten aufsteigt: da erscheint alles Denken und Wissen des Künstlers noch[107] als der Kunst immanent, beschlossen in der Kunstthätigkeit, in der vollendeten Handhabung der künstlerischen Formen, aus denen daher auch an allen Ecken und Enden das volle Leben hervor bricht. So entstand Händel's Werk, ein vollgesättigt musikalisches; als Kunstthat um so originaler und größer, als die Reform Gluck's, je innerlicher, von außen unbemeßbarer sie sich vollzog und je weniger sie daher sofort, in dem ganzen ersten Jahrhundert ihrer Dauer, die musikalische Entwicklung zu beherrschen vermochte. Auch hierin steht Händel's Oratorium zu Gluck's Oper völlig wie Shakespeare zu den von Gluck als Künstler allerdings weit überragten französischen Dramatikern. Sein Sieg ist denn auch von Anfang an rein nur durch die Kunst errungen, und wird niemals durch etwas anderes, durch Irreleitung des Gemüthes oder Bestechung des Verstandes und ähnliche Täuschungen, zu erlangen sein, da sein Werk hierfür gar keine Anknüpfungspunkte bietet. Händel erscheint eben deßhalb in seiner Bedeutung so ganz verschieden je nach der Stellung, von welcher aus er betrachtet wird: er erscheint als der größte der großen Meister so lange man nichts sucht als rein musikalische Idealgestalten, und als der beschränkteste derselben sobald man aus dem Mittelpunkte des musikalischen Kreises irgend wie nach der Peripherie sich hinneigt und durch Seitenvorzüge gefesselt sein will.

In solcher Thätigkeit und Art des Schaffens trieb es ihn bei umfassender Prüfung der musikalischen Mittel in den Jahren seit 1738 mehr als vorhin in die frühere Vergangenheit zurück, namentlich in das siebzehnte Jahrhundert. Vergessene Anfänge und Versuche Anderer sowie Eindrücke seiner eignen frühesten Jugend wurden ihm wieder lebendig. Sein Auge gewahrte gedankenreiche Schätze in soliden Formen, bei aller Umständlichkeit auf musikalischen Grundlagen einfach erbaut, eine reine sichere und individuell belebte Stimmführung, überall richtige und oft treffliche Andeutung des musikalisch Hauptsächlichen, mitunter auch eine vollkommne Wahrheit des Ausdrucks, daneben aber doch die in den dargelegten Gedanken enthaltenen Keime selten völlig und meistens nur höchst dürftig ausgestaltet: so daß, wenn das Absehen auf lebensvolle Tonbilder gerichtet war, diese alten tüchtigen, aber auch vielfach steifen und trocknen Merke sich zunächst wieder in Stoff verwandeln mußten.[108] Bestrebt nun, unter einer neuen Sonne ihre Keime zu neuem Wachsthum zu bringen, behielt er Tongedanken, Stimmführung und jede andere Tugend höchst sorgsam bei, aber gewährte ihnen, statt der früheren Fesseln und engen Grenzen in die sie eingeschlossen waren, völlige Befreiung; mit andern Worten: die Züge der Künstlerhand ließ er stehen, aber den Styl vernichtete er. Das war namentlich nöthig bei den kirchlichen Tonsätzen, da diesen schon von Haus aus ein engerer Spielraum abgesteckt war, als dem Gesellschafts- und Festgesange, obwohl sie, ihrem hochbedeutsamen Inhalte gemäß, sich zu einer weit größeren Tiefe der Gedanken und Fülle der Formen entwickelt hatten. Ja, der kirchliche Tonsatz allein war bis dahin zu voller Reise gediehen, aber nur in der symbolischen Art Palestrina's und der ihm verwandten Kunstgenossen. Wollte man über dieses Helldunkel, in welchem auf dem schönsten und reinsten Grunde die Gestalten doch nur wie Schatten sich bewegen konnten, hinausgehen zu lebendigerer Darstellung (und schon die nächste Zeit nach Palestrina schlug diese Richtung ein), dabei aber doch noch in den kirchlichen Bahnen beharren: so gerieth man unausbleiblich in eine Halbheit die den früheren einheitlichen Styl zu zerstören drohte, in eine Modernität die der Würde des Gegenstandes zu nahe trat, und ließ die Sprache eines Lebens anklingen, welches nicht mehr das in den Kirchenhallen waltende noch im Kultus beschlossene war. In dieser Halbheit stak das ganze, an musikalischer Productionskraft so unendlich reiche 17. Jahrhundert. Es war Händel, der die Periode aus ihrer Zwitterstellung erlöste, indem er das nur schüchtern andeutend Gesagte voll ertönen ließ und die alten Wohnungen aufkündigte, den Bann eines die Entwicklung niederhaltenden Styls aufhob durch breite Entfaltung der bisher nur verkümmert zu Tage getretenen Züge künstlerischer Lebensgestaltung, durch einen Neubau, in welchem alles vorwirkende Alte seine wahre Heimath fand. So rundete er die Periode ab (die Zeit von 1660, oder näher begrenzt von 1640, bis 1750) durch einen großen Gesammtaufriß der Hauptformen der Kunst, durch ein Zusammenleiten der mehr denn ein Jahrhundert lang in verschiedensten Richtungen wirksamen Kräfte zu einem großen Ziele hin, so daß Anfangs- und Endpunkte sich wie Ringe der Kette zusammen schlossen und das Ganze in der Kunstgeschichte[109] nun als seine Periode dasteht. Wenn man recht beachtet, was schon um 1650 durch Carissimi und Andere im Oratorium erstrebt wurde, so gelangt man zu der Ueberzeugung, daß nur das Oratorium in naher oder ferner Zeit einmal jene Styleinheit der ganzen Periode zu verwirklichen vermochte und nur der Meister desselben in der Krone seines Werkes zugleich das ganze vorauf gegangene Jahrhundert mit überdachen konnte. Der größte Oratoriencomponist, dies ist das einfache Ergebniß der Geschichte, war schon als solcher das Haupt und der Vollender der Epoche, und kein Anderer vermochte je diese seine Stellung einzunehmen noch die durch die geschichtliche Entwicklung dargereichten Aufgaben zu lösen. Von der Annahme dieses Satzes wird es abhängen, ob der einzig mögliche. Zugang zu einer wahren Geschichte der Musik betreten werden soll. So bildete Händel (was Mattheson für unmöglich erklärte) Kunst zur Natur durch, gestaltete die Modulation und schöne sangbare Stimmführung der lieben Alten zum unübertrefflichsten Wortausdruck, zur vollendetsten Sprache der Leidenschaft oder des wahren künstlerischen Lebens. Das alles erfüllte jetzt seinen Geist und versenkte ihn in tief einsame Betrachtungen. Eben die Jahre 1738–40 waren die Wendezeit, in der sich alles entschied, auf die wir zum vollen Verständnisse dieses großen Lebens daher so andauernd unsern Blick richten mußten.


Am 22. November begann Händel in dem bescheidenen Lincoln's-Inn-Fields-Theater die Aufführungen des neuen Jahrlaufes 1739–40, dessen Ende und Schicksal unter den damaligen Verhältnissen nicht zu errathen war. Einige Wochen später schreibt Richard West an den in Italien reisenden jungen Horaz Walpole: »Schauspiele hatten wir keine, oder nur verdonnerte. Händel hat ein Concert [d.h. Musikaufführungen in Form von Concerten] gehabt. Keine Oper, kein nichts nicht. Alles für Krieg und den Admiral Haddock.«62 Unter solchen Aussichten gab er zum ersten mal die[110] kleine Cäcilienode, nebst Concerten und Alexandersfest; die Ankündigung ist schon im 2. Bande S. 431 bei Besprechung der Ode mitgetheilt. Das neue Haus gab wohl Ursache zu allerlei Klagen, denn in den Anzeigen wird die Abstellung der Beschwerden verheißen.63 Die vielen Unfälle vermehrte noch der strenge Winter, der als einer der kältesten bekannt ist, die je in England erlebt wurden. Im ganzen Januar ruhten die Aufführungen, und als sie zum 7. Februar wieder angesetzt wurden, fand man doch für nöthig sie »wegen der andauernden Kälte« bis zum 14ten und dann »wegen der Erkrankung zweier Hauptsänger« bis zum 21sten auszusetzen.64 Eine weitere Ursache der im Januar ruhenden Aufführungen war die Composition eines neuen Werkes, welche ihn um diese Zeit beschäftigte.
[111]

L'Allegro, il Pensieroso, ed il Moderato. 1740.

(Frohsinn, Schwermuth und Mäßigung.)


Der Anfang ist im Original bezeichnet als »L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Part. 1. | Jan. 19. 1740. | 1. Neue Oratorien « – Am Ende des ersten Theiles steht »Fine della parte prima | Jan: 25. 1740. | 1. Neue Oratorien ;« – Am Ende des zweiten »Fine della parte 2da| Fevrier 2. 1740« - – Am Ende des dritten »S.D.G. | G.F. Handel Fevrier 4. 1740. h 9 dito« [d.h. am 9. Februar alles ausgefüllt]. Die Composition war also in 22 Tagen vollendet.65

Der Text der beiden ersten Theile ist bekanntlich von Milton, der des letzten aber neu hinzu gefügt von Charles Jennens, dem wir schon vorhin bei der Frage nach dem Verfasser des Saultextes als mit Händel befreundet begegnet sind (s. II, 387; III, 19). Jennens' Antheil ersehen wir lediglich aus einem Briefe Händel's aus Dublin (v. 29. Dec. '41, s. unten im 3. Kap.), worin er ihn versichert, daß dort »die Worte zum ›Moderato‹ sehr bewundert« würden. Es liegt nahe anzunehmen, daß Jennens ihn auf den Gegenstand aufmerksam machte und die musikalische Eintheilung andeutete, wie früher Hamilton beim Alexanderfest; doch kann auch sehr wohl die erste Anregung vom Componisten selber ausgegangen und die Eintheilung ebenfalls von ihm besorgt sein. Auf alle Fälle ist soviel gewiß, daß der sehr reiche und vornehme Jennens zu denjenigen gehörte, welche sich ihm gerade in diesen Tagen innerer und äußerer Noth eng anschlossen, und Händel konnte zur Zeit auf dem ganzen weiten Erdenrund wahrlich keinen besseren Freund und Beirath finden, als den Mann, der jetzt den Allegro und bald darauf den Messias veranlaßte.66[112]

Milton stellt die frohsinnige und die schwermüthige Stimmung als zwei getrennte Gemälde neben einander hin, ohne unter ihnen eine weitere Verbindung anzustreben, als den allgemeinen Gegensatz der darin gelegen ist. Jede Stimmung spricht sich voll und ganz aus bevor die andere zu Worte kommt, es sind also zwei Gedichte, aber übereinstimmend in der Form, in Gliedern und Verhältnissen. Bei Händel dagegen sind sie verbunden und in sechzehn Absätzen, je acht für eine Gemüthsstimmung, aus einander gelegt, die durch Steigerung von einem zum andern fortschreiten. Im dritten Theile hat dann der Moderato allein das Wort und macht den Beschluß. Die Anlage ist also hier eine sehr übersichtlich gerundete, einheitliche und wiederum weit künstlichere, als bei Milton. Es fragt sich nur, ob Geist und Sinn der Dichtung nicht darunter gelitten haben. Hierüber folgendes.

Milton schrieb das Gedicht auf dem Landsitze seines Vaters (um 1633–37) in der Uebergangszeit von der Jugend zum Mannesalter, von Studien zum Leben, als sein Gemüth in Stimmungen, sein Geist in Bestrebungen unentschieden hin und her getrieben nach einem Anker suchte. In seinem Busen drängten sich die Wogen der zwiespältigen gährenden Zeit, das fröhlich-leichtsinnige Altengland und das aufstrebende grimmig-ernste Puritanerthum, Gegensätze, die dadurch in Milton ihren melancholischen Zug erhielten, daß seine mit Gelehrsamkeit geschwängerte Phantasie ihn auf Tritt und Schritt dem Leben der Gegenwart entrückte in mittelalterliche und alterthümliche Gefilde. Er war kein Grieche und kein heimlicher Katholik, aber so gelehrt, daß die Waagschale des Wissens die des Lebens lange in der Schwebe hielt. Aus solchen Stimmungen wurden diese Stimmungsgedichte geboren. Nicht eigentlich zwei Personen zeichnete er, sondern nur zwiespältige Richtungen eines[113] Gemüthes, Rollen die er selber erlebte und in deren Widerstreit er noch befangen war. Puritaner sein oder lustiger Altengländer, war ein klarer Gegensatz, der kein Gemüth bedrücken konnte, weil er als solcher in den Grenzen eines Gemüthes nicht vorhanden war. Aber ernsten Sinnes die Freude als »eitle verführerische Luft«, als »vaterlos ausgeheckte Brut der Narrheit« verschmähen und dabei in geistvoll gelehrter Anschauung die Gestalt derselben doch als Euphrosyne, die jüngste der rosigen Grazien, verehren; andererseits die Schwermuth als »verhaßtes Erzeugniß des Cerberus mit der schwarzen Mitternacht« von sich weisen, und sie dann wieder als »weise göttliche Tochter des Saturn und der Vesta« betrachten müssen, deren »heilig Antlitz« fast zu hell strahle für menschliches Anschauen, der er auch vom hebräischen Himmel aus noch den »Cherub der Betrachtung« verwandt sich zuneigen läßt: dies waren für ein tiefes Gemüth beängstigende Schwankungen, die erst überwunden werden konnten wenn tagesheller Geist mit voller Kraft in die Strömung des thätigen Lebens einleitete.

»Die Bilder sind beide Male so geordnet, daß sie sich vom Landschaftlichen zum Menschlichen erheben. Der heitere Mann tritt hinaus in den lachenden Morgen, er genießt die vielstimmige Frühmusik des Landlebens, die wirbelnde Lerche, den krähenden Hahn, die gluckende Henne, die von Ferne bellende und schmetternde Jagd, den pfeifenden Bauer, das singende Milchmädchen, kurz eine ganze Pastoralsymphonie. Dann entrollen sich vor seinem Auge die mannigfachen, in einander verfließenden Züge der schönen Natur, Berge und Thäler, Nebel und Wolken, Gras und Blumen, Bäche und Ströme, und was sonst noch zu den viel besungenen Gegenständen gehört, welche die Poesie in ihrem kindlichen Frühling wie in ihrem kindischen Winter mit gleicher Wichtigkeit zu behandeln pflegt. Der lebensfrohe Wanderer belauscht Corydon und Thyrsis bei ihrem schmackhaften Mahle, das die reinliche Phillis bereitet hat; am Nachmittag läuft er sich müde, und nachdem er am Abend dem Tanz der jungen Leute zugesehen, den wunderlichen Geschichten der Alten gelauscht, auch wohl von ihrem ›würzigen nußbraunen Ale‹ genossen hat, geht er mit Vergnügen zu Bett, und ›die flüsternden Winde lullen ihn bald in den Schlaf.‹ Am nächsten Morgen geht's nach der Stadt,[114] in das ›geschäftige Summen der Menge‹, zu den glänzenden Festlichkeiten –


Wo die Ritter mit kühnen Sinnen

In Feierkleidern Ruhm gewinnen.


Das Theater darf nicht versäumt werden, wo neben dem ›gelehrten Jonson‹ der ›süßeste Shakespeare‹ herrscht, der ›Sohn der Phantasie‹, der ›des heimischen Waldes freie Töne singt.‹ Ein Lob der Tonkunst beschließt das Gedicht.

Der sinnige Träumer auf der andern Seite genießt im Mondschein die wehmüthige Musik der Nachtigall und der Abendglocke, oder, wenn die Luft es nicht erlaubt, bleibt er im Zimmer des einsamen Hauses, dessen Dunkel nur von glühender Asche halb gebrochen, dessen Stille nur vom Heimchen am Heerde, oder von des Wächters Abendsegen belebt wird. Bei der Lampe sitzt er forschend und denkend um Mitternacht; sein Auge blickt empor zu den leuchtenden Sternen, die sein Geist mit den Gestalten eines höheren Lebens bevölkert. Nachdem er, ähnlich dem Dr. Faust, mit den Naturdämonen Zwiesprache gehalten, kehrt er zu seinen lieben Büchern zurück, aus denen die Poesie in ihrer alten Herrlichkeit neu aufersteht. Die Helden der attischen Tragödie erscheinen vor ihm, – die Sieben vor Theben, das Geschlecht des Pelops, die Kämpfer am Skamander – und, indem er sie bewundert, klagt er, daß die neuere Bühne so wenig Ebenbürtiges aufzuweisen habe. Besser ist er mit der heimischen Liederkunst zufrieden; er stellt Chaucer mit Musäus auf eine Stufe, und die ritterliche Romantik mit ihrer Ehre, Treue und Tugend preist er hoch, denn das nennt er wahre Dichtkunst, ›wo mehr gemeint als gesagt ist.‹ So vergeht die Nacht in der Bewunderung des Hohen und Edlen, ein düsterer Morgen bricht an, die Winde seufzen und stöhnen, und der Regen tröpfelt melancholisch. Die Sonne steigt indeß über die Wolken und der Dichter entflieht vor ihren ›blendenden Strahlen‹ in den ›dämmernden Hain.‹ Dort entschlummert er am Bache, um etwas recht Wunderbares, Geheimnißvolles zu träumen, – wovor ihn freilich eine nüchterne, aber wohlmeinende Kritik warnen sollte: am Morgen hat es geregnet und unter den Bäumen trocknet es nicht so schnell... Als er aufwacht, läßt ihm der Genius des Waldes von unsichtbaren[115] Künstlern eine liebliche Musik aufspielen; unter ihren Klängen wandert er zur alten Klosterkirche: hier gedenkt er nicht nur der fleißigen Mönche mit Hochachtung, sondern der puritanische Jüngling begeistert sich sogar für das ›trübe religiöse Licht‹ der gemalten Fensterscheiben, und geräth überhaupt in einen Kunstenthusiasmus, der fast nach Katholicismus schmeckt. Ja, er geht so weit, daß er sich eine ›moosige Zelle‹ aufsuchen, ein ›härenes Gewand‹ anziehen, kurz ein ›friedlicher Klausner‹ werden will; als solcher nimmt er sich vor (nun bricht wieder die englische Aufklärung durch die fremdartige Schwärmerei) Botanik und Astronomie zu studiren,


›Bis die Erfahrung, reif und alt,

Wächst zu prophetischer Gewalt!‹«67


In den beiden Bildern sind zwei auslaufende Ziele hingestellt, die sich ein tiefsinnender Geist steckte. Hiermit hat auch das Gedicht sein völliges Ende erreicht und ist ihm im Sinne seines Urhebers nichts weiter anzufügen. Der einzig mögliche, der einzig natürliche Ausgang war der in das Thatleben, je nach der Richtung die der Geist nun einschlug; schon der erste Schritt in dieses neue Gebiet hob den Zwiespalt des Gemüths. Die Stimmungen laufen also nicht etwa in eine dritte Stimmung als in ihren Einigungspunkt zusammen, sondern in das thätige wirkliche Leben als verschiedene Charaktere für immer auseinander. Nicht die »Mäßigung« also könnte hier Versöhnung bringen, sondern nur das Leben; nicht die Betrachtung, sondern die That. Frohsinn und Schwermuth sind Anzeichen eines vollkräftigen Gemüthes: Mäßigung wäre Mittelmäßigkeit. Und darin liegt das Unpoetische des Zusatzes von Jennens; nach Milton gelesen, macht die Schlußmoral eines reichen englischen Gutsbesitzers, den die Fülle ererbten Goldes auf nichts anderes als auf eine goldne Mitte weisen konnte und dessen einzige[116] wirkliche Aufgabe im trägen Laufe eines thatlosen Lebens war, Bilanz zu halten, einen niederschlagenden Eindruck.68

Anders stellt sich die Sache freilich als Musiktext. Hören wir also zuerst die Musik. Milton's Gedicht erscheint darin nicht nur in anderer Vertheilung, sondern auch bedeutend verkürzt; von den 152 Versen des Allegro sind 49, von den 176 des Pensieroso 57 gestrichen, also ein Drittel des Ganzen. Einmal sind zwei Zeilen zu vieren erweitert, ein andermal vier zu zweien zusammen gezogen, hin und wieder die Anfangsworte der neuen Abschnitte geändert, der Uebersicht und musikalischen Abrundung zu lieb passende Zeilen rundstrophenartig wiederholt, das übrige ist wörtlich (mit allen gelehrten Anspielungen und allen mythologischen und pastoralen Namen) beibehalten: alles nach tiefen musikalischen Erwägungen und ganz wie bei Israel, in den umgeschriebenen Stellen natürlich mit Beihülfe von Jennens. Für das bloße Lesen, als ein rein poetisches Werk, konnte das Gedicht nicht vollständiger zerstört werden, als durch den Musiktext geschah, aber eben als Musiktext ist es in seiner Art garnicht vollkommner denkbar. Man muß nur alle äußerlichen Ansprüche – zu denen auch der gehört, von dem Lesen eines Musiktextes einen gesättigten poetischen Genuß empfangen zu wollen – aufgeben und unbefangen die Sache nehmen wie sie ist, das andeutungsweise hingezeichnete Wort vorerst durch Musik sich gestalten und in solcher Gestalt auf das empfangende Kunstvermögen wirken lassen: dann wird sich ein wundervoller Phantasiebau erheben, eine kleine Welt für sich, in der alles voll Bedeutung und Zusammenhang ist.

Der Schwermüthige ist durch Sopran und Alt vertreten, der Frohsinnige durch Tenor, Baß und einen Knabensopran; der Mäßige setzt im Baß an und schließt mit einem Duett für Sopran[117] und Tenor. Später machte Händel vielfache Umstellungen, die man aus dem Verzeichniß im Vorworte unserer Ausgabe leicht übersehen kann. Dem weiblichen Geschlechte als solchem den froh- und leichtsinnigen Theil zuzuweisen (was allerdings nach Milton's Geschmack gewesen wäre), fiel ihm nicht ein. Um aber auch zu verhüten, daß ihm andrerseits hier nicht eine Verherrlichung des »ewig Weiblichen« angedichtet werde, ist sein gänzliches Absehen von aller etwaigen Geschlechts-Charakteristik zu betonen. Er wählte die Stimmen rein nach musikalischen Rücksichten; nicht das ewig Weibliche, sondern das ewig Menschliche war das Gestirn, auf welches er lebenslang sein Auge richtete, und nur von hieraus drang er in die Tiefen der Menschenbrust. Diesen Standort festgehalten, ist es allerdings besonders sinnvoll, die Verkündigung schwärmerischer Stimmungen aus einem weiblichen Munde zu vernehmen. Darüber unten mehr. Jeder der drei Personen ist ein Chor beigegeben, der passenden Ortes das Stimmungsbild ausbreitet.

Die zwei Tage, welche in beiden Theilen von Milton's Gedicht als Zeitumlauf nur soeben durchscheinen, von denen der zweite Tag des Penseroso in einem höhern Bogen an den Lebensabend reicht, sind bei Händel klar als zwei Theile geschieden. Der erste Theil beginnt, gleich dem jetzigen Israel, ohne Ouvertüre; aber wir wissen aus den Ankündigungen und aus dem Textbuche, daß ihm ein Orchesterconcert, ein sogen. Concerto grosso(»a new Concerto for several Instruments« nach dem Textbuche) vorauf ging. Ein ähnliches »neues Concert« leitete den zweiten Theil ein, und »a new Concerto on the Organ« den dritten.

Allegro eröffnet die Reihe mit einem sehr merkwürdigen und modulatorisch reichen, begleiteten Recitativ, in welchem er die beängstigend andringenden Bilder der Melancholie von sich scheucht und der Heiterkeit Grund gewinnt.

Ebenso macht es dann Penseroso in Verwünschung der »nichtigen Freuden«, die ihn, wie das leicht und munter hinfließende Vorspiel zeigt, umstricken wollen; sein kleines Recitativ kommt aber dem des Allegro nicht gleich. Hier zu Anfang tritt der Allegro offenbar mächtiger, seiner sich bewußter und daher auch gehaltvoller auf.[118]

Dann kommt dieser mit dem rosigen, herzerschließenden und herzgewinnenden Gesange an Euphrosyne »Komm, o Göttin, hold und schön«, der in seiner unendlich freien und leichten Haltung uns die ganze Macht der Persönlichkeit ahnen läßt, in der solche Stimmungen walten.

Auch Penseroso ruft zu seiner Göttin, der »göttlichen Schwermuth«, in großen geschwungenen Linien der Melodie, in einer Sprache wie sie dem in sich versenkten Gemüthe angemessen war, tiefsinnig und schön.

Aber Allegro behält doch noch die Oberhand, zumal nun er einen Schritt weiter geht und den ganzen Hofstaat der Fröhlichkeit herbei ruft: laute Lust, Witz, Neckerei, heitre Laune, rosige Schelmerei wie sie sich in die Grübchen auf Hebe's Wangen versteckt, Scherz den Sorgenbrecher und wonniges Lachen. Das weite Thor der Freude ist aufgethan, die Menge strömt herein, und unwillkürlich wird die Arie »Eil', o Nymph', und bring' an deiner Seit' Lust und laute Fröhlichkeit« vom Chor aufgenommen, ausgelacht, ausgesungen. Dies ist das erste mal, daß der Chor auftritt: so ungesucht, so lebendig führt er sich ein! als er so köstlich scherzen und lachen hört, muß er mitscherzen und mitlachen. So lachen alle, jeder in seiner Weise, hier mädchenhaft kichernd, dort behaglich aus voller männlicher Brust. Kenner dieses Satzes – den freilich alle Welt kennen und singen sollte – bewundern die seine Stelle »wie sie [die Schelmerei] auf Hebe's Wangen liegt und sich ihr hold in's Grübchen schmiegt«, über alles aber die Kühnheit, im Einzel- wie im Chorgesange das Gelächter so naturtreu wiederzugeben: ein Wagniß, welches nur bei Erfassung der innersten Kräfte der Musik gelingen konnte und nicht mit dem in eine Linie gesetzt werden muß, was sogenannte dramatische Componisten wohl auf der Bühne versucht haben. Hier ist etwas ganz anderes, es ist ein Zug geistreicher Freiheit auf idealem oder rein musikalischem Grunde, den grasgrüne Naturalisten mit ihrer Dramatik nie erreichen können. Weil aber vornämlich durch letztere der Geschmack des heutigen Publikums gebildet und durch ihre Zahmheit und Unkraft philiströs gemacht ist, sieht man selbst die entschiedensten Allegronaturen unter uns bei derartiger Musik seltsam ästhetisch lächeln, und es dünkt ihnen eine anstandswidrige[119] Zumuthung, daß sie die Scherze ihres Lebens hier einmal im Spiegel der reinsten Kunst beschauen sollen. Wie die Lacharie gesungen werden muß um die rechte Wirkung zu machen, und daß man schon früh in England aus unmusikalischer Aengstlichkeit hierin auf Abwege gerathen war, erzählt uns der liebenswürdige Michael Kelly. Dieser wurde i.J. 1789 für das Institut der Ancient Concerts als erster Tenor engagirt und schreibt über sein erstes Auftreten: »Ich war so glücklich, mit dem Recitativ ›Deeper and deeper still‹ [aus Jephtha] den Beifall des Dirigenten Joah Bates zu erhalten; mein nächster Gesang war die Lacharie. Harrison, mein Vorgänger in diesen Concerten, war ein vorzüglicher Sänger: sein Vortrag des ›Oft on a plat of rising ground‹, sein ›Lord remember David‹ und ›O come let us worship and fall down‹ athmeten reinste Religion. Kein Geistlicher auf der Kanzel, wenn auch mit der größten Beredtsamkeit begabt, hätte seinen Zuhörern ein tieferes Verständniß ihrer Pflichten gegen ihren Schöpfer einflößen können, als Harrison that durch seine melodischen Töne und seinen keuschen Styl, wahrlich, es war makellos. Aber in den lebhaften Gesängen Händel's war er sehr ungenügend. Ich hörte ihn die Lacharie singen ohne eine Muskel zu bewegen; und entschloß mich, obwohl dies ein großes Wagniß war, das Stück nach meiner eignen Weise vorzutragen, und die Wirkung rechtfertigte das Experiment. Anstatt es mit der ernsten Zahmheit Harrison's zu geben, lachte ich das Stück hindurch wie ich glaubte daß es gesungen werden müsse und des Componisten Absicht gewesen sei. Dies steckte an: die Majestäten wie die ganze Versammlung und auch das Orchester waren in schallendem Gelächter (were in or roar of laughter), und aus der königlichen Loge wurde das Zeichen zur Wiederholung gegeben, und ich sang es abermal mit noch gesteigerter Wirkung. Herr Bates versicherte mich, daß, wenn ich es am Morgen in der Probe so gemacht hätte wie am Abend im Concert, er mein Wagstück verhindert haben würde. Ich sang es fünf mal im Laufe jener Saison, auf besondern Wunsch.«69 Ein so ausgelassener, aber[120] künstlerisch bewußter und in dieser Hinsicht maaßvoll schöner Vortrag ist hier der einzig richtige und wird immer von ähnlichem Erfolge gekrönt sein. An den Lachstellen im vollen Chore zieht Händel die vier Stimmen auf zwei parallele Unisonogänge, also auf Terzenharmonie zusammen, wie er dergleichen immer zu thun pflegt, wo der Naturlaut stark durchklingen oder (wie in dem folgenden Chore) eine besondere Leichtigkeit und Uebereinstimmung der Bewegung er zielt werden soll. Eine komische Oper, oder vielmehr komische Partien in einer Oper, hat Händel, wie wir wissen, weder mit Glück noch mit Lust geschrieben: aber diese Lachscene zeigt ihn in demselben Maaße und in demselben vollendeten Ausdrucke Herrn der Heiterkeit, wie jeder andern Stimmung. Nicht Beschränktheit verschloß ihm das Gebiet der Opernkomik, sondern musikalisches Gewissen und Gestaltungsvermögen führten ihn darüber hinaus; der Grund liegt rein in der Sache und dient nur, ihn als Künstler zu erhöhen. Wie ein komisches Oratorium ein Unding wäre, ist auch der frei selbständigen Musik nur die Heiterkeit nebst ihrer Zubehör natürlich; alle eigentliche musikalische Komik ist erst möglich, wenn, meistentheils in Anlehnung an das Bühnendrama, der rein menschliche Standpunkt aufgegeben und das Gewicht gelegt wird auf Scenen und Charaktertypen des niederen Lebens. Wie viel Vergnügliches, ja Köstliches in seiner Art daraus immer entstehe – die musikalische Kunst auf ihrer Höhe kennt wohl Scherz, Tanz und Lachen unter freien gleichen Menschen, aber nicht Narren und Närrin in ihren verschiedenen Abstufungen und Ausprägungen durch die Zufälligkeiten des beschränkten niederen Lebens. Für ein wahrhaftes Verständniß unserer Kunst wäre schon ein Großes gewonnen, wenn man sich dieses Verhältniß unvergeßlich einprägen wollte.

Die Ausgelassenheit führt zum Tanze, lachend ordnen sich die Reihen. »Kommt, und schwebend schlingt den Kranz«, ruft Allegro in einer kostbaren Arie von lebhafter Menuettbewegung, in der die Sprachaccente muthwillig versetzt sind, und der Chor bemüht sich auf's beste, ihm alle Kurzweil nachzumachen. Welche strömende Lust! welch reines Vergnügen!

Der Schwermüthige versinkt dem entgegen nur um so tiefer in sich selbst, und mit der Vertiefung wachsen ihm die Schwingen: jener[121] tanzenden Jugend gegenüber ruft er sich die andächtig feierliche Gestalt einer Nonne hervor, die er wie eine Göttin mit allem ausstattet, was in Gang und Gewandung, in Blick und Haltung majestätisch hohen Lebensernst Verkörperndes gedacht werden kann. Hierüber geräth sein Geist in Entzücken, und an mehreren Stellen seines aus vier Absätzen bestehenden Gesanges bricht eine fließende süße Cantilene durch, besonders schwunghaft in dem letzten, Friede und Maaßhalten preisenden Satze, der dann auch in einem hinzutretenden Chore verstärkend aushallt. So wenig die Gesammtwirkung dieser Schwermuthsscene der vorausgegangenen des Frohsinns gleichkommt, und so sehr man hin und wieder noch die Anstrengung bemerkt, mit welcher der Penseroso sich aufzuschwingen sucht, hat er doch nunmehr sich und seinem Chor die Bahn gebrochen und der lauten Lust die gegensätzliche Stimmung volltönend an die Seite gestellt. Hier fügen sich die Bilder so in einander, daß man meinen sollte, der Text sei schon ursprünglich in diese Ordnung gebracht.

Der Frohsinnige tritt wieder hervor, muß aber noch einmal im Recitativ die Schwermuth verscheuchen und die Freude herbeilocken, so sehr hat die vorstehende Scene auf ihn gewirkt. Nun folgt ein Gesang an die Freude »Nimm mich auf in deine Schaar«, gemüthsinnig, hell und heiter wie ein Frühlingsmorgen mit Lerchensang; auch ist's die Lerche, deren Bild hier in Melodie und Begleitung erscheint, wie sie die Nacht verscheucht und ihrem frohen Verehrer am Fenster den Morgengruß zuruft. Es ist ein Sopran, der dies singt.

Ihm stellt sich nun im Penseroso ein anderer Sopran gegenüber, ein anders gestimmtes Gemüth und ein anderer Natursänger. Nacht zieht herauf und auf goldnen Fittigen läßt sich der »Cherub der Betrachtung« hernieder; nichts stört die Einkehr, nichts durchbricht die Stille, nur die Nachtigall erwacht und mit ihr das Leben der Nacht, die Musik, das ausströmende Licht der Seele. Bei dieser Stimmung angelangt, wird der Penseroso allgewaltig und feiert eine wahre Verklärung in der Nachtigallenarie »Wie süß, o Trost der Nacht«, einem Wunderbilde an Idealität wie an Naturtreue. Bei allem Reichthum in den Grundzügen der Singstimme so einfach, wie immer in Händel's Gesängen, so streng einheitlich und tief musikalisch, lockt sie auch den schüchternsten Anfänger zum Versuche an, obwohl nur[122] die vollendetste Meisterschaft sie völlig zu bewältigen vermag. Der Haupttheil steht in Ddur; der kurze und in allen Stücken gegensätzlich gehaltene Mitteltheil in Dmoll, einige der schönsten Züge des ganzen Satzes enthaltend, schildert die Pause im Gesange der Nachtigall, wie der sinnende Wanderer unterdeß den Mond in stiller Pracht aufsteigen sieht. Dann tritt der erste Theil in der Haupttonart und darin auf's neue der Gesang der Nachtigall mit um so stärkerer Wirkung wieder hervor und läßt noch einmal seinen vollen Glanz auf die nächtliche Scene fallen. Es ist die Krone aller Nachtigallengesänge. Wer vermöchte auch so etwas zu übertreffen oder nur zu erreichen! Um keinen Preis darf bei Aufführungen die Wiederholung des Haupttheils, das da Capo, hier wegbleiben; nur das zerrüttete musikalische Formgefühl der Gegenwart (oder jüngsten Vergangenheit) konnte sich einreden, eine derartige Wiederholung fuße im damaligen Zeitgeschmacke, nicht in der Sache. Als ob die Uebung einer Zeit verächtlich und verwerflich sein könnte, welche als die Erzeugerin der größten Werke unserer Kunst das klassische musikalische Zeitalter genannt werden muß!

Der Allegro hat solchen Ergüssen der Gemüthstiefe gegenüber einen schweren Stand; hier verschwindet er, wie die Lerche vor der Nachtigall. Aber wie dem Schwermüthigen die stille Nacht, so gehört ihm der frohe Morgen, und als Jäger »auf lustiger Waldeshöh'«, umgeben von Hundegebell und Hörnerklang, sehen wir ihn plötzlich vor uns stehen. Sein Jagdgesang ist eine so einfache, so ur-waldlustige populäre Melodie, daß sie fast ein Kinderlied heißen kann.

Der Schwermüthige setzt dem Morgen den Abend entgegen. Sein Gesang in Bdur »Oft auf der Höh', den Fluß entlang (Oft on a plat of rising ground)« haben wir schon oben S. 120 als einen der berühmtesten des Sängers Harrison anführen hören. Er ist den feierlichen Abendglocken geweiht, die in der Begleitung auch stark durchklingen, und dem Frieden des häuslichen Heerdes, wo Kaminfeuer das Dunkel matt erhellt; der träumerische Schluß, auf der letzteren Vorstellung verweilend, ist noch besonders anziehend und eines großen Ausdrucks fähig. Der anschließende, etwas längere und erst ein Jahr später für den Tenoristen Beard eingeschaltete Satz in Es dur »Hier, wo alle Freud' erstirbt« behandelt zwei weitere[123] Gestalten des traulichen Abendlebens, die Grille und den Glöckner oder Thürmer, beide in der Begleitung natürlich wieder mit ihren musikalischen Attributen.

Sucht man aber nach dem, was in dieser Hinsicht Musikalisches im Leben umläuft, so möchte der Frohsinnige leicht die größere Ausbeute gewinnen. Er tritt denn auch hurtig wieder auf den Plan, zunächst in einer seinen Siciliana »sinnig wandernd durch das Grün«, unter frohen fleißigen Landleuten; dann in einem schönen gesangreichen Andante con moto zu den auf blühenden Wiesen umziehenden Heerden, in dem reich gestalteten recitativischen Mitteltheile aufblickend zu den angrenzenden Bergen und Wäldern mit lachenden Auen und tanzenden Waldbächen, mit stolzen Burgen, deren goldglänzende Zinnen aus der üppigen Landschaft weithin hervorragen. Nun hört er die Musik des Tambourins und der Geige (»Horch wie das Tambourin erklingt«, mit Octavengängen die einem Londoner Kirchenglockenspiele nachgeahmt sind), schildert mit Entzücken, wie Mädchen und Bursche, durch die Töne angelockt, auf dem Blumenteppich der Natur in trunkner Luft den Tanzreigen führen. Und Jung und Alt – so fällt der Chor unmittelbar ein –, Jung und Alt strömt herbei zum Tanz auf sonniger Flur. Dieses in Heiterkeit strahlende Tonbild senkt sich dann ab zu dämmernder Abendstille, wie der Tag selber; müde schleichen die eben noch so frohen Gestalten der Ruhestätte zu, und bald hat tiefster Schlummer alles vorige Leben ausgelöscht. Mit diesem pianissimo nachklingenden Ausgange, einem der schönsten und wirksamsten derartigen Sätze bei Händel, schließt der erste Theil. Der Allegro hat das letzte Wort und bewährt sich hier im ersten Theile offenbar als der Mann des Tages.

Zweiter Theil. Daß hingegen der zweite Theil überwiegend dem Penseroso unterthan sein solle, scheint dieser schon durch Besitzergreifung des Einganges andeuten zu wollen. Wieder, und in stärkeren Ausdrücken als vorhin, scheucht er alle eitle Freude von sich als hohl und seicht für den Gehaltvolles suchenden Geist, und ergiebt sich tiefsinnigen nächtlichen Studien, während das froh in der Sonne sich tummelnde Völkchen in tiefem Schlafe liegt. Soweit das schöne Anfangs-Recitativ. In der anschließenden Arie in Fmoll wendet er sich zu den griechischen Tragikern und – wie er als richtiger akademischer[124] Zögling, der aus Platon die Unsterblichkeitsfrage zu lösen gedachte, allerdings urtheilen mußte – zu »dem Wenigen« was aus späterer Zeit der attischen Bühne an die Seite gesetzt werden könne, womit er aber, wie wir S. 126 sehen werden, das Einzige was ihr wirklich an die Seite gesetzt werden kann, nicht meinte: – schwierige, ja undankbare Vorstellungen, die Händel trotzdem zu einem sinn- und würdevollen Tonbilde auszuspinnen wußte. Glücklicher steht die Musik zu dem folgenden Satze. Wie von den Philosophen zu den Tragikern, geht er nun von diesen zu den in mythologischer Herrlichkeit prangenden Musikern oder Musageten über, zu Musäus und Orpheus, die er erwecken, deren Gesang er hören möchte, und zwar so hören wie er in der Unterwelt erklang als selbst Pluto's Augen eiserne Thränen entlockt wurden. Der Gesang in Edur hat mit der Nachtigallenarie viel Aehnlichkeit, nur ist die Coloratur reicher und schwieriger auszuführen; eine einzelne geschmückte Begleitstimme ist ebenfalls vorhanden, aber nicht die Traversflöte, wie dort, sondern das tiefere häuslichere Violoncell. So dauert die nächtliche Gedankenwanderung, heißt es in den recitativischen Schlußworten, bis der unwillkommne Morgen anbricht.

Am frühen Morgen aber ist der Frohsinnige schon mit einer ganzen Schaar zur Stadt aufgebrochen, sich im voraus auf das fröhliche Getümmel eines großen Ortes freuend. »Uns gefällt der Stadt Gedränge«, führt er den Chor mit einem lustigen Baßsolo an (welches auch stets von einem Einzelnen, nicht etwa von allen oder einigen Chorbässen zu singen ist, denn in dem ganzen Werke handelt es sich nur um die beiden Gestalten des Frohsinnigen und Schwermüthigen, deren Anregungen der Chor einfach folgen muß, ohne eigenmächtig eine neue Stimmung hervorrufen zu können), und der Chor setzt mit voller Munterkeit den angeschlagenen Ton fort, höchst handgreiflich die Vorgänge sich weiter ausmalend, das bienenartig geschäftige Gesumm der Marktmengen, daneben das feierlich prächtige Auftreten der stolzen Ritter und das gewinnende Benehmen der schönen Frauen, aus deren Händen alle Tapferkeit den Preis empfängt. Bei der Stelle »wo die Ritter in Feiertracht siegprangend ziehn«, namentlich am Schlusse, wird man an verwandte Gänge im Halleluja des Messias erinnert; Gedanken, die er dort voll ausprägte, tauchen hier[125] gleichsam vorahnend auf und kündigen sich an, was öfter bei ihm der Fall ist. Der Allegro wünscht sich dann in einer lebhaften Arie Hochzeitsfreuden im vollen Gepränge der alten Zeit mit Mumm- und Neckereien »wie jugendliche Dichter sie zur Sommernacht an gefeiten Quellen träumen«, wobei er an Shakespeare's Sommernachtstraum gedacht haben muß, aber wohl nicht ahnte, daß einst alle Welt ebenfalls daran denken und gerade dies seinen nur andeutenden Zeilen das glücklichste Verständniß bereiten würde.

Der Schwermüthige entflieht vor der stechenden Sonne unter das Laubdach des Hains, berührt also ziemlich nah den Frohsinnigen, der auch zu Feen und Elfen in den Wald ziehen wollte, bewahrt aber doch eine ganz andere Stimmung und verkriecht sich in tiefste Waldeinsamkeit. Hier, von Bienengesumm und Quellengemurmel umgeben, möchte er entschlummern, auf den Schwingen eines seltsam schönen Traumes sich erheben und durch allüberall ihn umtönende Musik des Waldgeistes erwachen: dies alles läßt uns als gegenwärtig geschehend die wundervolle Träumerei in As dur empfinden.

Nun folgt die letzte große Scene des Allegro. Er ist ein Freund des Theaters, nicht des gelehrten sondern des lebendigen. Zwar verehrt er den »gelehrten« Ben Jonson, aber als Zuschauer vor der Bühne. Dies sind die merkwürdigen Zeilen, in welchen Milton sich auch über Shakespeare ausspricht. Er nennt ihn süß, ein Kind der Phantasie, wie ein Waldsänger aus angeborner Natur singend, und stellt ihm Jonson's Humor und Gelehrsamkeit an die Seite, ganz so wie England fast bis auf unsere Zeit gethan hat. Auch der Keim der späteren französischen Vorurtheile steckt schon darin. Was aber das Bemerkenswertheste ist, er stellt die beiden ersten englischen Dramatiker, und mit ihnen das ganze englische Theater, in den Kreis des Frohsinnigen, also nicht zu dem was der Penseroso S. 125 von neueren Dramen dem Trauerspiel der Griechen zugesellen wollte; ja, es ist unzweifelhaft, daß er nicht Hamlet und Othello, sondern den von den Humanisten ausgegangenen lateinischen Nachahmungen griechischer Originale diese Ehre zugedacht hatte. Für die Musik waren diese Vergleiche nicht besonders ergiebig, aber auch nicht gerade widerborstig; so hat Händel denn den Text in einen zugleich würdevollen und lebhaften Satz gebracht, in welchem besonders bei[126] der Vorstellung Shakespeare's verweilt wird, im übrigen aber nur Musik gemacht die obenhin fließt, wie es nicht anders sein konnte. Anscheinend mühelos und leicht fließt es bei ihm immer dahin, niemals erarbeitet und ergrübelt, selbst da nicht, wo Arbeit und Grübelung vielleicht etwas Originelleres oder Poetischeres hätten zu Tage bringen mögen: dies war ein Gestaltungsgesetz seiner Natur und stand als solches über seinem Wollen. Um es mit den Worten zu sagen, welche Milton in einem Lobgedichte auf Shakespeare gebraucht und die so einzig auf Händel's erstaunenswürdig schnelles Schaffen passen: wie ein »leichter freier Strom« flossen seine Töne dahin, ganz entgegen der Art »langsam schaffender, mühevoll arbeitender Kunst.« Auch bei einer Kunst in letzterer Art kann sicherlich überaus Großes gedeihen (Milton, Bach, Gluck und Andere sind Beweise davon), aber nicht in den Händen Händel's oder Shakespeare's, denn wenn auch ihre schnellsten Erzeugnisse nicht unter allen Umständen ihre besten gewesen sein mögen, so waren ihre mühevoll erarbeiteten doch sicherlich immer ihre schwächsten. – Etwaige Sorgen sucht der Allegro, wie uns die folgende Arie lehrt, sich zu verscheuchen durch »lydische« Melodien, aber mit Worten vermählt, auch mit allen Gesangskünsten geschmückt und so die verborgene Seele der Harmonie hervorlockend. Noch einen Schritt weiter geht Allegro in diesen musikalischen Stimmungen, indem er in einem dritten Satze (»Orpheus selbst erheb' sein Haupt«) ausführt, wie selbst Orpheus einem solchen Gesange mit Entzücken lauschen müßte, der seiner Eurydice gewiß die volle Freiheit verschafft haben würde. Die Musik ist schön und originell, aber alle diese Gesänge greifen nicht tief, da sie sich mehr in Vorstellungen als in Empfindungen bewegen. Sie stehen dennoch ganz an rechter Stelle, nämlich als die Ausläufe der Stimmung des Frohsinnigen; man sieht, daß er sich hiermit erschöpft und seinen Rundlauf vollendet hat. Nun stimmt er seinen frischen Schlußgesang an (»Diese Luft gewähre du, Freud', und dir gehör' ich zu«), der in einen Chor einmündet, welcher alles in stürmischer Luft bejaht und steigert wie man es nur wünschen mag.

Und sodann macht der Schwermüthige den Beschluß. Hier in der Kunst ist's wie im Leben, der tief ernsten Seelenstimmung gebührt das letzte Wort. In stillen, mystisch erhellten Klosterhallen[127] wandelnd – (was in England den gewöhnlichen Lebensverhältnissen ungleich näher liegt, als in andern protestantischen Ländern, weil dort wohl mit dem Katholicismus aber eigentlich niemals mit dem Mittelalter gebrochen wurde, namentlich nicht in den Studieneinrichtungen, deren Eindrücke Milton hier zunächst wiedergiebt) – schallt ihm aus der Kirche der volle Chor entgegen, durch Orgelklang emporgetragen, und seine Seele schwingt sich auf, sein entzücktes Auge sieht den Himmel geöffnet. Unter dem Eindruck dieser heiligen Schauer ist es ihm, als müßte er, am Lebensabend angelangt, ein frommer Klausner und als solcher (denn die jugendliche Ruhmbegierde regt sich auch hier noch) ein vielwissender und prophetisch weiser Mann werden. Dies spricht er in einem herrlichen Schlußgesange in Dmoll aus, dessen Nachspiel in den Chor »Schwermuth, gewähr' uns diese Freuden« überleitet.70

Obwohl nun jeder diese Ordnung als richtig empfinden und in ihrer musikalischen Gestalt als unübertrefflich bewundern muß, ließ Händel doch auch, wenigstens einmal, mit dem letzten Chore des Allegro schließen. Dies geschah nämlich bei der Wiederholung im nächsten Winter 1740/41 und hängt zusammen mit sehr erheblichen Einschaltungen und Umschreibungen in andere Stimmlagen, welche er damals vornahm. Schon oben S. 123 ist einer dieser Zusätze angegeben; es waren ihrer aber zehn, die auch sämmtlich in der Originalhandschrift am Ende erhalten und als »L'Additione« bezeichnet sind, nämlich folgende.


1. Penseroso. There held in holy passion still...and join with thee calm peace and quiet – accomp. Recit. und Arioso in C- und Fmoll (p. 27–29 uns. Ausg.), nebst[128] den 5 letzten Takten des vorausgehenden Andante larghetto »Come, but keep thy wonted state

2. Penseroso. Far from all resort of mirth. Es dur. (p. 55–57.)

3. Allegro. Straight mine eye hath caught new pleasures – aus Deidamia entlehnt, Gdur (p. 60–63), und der anschließende selbständige recitativische Mitteltheil

4. Allegro. Mountains, on whose barren breast. Anfang E-, Schluß Hdur. (p. 64–66.)

5. Penseroso. Sometimes let gorgeous Tragedy, mit dem einleitenden Recit. Hence! vain deluding joys – vom Alt in den Sopran, von Fismoll nach Hmoll versetzt und verkürzend umgearbeitet. (p. 174–180 als Appendix mitgetheilt, der ursprüngliche Altsatz dagegen an seiner richtigen Stelle p. 75–82.)

6. Allegro. And ever against eating cares. Gmoll. (p. 111–114.)

7. Allegro. Orpheus' self may heave his head. Gdur. (p. 115–120.)

8. Allegro. These delights if thou canst give. Ddur. (p. 121–124), und ein

9. Allegro. Chor über denselben Text. (p. 125–131.)

10. Penseroso. May at last my weary age, für Signora Monza. Dmoll. (p. 133–34.)


Nummer 6 ist im Original als »prima l'additione« bezeichnet, war also das erste was einzufügen für gut befunden wurde. Die drei Stücke 6, 8 und 9 bilden eine zusammenhängende Scene und am Ende derselben findet sich im Handexemplare die Bemerkung »Fine della parte 2da«. Zu diesem Zwecke wurde also die Einschaltung der genannten drei Sätze (vielleicht auch noch des vierten Nr. 7) zunächst vorgenommen. Mit dem Allegro ist wohl nur das eine Mal am 8. April '41, oder höchstens viermal im Laufe der nächstjährigen Aufführungen, geschlossen worden, und vielleicht hing dies von dem ab, was als dritter Theil zum Beschluß des Ganzen folgte. Doch, schenken wir zunächst dem ursprünglichen dritten Theile einige Aufmerksamkeit.

Dritter Theil. Wollte Händel der Stimmung treu bleiben, in welcher er diesen Schluß entwarf, so hätte er ihn später niemals weglassen dürfen, denn in der schönen Musik spiegelt sich noch die Lust und der Ernst der Ueberzeugung, mit welchen er daran gearbeitet[129] hat. Gleich der Eingang ist prächtig, und der folgende Gesang »Komm in anmuthvoller Zier« mit anschließendem Chor einer der allerschönsten Sätze des ganzen Werkes, ja in seiner Arie und Chor umschlingenden großen Form, wo der Chor die Stelle eines da Capo der Arie einnimmt, hier einzig in seiner Art; noch besonders sinnvoll ist er als Baßgesang, das Ganze ist von einer geweihten Stimmung durchdrungen. Die beiden folgenden Sätze für Sopran und Tenor bieten viel Originelles, der erste besonders in seiner Modulation, der andere im Taktwechsel, sind übrigens moralisirenden Charakters und insofern weniger werthvoll. Aber das wundervolle Duett »So wie der Tag« in Bdur ist wieder ganz der Ausfluß reinster Seelenharmonie und in seiner Vereinigung des Sopran und Tenor zum Preise geistesheller Wahrheit und Besonnenheit die wahre Versöhnung der bisher auseinander strebenden Stimmungen. Hier ist der wahre neutrale Grund gefunden, der gemeinsame Ausgang, das gemeinsame Ziel aller reinen Kräfte, welcher Art und Neigung sie sonst auch sein mögen, und Händel hat in seiner von Jugend auf bekundeten Begeisterung für Tugend des Geistes wie des Herzens die Worte musikalisch wahrhaft verherrlicht. In die reiche und lebhafte wallende Begleitung, welche fast das Gepräge einer späteren Zeit trägt, sind die schönen gesangreichen Melodien der Singstimmen mit feinster Kunst eingezeichnet. Der Text


As steals the morn upon the night,

And melts the shades away:

So truth does fancy's charm dissolve,

And rising reason puts to flight

The fumes that did the mind involve,

Restoring intellectual day.


ist augenscheinlich einer Stelle in Shakespeare's Sturm


...... The charm dissolves apace,

And as the morning steals upon the night

(Melting the darkness) so their rising senses

Begin to chase the ignorant fumes that mantle

Their clearer reason.

(Prospero: Act V, Sc. 1.)


nachgebildet; Jennens war ein großer Bewunderer und Kenner Shakespeare's, wie wir später hören werden. So harmonisch in der[130] Wahrheit und damit in allem Guten neu befestigt, sendet uns der Schlußchor heim.

Mit dem Gesagten ist im Grunde schon entschieden, wiefern sich nach Frohsinn und Schwermuth noch die Stimme der Mäßigung hören lassen dürfte. Wo der Moderato in eine neue, ihrer Natur nach erwärmend und versöhnend wirkende Stimmung einleitet, ist er hochwillkommen, denn ohne das Hinzutreten eines Dritten bleibt trotz der bewundernswerth naturgemäßen Ordnung der frohsinnigen und schwermüthigen Scenen immer etwas von unaufgelöster Disharmonie bestehen. Was der Poesie an sich hier in den einmal gezogenen Grenzen nicht mehr möglich war, vermochte die Musik; sie besitzt die Macht, einer dritten Stimmung soweit Bahn zu brechen, daß die beiden andern ohne Darangabe ihrer Eigenthümlichkeit in ihr einen gemeinsamen Mittelpunkt finden konnten. Solches ist hier in dem Baßgesange mit Chor und dem Schlußduett auf unübertreffliche Weise geschehen. Wo der Moderato dagegen moralisirend und seine Vorgänger kritisirend auftritt, ist er auch musikalisch überflüssig; denn wie Allegro und Penseroso in poetischer Hinsicht zwei Gemüthsstimmungen darstellen, die einander ausschließen und auf zwei verschiedene Charaktere deuten, so bezeichnen sie nebst dem Moderato in der Musik drei grundlegliche Ausdrucksweisen, von denen keine der andern das Gebiet streitig macht, die zu einander gehören und insgesammt das Bereich der Tonkunst bilden. Man sieht, sobald es sich um Stimmungen handelt, befindet die Musik sich in einer weit glücklicheren Lage, als die Poesie.

Aber auch noch ein anderer Ausgang und damit ein anderer dritter Theil ist denkbar, der seine Fäden sinnvoll, wenn auch unscheinbar, an das vorige knüpfen könnte. Allegro und Moderato, in allem divergirend, selbst im Naturgenusse wie Tag und Nacht zu einander stehend, begegnen sich in einem Punkte, in der Liebe zur Musik. Zu Milton's Zeit war man soeben in das große musikalische Zeitalter eingetreten, wie in ein offnes Meer unbewußt hineingetrieben: deß ist auch dieses Gedicht Zeuge. Penseroso sehnt sich Orpheus' Gesang zu hören, und Allegro meint, ein Lied wie es ihm nur genügen könne, müßte selbst Orpheus erwecken und Eurydice befreien; hier thut also der frohsinnige Mann, ganz gegen seine sonstige Natur, auf einmal[131] klassisch gelehrt, so sehr waren ihm musikalische Gedanken und Sagenbilder in's Herz gedrungen. Wie nun, wenn man die Stimmung, in der sich Beide die Hand reichten, festhielte und in einem Preise der Tonkunst ausklingen ließe? So machte Händel es wirklich, indem er den Moderato überschlug und die kleine Dryden'sche Cäcilienode an seine Stelle setzte. Beliebigen Falls kann man also dasselbe thun, obwohl nicht wünschenswerth ist, daß es immer geschehe und der Moderato ganz unterdrückt werde. Mit den beiden ersten Theilen sich zu begnügen und in der kirchlichen Stimmung des Schwermüthigen zu schließen, wie man neuerdings gethan hat, ist in der That gar zu bescheiden, auch nur dem »neu erwachten kirchlichen Leben«, wie ein gegenwärtig verbreiteter schwächlicher Pietismus sich zu betiteln pflegt, und dem abgestumpften Gefühl für disharmonische Gegensätze erträglich. Denn ein solches Verfahren widerstreitet dem Wesen der Musik, zu deren Vorzügen wie Erfordernissen es gehört, nicht zu ruhen bis die versöhnende Macht der Harmonie die Gegensätze überwunden hat, und es ist einer der Bestimmungspunkte für Händel's musikalische Größe, daß er diesem Gesetze unwandelbar treu blieb, selbst da wo ein Abweichen von demselben über sein Werk den Schein von Tragik und Tiefsinn verbreiten konnte. Alle Zerrissenheit blieb ihm ewig fremd.

– Dies war das neue Werk Händel's. Obwohl dem Texte nach alt und allbekannt, fiel es doch wie ein Novum aus den Wolken. Und auf jeden, der heute hinzutritt, vertraut mit den bekanntesten seiner Oratorien, muß es denselben Eindruck machen. Dabei wird es allen, die es nur einmal erfaßt haben, als ein echtes, mit vielen der schönsten Vorzüge geschmücktes Erzeugniß der Händel'schen Muse gelten und ihnen theuer werden, sowohl durch die Ueberfülle der herrlichsten Melodien wie durch den Reiz einer an das Sonderbare streifenden Eigenthümlichkeit. Es ist unschätzbar für die Bestimmung des Händel'schen Kunstcharakters und für die Berichtigung von Urtheilen und Vorurtheilen. Auf jene Werke allein gesehen, die durch große historische Vorgänge und durch ausgesprochene sittliche Ideen bewegt werden, erscheint Händel's Kunst wohl groß und herrlich, aber zugleich an gewisse Stoffe gebunden und insofern beschränkt. Hier nun liegt ein Werk vor, welches in jenem Sinne eigentlich gar keinen[132] Stoff hat und dennoch so reich ist, ein Werk, welches alles eigentlich Sittliche rein vergessen macht und dennoch so gänzlich frei ist von jedem Leichtsinne, so lauter, so tief, so menschenwürdig. Welche bewußte innere Klarheit, welche geistige Fülle und Selbständigkeit, welche Freiheit und Allbeweglichkeit des Geistes mußte ihm eigen sein, um sich so auf ein Nichts zu stellen, von dem denkbar gewichtigsten Gegenstande, Israel in Aegypten, zu dem denkbar nichtigsten und flüchtigsten überzugehen und überall in gleicher Sicherheit sich zu behaupten!

Doch bei all diesen Vorzügen möchte das Werk immer nur als musikalische Illustration einer obendrein verstümmelten Dichtung angesehen, insofern also auf eine ziemlich tiefe Stufe gerückt werden müssen. Wenn Händel das Gedicht auch noch so trefflich in Musik gebracht hätte, so würde sich darauf allein noch kein hervorragendes Verdienst begründen lassen; um ein wahrhaftes musikalisches Kunstwerk zu sein, muß es etwas Höheres bieten. Hiermit sind wir bei dem Hauptpunkte unserer Besprechung angelangt.

In wenigen Dingen findet man die Beurtheiler, englische wie deutsche, so einig wie in der Ansicht, der Penseroso stehe bei Milton höher als der Allegro. Goethe führt dies an als eins der vielen Beispiele einer vorherrschend melancholischen Stimmung bei englischen Dichtern (worin er offenbar zu schwarz sieht) und sagt: »Milton's Allegro muß erst in heftigen Versen den Unmuth verscheuchen, ehe er zu einer sehr mäßigen Luft gelangen kann.« (Wahrheit und Dichtung, 13. Buch.) Fast noch heftiger freilich weist der Schwermüthige die Luft von sich, gelangt dabei aber auch in eine tiefere Strömung. Diesen Mangel an Harmonie oder dichterischer Werthgleichheit der Theile hat man meistens aus Milton's Vorliebe für trübe düstere Stimmungen zu erklären gesucht, der zufolge ihm auch das verlorne Paradies besser gelungen sei als das wiedergewonnene, und in ersterem die Gestalt des Satan besser als die des heiligen Erzengels. Die Thatsachen sind nicht zu beanstanden, aber der Grund dürfte anders auszudrücken sein. Weil bei Milton der Frohsinnige den Anfang und der Schwermüthige den Beschluß macht, ist es einfach die Erfüllung einer künstlerischen Forderung, wenn der letztere sich durch innere Kraft als der wirksamere erweist. Aber warum den[133] Schwermüthigen an das Ende rücken, warum nicht den Frohsinnigen? Hierfür ist kein anderer Grund vorhanden, als Wille und Neigung des Dichters. Mit andern Worten: Milton's »Allegro und Penseroso« ist ein Stimmungsgedicht, dem Ich entsprungen, von rein subjectivem Gehalte, so zu sagen ein Selbstbekenntniß in poetischer Form, kein objectives Kunstwerk; und anders konnte es nicht sein. Die Ursache ist einfach die, daß der Gegenstand – Schilderung gegensätzlicher Gemüthsstimmungen – im ersten Grade kein poetischer sondern ein musikalischer ist. Deßhalb mußte auch der Dichter bei aller Schönheit seines Gemäldes im Subjectiven befangen bleiben, und von Anfang an war die Möglichkeit gegeben, daß ein Musiker hier über den Dichter als Künstler hinausschreiten konnte. Ja noch mehr. Wie schon der italienische Titel zeigt, muß dem jugendlichen Dichter die Anregung zu seinem Werke, die Form desselben, von Italien gekommen sein; wahrscheinlich benutzte er eine bestimmte Vorlage. Ohne Zweifel hatten italienische Poeten seiner Zeit den Gegenstand schon mehrfach behandelt, aber das Einzige, was in dieser Art damals großen Ruf erlangte und sich weithin verbreitete, war ein musikalisches Stück, ein Duett (Dialog zwischen Demokrit und Heraklit) von Milton's älterem Zeitgenossen Carissimi in Rom. Es ist nicht nachzuweisen, inwiefern Milton's Gedicht mit jener Musik in Verbindung stehen mag; aber die Annahme hat nichts Gewaltsames, ja ist durch die Sachlage geboten, daß die Musik, nämlich ein ursprünglich rein musikalischer Text und Zweck, hier die erste Quelle schlug, die dem musikbegeisterten Milton, dessen Vater sogar ein namhafter Tonkünstler war, auf die eine oder andere Art zugeflossen sein muß. Könnte man die Entstehung des Gedichts in die Zeit seiner italienischen Reise verlegen (1638–1639), so würde sich alles noch weit einfacher erklären.

Für alle Fälle – und das bleibt hier die Hauptsache – ist so viel zu sagen gestattet, daß der Tonkunst durch Händel's Gestaltung des Gegenstandes ein Stück Ureigenthum zurück erobert wurde. Was in den musikalischen Versuchen vor und zu Milton's Zeit höchst mangelhaft gewesen sein mag, gedieh nun zur reifsten Vollendung, – obwohl, recht verstanden, auch in jenen Versuchen die Kunstform schon höher stand als in Milton's Gedicht, weil die Form des Duetts ein[134] größeres objectives Gleichmaaß bedingt, als der poetische Erguß einer doch mehr oder minder subjectiv gefärbten Stimmung. Die Musik bewegt sich hier in voller Unmittelbarkeit; für alle diese Dinge stehen ihr ausgebildete Tonformen und Instrumente zu Gebote, in denen die Stimmungen des Gemüths unter den Händen des rechten Meisters Leben und Gestalt gewinnen können. So besitzt der Musiker alle Mittel um objectiv zu verfahren, d.h. über die Stimmung des Individuums, also auch seiner selbst, sich zu erheben und in naturwahren unvergänglichen Zügen die Stimmung des Menschen uns entgegen zu bringen. Milton mag man im Penseroso wieder zu finden meinen, bei Händel wird dies keinem einfallen: er hat beide Hauptgestalten so hoch gerückt, so frei gestellt, daß sie als rein künstlerische Idealbilder des allgemein Menschlichen dastehen, und er ihnen gegenüber Händel bleibt. Dies ist es, was Milton's Gedicht zu einer künstlerischen Stimmungsscene, Händel's Musik aber zu einem abgerundeten und geschlossenen Kunstwerke macht; selbst wenn man fände, was aber nicht im mindesten der Fall ist, daß Milton's Poesie vergleichungsweise gehaltvoller wäre, als Händel's Musik, müßte man letzterer dennoch den Vorzug größerer und reinerer Kunst einräumen. Niemand wird je behaupten wollen, auch die Musik des Allegro gelange zu einer nur »sehr mäßigen Lust«, denn die Stimmung der Freude bricht bei ihr voll durch und hält der Schwermuth die Waage. Letzterer ist aber aus ihrer dichterisch bevorzugten Stellung dennoch alles das vollauf gewahrt, was in ihrem Charakter gegründet war, indem sie durch das schönste musikalische Organ, die weibliche Stimme, verklärt wird und dadurch eine sinnige Tiefe des Ausdrucks gewinnt, vor deren Glanz alle Bilderpracht der Poesie zu erblassen scheint. Um so höher nun hebt sich das Werk als Kunstwerk, wenn es trotzdem volle Harmonie und Ausgleichung der Theile zu bewirken vermochte. Dies zu können, verlieh der Tonkunst erst das höhere Recht, jene herrlichen Stimmungsscenen Milton's frei nach ihrer Art zu gestalten. Was Milton durch die Fäden der Reflexion verkettet, gewinnt bei Händel wieder den reinen Naturgrund und baut sich, wie alle ursprüngliche Kunst, nach einem anfänglichen Impulse aus dem Nichts auf. Der Frohsinnige verscheucht die Schwermuth, der Schwermüthige die Freude: so fängt's an, hiermit[135] ist's im Gange, Welle um Welle schlagen nun die Stimmen gegensätzlich an einander, und alles weitere bis zum Schlusse scheint sich in künstlerischer Steigerung wie von selber zu ergeben. Was uns an dem Werke so hoch entzückt, der Glanz der Contraste, der wie durch Zauberschlag in immer neuen Gegensätzen aufsprudelnde Melodienquell, wäre nur eine schöne Tünche innerer Gehaltlosigkeit, wenn er auf willkürlichem Belieben des Musikers beruhte und nicht als durch den natürlichen Gang der Kunst erzeugt eine tiefere Berechtigung hätte. Als flutende Wellen des das Ganze bewegenden künstlerischen Lebens hingestellt, war eine so reiche Fülle und Pracht der Tongedanken, wie sie sich in diesem Werke offenbart, auch durchaus nothwendig und ohne sie nichts zu erreichen, so daß man sich hier, wie schon bei mehreren andern, ja eigentlich bei allen Hauptwerken Händel's gestehen muß, dies sei ein Gegenstand, der jedem andern Tonmeister fern lag und bei etwaiger Behandlung sicherlich mißlungen wäre. Denn alle Bedingungen, welche die Tonkunst zu stellen vermag, waren hier insgesammt wieder in einem und demselben Werke zu erfüllen, wenn überhaupt etwas Namhaftes erreicht werden sollte. Eine unzulängliche Leistung mußte deßhalb auch immer unendlich weit hinter der eigentlichen Aufgabe zurückbleiben, hier gab es nur Gelingen und Mißlingen, keine halbe und unentschiedene Lösungen wie in so vielen Mittelgebieten der Kunst, und daher kommt es, daß Andere, wenn sie dieselben Gegenstände ergreifen, nur Unbedeutendes und Vorübergehendes zu Tage fördern. Denn diese Gegenstände sind sämmtlich nur geschaffen für eine universale Künstlernatur, mit der Kundgebung einzelner, selbst großer musikalischer Vorzüge ist hier nichts gethan, ja nur selten bietet sich Raum zur Entfaltung derselben, alles fließt vielmehr aus einem Geist und Kunst vereinenden Mittelpunkte, und als universal bethätigt Händel's Kunst sich eben in der Lösung der einzelnen Aufgabe. Die Grenze des Gelingens und Mißlingens ist bei diesen Stoffen wohl eine absolute zu nennen; je höher das Ideal steht, desto schärfer ist die Grenzscheide und desto jäher der Abgrund in welchen das Unzulängliche hinabstürzt.

In dem ganzen Werke stehen die Einzelgesänge voran und der Chor hält sich in der Ferne, in dienender und begleitender Stellung, ganz im Gegensatze zu Israel wo das Einzelne sich den selbständig[136] fortschreitenden Chormassen anschmiegt und unterordnet. So scheint es, daß der Rhythmus der Contraste, in welchem Händel das einzelne Kunstwerk aufbaut, auch in der zeitlichen Aufeinanderfolge dieser Tonschöpfungen ein Grundgesetz seiner Gestaltung, eine Bedingung seiner Kunstnatur war. Andererseits, als auf Schilderung basirend, stellt Allegro sich dem Israel wieder nah verwandt zur Seite, und die musikalische Ausbeutung von Naturlauten und -Phänomenen ist hier ganz dieselbe.

Die erste Aufführung fand statt am Mittwoch den 27. Februar71; das Werk wurde im Laufe der Saison noch vier mal wiederholt, zuletzt am 23. April als am Schlusse derselben (»Being the last time of performing this Season« heißt es in der Ankündigung), Auch für Walsh wurde es ergiebig; er brachte im Laufe der nächsten Wochen zwei Sammlungen Gesänge davon heraus, die er später vereinigte.72

Im Mai veröffentlichte Gentlemen's Magazin ein Lobgedicht auf Händel, welches weit gehaltvoller ist als der Anfang mit den damals stereotypen Bildern von Orpheus und Arion vermuthen läßt. Nachdem gegen die leere, nur das Ohr ergötzende italienische Musik jener Zeit zu Felde gezogen, wird Händel ein Lob gespendet welches namentlich dadurch merkwürdig ist, daß es sich ausspricht in Form eines geschichtlichen Rückblickes auf sein Künstlerleben. Wer gegen Dich, den Beherrscher der Lyra, rebellirt, heißt es dort, lehnt sich gegen die Kunst selbst auf; unbesiegt stehst Du im Gesange da, alle[137] Völker, die ihn kennen, gehorchen ihm, selbst das so lange die Musik beherrschende Italien; was letzteres an Harmonie besaß, ist erst durch Dein Genie in Schwung gebracht; um Dich zu bilden, vereinten sich Begabung Wanderung und Kunst, und alle Gewalten der Musik sind nun Dein geworden.73

Die Zeitverhältnisse verwickelten sich immer mehr und blieben[138] künstlerischen Unternehmungen andauernd ungünstig. Händel eröffnete einen neuen Jahrlauf, der für London vorläufig sein letzter werden sollte, am 8. November '40 mit dem Festspiele Parnasso in Festa v.J. 1734 (II, 319 ff.), brachte als Neuigkeiten die schon im zweiten Bande S. 454–56 beschriebenen italienischen Opern Imeneo und Deidamia und schrieb zur Wiederholung des Allegro die S. 129 genannten neuen Sätze, aber kein neues Oratorium. Allegro mit den »verschiedenen neuen Zusätzen« wurde am 31. Januar und 7. Februar '41 gegeben und »auf Befehl des Prinzen und der Prinzessin von Wales«, die sich der verlassenen Musik noch einigermaßen annahmen, am 21. Februar wiederholt, sodann zum Beschluß der Saison am 8. April '41 aufgeführt, diesmal aber nur der erste und zweite Theil mit der kleinen Cäcilienode als Schluß.

Zu dieser letzten Aufführung hatte Händel eine für ihn etwas vortheilhaftere Vereinigung der Plätze vorgenommen, worüber er bei der Anzeige gleichsam entschuldigend bemerkt: »Da dies das letzte mal ist, hat es manchen Vornehmen und sonstigen Leuten gefallen, viele Karten für Logen zu bestellen, was mich ermuthigt (und, wie ich hoffe, keinen Anstoß erregen wird), Logen und Parterre zusammen zu legen für eine halbe Guinee. Erste Gallerie fünf, zweite drei Schilling.«74 Möchte dies schon auf eine Art Abschiedsconcert deuten, so ersehen wir aus andern Mittheilungen noch unzweideutiger, daß Händel jetzt wirklich bei dem Punkte angelangt war, wo ihm alle Hoffnungen schwanden, und er nunmehr die Absicht kund gab, den[139] Boden einer fast dreißigjährigen Wirksamkeit für immer zu verlassen. Von seinen schlimmen Tagen waren dies die allerschlimmsten; selbst die Production in seinem neuen oder großen Styl schien in's Stocken gerathen zu wollen, denn schon seit länger als Jahresfrist ruhte die Composition von Oratorien. Wie traurig es um ihn stand, sieht man recht klar aus einer längeren Zuschrift, die ein ihm fern stehender »J.B.« an dieselbe Londoner Zeitung einsandte, welche früher den herrlichen Aufsatz über Israel gebracht hatte (S. 95), in der wohlgemeinten Absicht seinem farewell-concert einen reichen Zuspruch verschaffen zu helfen. Der Aufsatz erschien in der Zeitung schon am 4. April, vier Tage vor dem Concert.

In einer politisch so erregten Zeit – beginnt der Verfasser – möge es gewagt erscheinen, von musikalischen Dingen zu reden; aber schon bei den Alten sei die Musik über das Bereich bloßen Vergnügens erhoben gewesen. Sodann in einer recht gehaltreichen Uebersicht, wenn auch auf dem damals gewöhnlichen Gange, die Musik der Vorzeit überblickend und endlich bei der Sphärenmusik anlangend, fährt er fort: »Zu diesen Betrachtungen bin ich veranlaßt worden durch einen Theaterzettel des Herrn Händel zum nächsten Mittwoch, wo wir sein letztes Oratorium in Lincoln's-Inn-Fields hören werden. Er hat mich von meiner Kindheit an bis auf diesen Tag entzückt, und da ich für eine der größten Freuden, deren unsere Natur fähig ist, so lange sein Schuldner gewesen bin, hielt ich es (obwohl persönlich nicht mit ihm bekannt) für meine Pflicht, zu einer Zeit, wo es Mode geworden ist ihn zu vernachlässigen, ihn (der persönlich mir ganz unbekannt ist) der öffentlichen Neigung und Dankbarkeit dieser großen Stadt zu empfehlen, die sich mit mir so lange der Harmonie seiner Composition erfreut hat. Cotsoni [Cuzzoni], Faustina, Cenosini [Senesino] und Farinelli haben unser Ohr ergötzt: wir liefen wie toll hinter ihnen her und gingen in Parteien für die eine oder andere Person mit einer Heftigkeit, als ob ein Staat im Brand gewesen wäre. Ihre Stimmen waren in der That dem Ohre angenehm; aber es war Händel, der die Veranlassung darbot; es war seine Composition welche unsere Seele berührte und uns zu dem Uebermaaß des Parteieifers anfeuerte. Sein Einfluß waltete, obwohl seine Macht unsichtbar blieb; und der Sänger hatte das Lob und den[140] Nutzen davon, während das wahre Verdienst, unbeachtet und fast unbelohnt, das kärgliche aber stolze Loos des vergessenen Meisters war.

Giebt es irgend eine Nation in der Welt, welcher die Macht der Musik bekannt ist, und Händel's Name nicht? Tragen wir nicht vor ganz Europa den beneideten Titel von Beschützern der Künste und Wissenschaften? und wenn man von den großen Genies spricht, welche wir entweder erzeugt oder uns zu eigen gemacht (possessed) haben, ist Händel dann jemals vergessen? Und sollen wir denn nun, nach einem Besitz von so vielen Jahren, wegen eines Mißfallens, wegen eines gemachten aber nicht gemeinten einzelnen Fehltrittes ihn so gänzlich verlassen, daß er Noth litte in einem Lande, dem er so lange diente? in einem Lande der Oeffentlichkeit und des Gemeingeistes, wo die schönen Künste so hoch geschätzt werden, wo Dankbarkeit und Belohnung das Verdienst der Künstler so bemerkenswerth begleiten, daß die großen Genies anderer Länder oft bedauert haben, nicht hier geboren zu sein? Es kann nicht sein! und wenn wir nicht für ihn sorgen wollen, so laßt uns doch an uns selber denken und bemüht sein, unsern lange besessenen Ruf in der gebildeten Welt zu bewahren; und wenn Alter oder Kränklichkeit, wenn selbst ein Stolz, der so unzertrennlich von Mannesgröße zu sein pflegt, ein Stolz welcher bei Horaz ein Exegi monumentum, bei Ovid ein Jamique opus exegi hervor brachte, ein Stolz welcher die Sphären und den Cylinder auf Archimedes' Denkmal und eine Melodie als Epitaph auf Corelli's Grabstein setzte, wenn selbst solch ein Stolz beleidigt hat, laßt es uns übersehen gleich den Flecken in der Sonne, denn obschon es Flecken sind, verdunkeln sie doch sein großes Talent nicht.

Sie werden nachgerade leicht sehen, was ich mit diesem Briefe sagen will. Ich möchte wünschen, ich könnte diese Vertheidigung mit vollkommenem Erfolge führen, und im Stande sein, diejenigen Herren, welche sich durch irgend etwas in dem Betragen dieses großen Mannes beleidigt fühlen (denn ein großer Mann in der musikalischen Welt bleibt er, was auch seine Mißgeschicke nun zu spät dagegen sagen mögen), ich möchte wünschen, sage ich, diese Männer bereden zu können, ihm wieder ihre Gunst zu schenken und ihn von der grausamen Verfolgung jener kleinen Wichte zu befreien, welche, das Mißvergnügen dieser Vornehmen benutzend, selbst die Zettel zu seinen[141] Vorstellungen wieder herunter reißen unmittelbar nachdem er sie angeklebt hat, und noch tausend andere kleine gehässige Streiche ausführen um ihm Beleidigung und Schaden zuzufügen. Ich bin überzeugt, sie werden ihm ihre Gunst wieder schenken, wenn sie die Sache ohne Vorurtheil erwägen. Aber inzwischen möge die Oeffentlichkeit Sorge tragen, daß er nicht Noth leide: dies wäre eine unverzeihliche Undankbarkeit; und da das Oratorium am nächsten Mittwoch sein letztes ist für diese Saison und vielleicht, wenn man der Nachricht Glauben schenken darf, überhaupt sein letztes in diesem Lande (and, if report be true, probably his last for ever in this country), so fülle man dieses sein letztes Haus mit einer edlen und freundlichen Freigebigkeit und zeige ihm bei seinem Abschiede, daß London, die größte und reichste Stadt der Welt, groß und reich ist an Tugend wie an Geld, und die Fehlgriffe oder selbst die Fehler eines großen Genius verzeihen und vergessen kann. [!!]

Das zur Aufführung bestimmte Werk ist sowohl der Musik wie der Poesie nach edel und hochgehend, trefflich erfunden und von großer Bedeutung. Der Tonsetzer und der Dichter gehen Hand in Hand und scheinen mit einander zu wetteifern, wer von ihnen den herrlichen Gegensatz von Frohsinn und Schwermuth, welcher das ganze Wert Allegro ed il Pensieroso durchzieht, am besten auszudrücken im Stande sei, und der glückliche Erfolg, mit welchem Hr. Händel insbesondere dieses Stück componirt hat, wird jedem klar werden, der es mit Aufmerksamkeit anhört: der beste Beweis für die Wahrheit dessen, was ich vorhin sagte, daß die Musik wirklich eine Sprache ist welche von der Seele verstanden wird, obwohl für das Ohr nur ein angenehmer Klang.

Ich wünsche herzlich, daß die Gebildeten unter seinen grollenden Freunden ihn mit ihrer Anwesenheit beehren werden, in welchem Falle ich nicht zweifle, daß er das Schicksal des Schwans haben wird, der schon unter dem Messer des Kochs noch durch die Süßigkeit seines letzten melancholisch-melodischen Gesanges gerettet wurde. Wenigstens halte ich mich dessen versichert, daß sie edelmüthig erwägen werden, wie vielfältig die Mißgeschicke sein müssen, welche das erklärte Mißfallen so vieler Herren von Rang und Einfluß (of so many Gentlemen of figure and weight) nothwendig einem Manne von[142] seiner an das öffentliche Leben gewiesenen Existenz (in his public way of life) zuziehen wird, und daß sie an den Frosch in der Fabel denken werden, welcher, während die Knaben ihn muthwillig mit Steinen warfen, in seiner heisern Stimme ausrief: ›Beste Herren, hört auf! für euch mag es Scherz sein, aber es ist Tod für mich!‹ Ich bin, Herr, Ihr sehr ergebener Diener, J.B.«75

Es ist sehr gut, daß auch diese Epistel uns erhalten worden, denn sie wirkt überzeugender, als abgeleitete Schilderungen und beleuchtet grell die damaligen Tage. Daß der Verfasser nicht in persönlicher Beziehung zu Händel gestanden haben kann, sagt uns das ganze Schreiben. Nicht einmal die musikalischen Ereignisse der letzten fünf bis sechs Jahre waren ihm gegenwärtig, selbst so allbekannte Namen wie Senesino und Cuzzoni schrieb er unrichtig, und Farinelli, den erklärten Gegner alles Händel'schen Strebens, führt er als Händel's Sänger auf! Wie sollte also der, dem die Oberfläche verborgen blieb, in die Tiefe blicken und den eigentlichen Grund der unversöhnlichen Feindschaft gegen Händel zu erkennen vermögen! So bat er denn die zürnenden »Herren von Rang und Einfluß«, den Buben zu steuern, welche die Plakate zu Händel's Aufführungen abrissen, während sie doch von eben diesen Granden angehetzt und bezahlt wurden und ihnen in den Kaffee- und Spielhäusern über die Heldenthaten Bericht erstatten mußten; so wandte er seine Ermahnungen unter den Grollenden »an die Gebildeten«, die garnicht vorhanden waren, da die ganze Opposition lediglich bestand aus Feinden wahrer Bildung, aus adligen und andern schalen Vergnüglingen, die nur durch Geburt und Geld, durch ihre große Zahl und durch die Mattherzigkeit des Mittelstandes Bedeutung erlangten, aus Menschen, die Händel nicht durch einzelne Verstöße, sondern dadurch daß er Händel war auf immer sich verfeindet hatte, bei denen alle Gründe unsers gutmüthigen Bettelbriefschreibers nur Lachen erregten. Und indem der Verfasser die Feigheit seiner eignen Seele dem von ihm vertheidigten Manne unterstellt, drückt er ihn wahrlich tiefer herab, als selbst seine Feinde bisher vermocht hatten, denen er doch immer als der unerschöpflich reiche, unbeugsam stolze Widersacher vorstand, selbst[143] im Unterliegen noch Furcht einflößend, niemals aber als ein sich überwunden bekennender, armseliger Bittsteller. Die gutgemeinte Epistel gehörte gewiß zu dem Bittersten, was Händel in dieser Zeit zu kosten bekam und konnte ihm über seine Umgebung so ziemlich die Augen öffnen. Wie ganz anders lautete noch der vorjährige Aufsatz eines R.W. über Israel! wie tief war man in einem Jahre gesunken! wie so gänzlich alle Theilnahme eben an dem Edelsten der Kunst erstorben und das Feld nunmehr allein den Verwüstern preisgegeben! Bis zu jenem Aeußersten war man nun wirklich gekommen, wo beharrlicher Kampf und unbeugsamer Widerstand gegen das Verderbliche, an sich des höchsten unvergänglichsten Preises werth, selbst auch der großen Menge als Verbrechen erschien, weil der Erfolg ausblieb: dies war daher die Linie, bei welcher angelangt Händel sein Wirken auf diesem Felde für beendet ansehen mußte. Einen Augenblick mag er erwogen haben, ob wohl in Deutschland, wo eben damals in Berlin durch Friedrich II. der Musik ein neuer Schutzort gegründet war, auch seine Kunst die rechte Heimath finden konnte; aber gar bald mußte er die Unmöglichkeit erkennen. Unserm Vaterlande war zunächst die Aufgabe gestellt, eine ganz andere Kunst zu zeitigen, als die seine war; hier fanden sich Kräfte in Fülle, die neue Saaten zur Reise brachten in mehrfach und schnell sich wiederholenden reichen Ernten, neben denen für Händel weder Raum blieb noch der Boden bereitet war. Erst nach allseitiger Ausgestaltung des in Deutschland heimisch Gewordenen bis zu völliger Erschöpfung, Ausartung und Verzerrung liegt heute als das wahrhaft Neue und Zeitgemäße die weitere Aufgabe vor, jenem heimischen Schatze nunmehr Händel's Werke beizugesellen, den großen schöpferischen Gang deutscher Tonkunst mit der vollen, verständnißinnigen und freudigen Aufnahme seiner Kunst abzuschließen und zu krönen. Dadurch erst wird sich unser musikalischer Schatz abrunden und das Gepräge einer Nationalität erhalten, deren Züge in der Tonkunst unvergänglich beharren und einmal die der gesammten Menschheit sein werden. Eine solche Besitzergreifung Händel'scher Kunst – und mit einer andern ist uns nicht geholfen, wie die verflossenen hundert Jahre gelehrt haben – kann aber zu vollem Gelingen nicht mehr ausschließlich das Werk der Künstler, sondern muß eine That der Nation sein.

Fußnoten

1 Die denkwürdigen, bisher unaufgehellten Umstände unter denen Carey's Gesang entstand, wie das Leben dieses höchst merkwürdigen Mannes, findet man jetzt ausführlich beschrieben in der Abhandlung »Henry Carey und der Ursprung des Königsgesanges God save the king« (Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. Leipzig, 1863. Band I, S. 287–407), welche überhaupt der Darstellung dieses Bandes ergänzend und erläuternd zur Seite geht und daher von den Lesern zu Rathe gezogen werden möge.


2 London Daily Post v. 24. März '38.


3 London Daily Post v. 11. April '39.


4 London Daily Post v. 15. April '38.


5 London Daily Post v. 18. u. 27. April u. 2. Mai '38.


6 The historical Register for the year 1738, vol. XXIII, enthält p. 278–95 vieles über den Gegenstand.


7 Burke, Three Letters on the proposals for peace with the regicide Directory of France. 1796. Works (Lond. 1803–27. 8. 16 vols.) VIII, 147.


8 Pope an Swift, v. 17. Mai '39. In Pope's Briefwechsel.


9 Anecdotes of Handel and Smith, p. 29.


10 London Daily Post v. 6. März '39.


11 London Daily Post v. 20. März '39.


12 London Daily Post v. 22. März '39.


13 London Daily Post v. 14. März '41.


14 Gluck, der ein ebenso bedeutendes Vermögen hinterließ und an einem Orte lebte wo selbst ein Mozart darben mußte, vermachte den Musikern nichts, und den Armen – Einen Gulden!


15 The Historical Register for the Year 1738. XXII, 261–62.


16 Mainwaring, Memoirs p. 136–37.


17 S.d. Abhandlung »Händel's Orgelbegleitung zu Saul, und die neueste englische Ausgabe dieses Oratoriums« – in den Jahrbüchern für mus. W. I, 409 ff.


18 The Oratory Magazine: Numb. III. London 8. Ohne Jahr und Verfasser; letzterer ist aber in dem Werke oft genannt, und aus p. 80 ersieht man, daß diese Nummer im Jahre 1748 erschien.


19 Daily Journal v. 18. Nov. '32.


20 Daily Journal v. 17. Nov. '33.


21 London Daily Post v. 18. Nov. '38.


22 Das Bruchstück Saul ist gedruckt in Hill's dramatic Works II, 177–185.


23 Davideis, a sacred poem of the troubles of David. London, fol. 1668.


24

Envy at last crawls forth from that dire throng,

Of all the direful'st; her black locks hung long,

Attir'd with curling Serpents her pale skin

Was almost dropt from the sharp bones within,

And at her breast stuck Vipers which did prey

Upon her panting heart, both night and day

Sucking black bloud from thence, which to repair

Both night and day they left fresh poysons there.

Her garments were deep stain'd in humane gore,

And torn by her own hands, in which she bore.

A knotted whip, and bowl, that to the brim

Did with green gall, and juice of wormwood swim.

With which when she was drunk, she furious grew

And lasht herself; thus from th'accursed crew,

Envy, the worst of Fiends, herself presents,

Envy, goodonly when she 'herself torments.

Spend not, great king, thy precious rage (said she)


u.s.w., folgt eine lange Anrede bei Nacht an den träumenden König Saul. Cowley, Davideis p. 7.


25 Wir hätten in unsrer Ausgabe des Saul S. 215 u.f., um aller Mißdeutung vorzubeugen, die Vorzeichnung »David« lieber ganz weglassen und nur die Gesangstimme (Tenor, Sopran u.s.w.) bemerken sollen; doch wird für den, der die hier gegebenen Erläuterungen beachtet, kein Irrthum möglich sein.


26 Als Fortsetzung der in den Chor auslaufenden Arie müßte es natürlich ebenfalls im Sopran stehen. Dies war aber anfangs nicht der Fall, das Solo bewegte sich, wie die ganze übrige Partie David's, in der Lage des Contraalt, auch noch bei der ersten Umarbeitung, und ist in dieser Gestalt in den früheren Ausgaben gedruckt. Aus der Bemerkung im Original »Sigra. Marches« (Marchesina) ist zu ersehen, daß es Händel's Absicht war, erst mit diesem Solo David (und zwar im Alt) eintreten zu lassen; aber bei der Umarbeitung eines großen Theiles der vorauf gehenden Musik gerieth die Arie »In süßer Harmonie« unvermuthet in eine Verbindung, bei welcher die Trennung des Chorsolo von der Arie nicht mehr natürlich erschien. Anfangs ließ Händel es aber unverändert stehen, so daß David von dem ganzen Gesange nur dieses Solo, die unvergleichlich zarte Klage um den gefallenen Freund, selbst vortrug und wohl bei »Oh fatal day« (S. 227, T. 1) mit dem Sopran zugleich einsetzte; doch später, vielleicht schon nach den ersten Aufführungen, suchte er eine engere Verbindung oder Einheit zwischen Arie und Solo herzustellen, denn in dem Handexemplare sind mehrere Stellen von ihm ohne Aenderung der Harmonie in den Sopran umgeschrieben, auch zwei Takte, die früher Pausen hatten, erst jetzt mit einer ergreifend schönen Melodie versehen (S. 229, T. 3–5) und dazu bemerkt »alter'd«, geändert, wie man es jetzt bei uns gedruckt findet, wo bei doppelten Noten die unteren den ursprünglichen Alt, die oberen den später eingefügten Sopran bezeichnen. Weil hieraus aber der Mißstand sich ergiebt, David's Partie, die sich bisher im Alt bewegte, nun am Schlusse des Oratoriums in einen wenn auch eben nicht sehr hohen Sopran hinauf zu rücken, und Händel's Fingerzeige hier nicht für alle Fälle sicher ausreichen, so muß es uns da, wo ein Alt oder zweiter Sopran zur Bewältigung der Arie »In süßer Harmonie« nicht ausreicht, freistehen, dieselbe einem Sopran oder auch einem Tenor zu überweisen und David erst bei dem Chorsolo, d.h. zugleich mit dem Chore S. 227, T. 1 beginnen zu lassen, womit er seinen Vorsänger ablösen und den Gesang im Bunde mit dem Chore und in der ursprünglichen, sehr melodischen Alt-Lage zu Ende führen würde.


27 Ewald, Geschichte des Volkes Israel II, 501 (der 1. Ausg. v.J. 1845).


28 Die Arie »Ye men of, Judah« ist interessant namentlich wegen der Art ihrer Entstehung, die sich nach dem Original und nun auch nach unserer Ausgabe genau verfolgen läßt. Der nie zur Aufführung gelangte und bei uns im Anhang S. 284 gedruckte erste Entwurf der Zornarie David's »Impious wretch« enthält die Keime zu einigen Gedanken, welche Händel darauf bei denselben Worten in wesentlich neuer Verarbeitung wieder anbrachte, und außerdem den größten Theil der Musik zu dieser Schlußarie des Priesters, ist aber steifer und weniger reich und angemessen ausgebildet. Die Form, welche die Musik in jenem ersten Entwurfe zeigt, scheint mir ziemlich sicher auf Entlehnung und probirendes Anpassen eines fremden Satzes hin zu deuten; Händel's Art zu arbeiten ersehen wir also hier auf's neue an einem zwar kleinen und wenig bedeutenden, aber doch sehr anschaulichen Beispiele.


29 Die Vorschrift »Allegro«, welche überhaupt bei Händel selten eine Bedeutung hat die mit dem Metronom zu bestimmen wäre, will namentlich in diesem Falle nichts besagen als: angemessene Lebhaftigkeit der Bewegung.


30 2. Samuelis 2, 1–4. Vgl. Ewald, Gesch. d. V. Israel II, 569.


31 Will man dagegen ein Beispiel sehen, wie unsere Zeit, die sich ihrer geschichtlichen Einsicht laut und zum Theil auch mit Recht zu rühmen pflegt, doch vor der Vergangenheit so beschämend tief steht, wo es sich handelt einen geschichtlichen Vorgang mit historischer Treue und in historischem Geiste durch die Kunst zu beleben: so vergleiche man mit unserem anspruchslosen Oratorium einmal eine anspruchsvolle »Dichtung« unserer Tage: »Saul. Ein Drama von J.G. Fischer. Stuttg., Cotta. 1862.« Hier beginnt die weitschichtige Handlung schon mit dem Kriege gegen die Amalekiter, nicht ohne Absicht, denn die bewegende Macht der ganzen betreffenden Geschichte ist auch nach diesem Dramatiker nichts anderes und nichts höheres als: Befehdung von Königthum und Priesterthum. Daß der größte Kenner dieser Geschichte, Ewald, den Samuel mit Luther verglich (Gesch. d. V. Israel II, 431–32), also mit einem Helden der gleicherweise für Religion, für Volksthum und für Geistesfreiheit wirkte, und dem er an Charaktergröße überlegen sein dürfte, wie er es war in glücklicher Begründung dessen was seinem Volke dauernd zum Heil gereichte; daß sich auch nicht eine Spur von Priestertrug im Bewußtsein des damaligen Israel vorfindet; daß das Volk einstimmig und fest zu Samuel stand, nicht aus einer durch lange Priesterherrschaft erzeugten Verdummung, sondern in herrlich sittlichem Bewußtsein und freiem Entschlusse für die gute Sache; daß sogar schon der nächste Mann nach Saul, David, in Samuel's Fußtapfen einlenkend Priester- und Königthum versöhnte, vereinigte und dadurch erst der echte Volksmann wurde, der dauerndes ja ewiges Glück begründete – womit hier so deutlich wie möglich Weg und Wahrheit der Geschichte gewiesen ist: alles das muß für heutige Dichter schier unfaßbar sein, denn das Höchste wozu sie sich erheben können, sobald ihnen in der Geschichte etwas begegnet wo priesterliche und königliche Gewalten auf einander stoßen, ist – mittelalterliche rohe Rauferei zwischen Papst und Kaiser! Die Unfähigkeit lenkt allerdings immer mit Vergnügen und mit einer gewissen Nothwendigkeit in verkehrte Pfade ein, weil es ihr dann leichter wird, die Beurtheiler durch eine zur Schau getragene Originalität irre zu führen – wie obiges Drama, eine auf dem Grunde herrschender niedriger Zeitansichten mit mehr oder weniger Geschick durchgeführte Täuschung, denn auch von mehreren Seiten als »eine nicht ohne Größe des Plans angelegte Dichtung« bezeichnet worden ist. Dringt endlich, wie sicher zu hoffen, die geschichtliche Wahrheit wieder allgemein durch, so muß dies namentlich auch dem Verständniß der geschichtstreuen Oratorien zu gute kommen.


32 London Daily Post v. 9. Jan. 1738 (d.i. 1739).


33 This day is publ., Saul, an Oratorio, or Sacred Drama. As it is performed at the King's Theatre in the Hay-Market. Set to Musick by George-Frederic Handel, Esq. [folgt ein griech. und ein latein. Motto.] Printed for Tho. Wood etc. Lond. Daily Post v. 3. Febr. 38/39.

»This day is publ., pr. 2 s. 6 d. The celebrated Airs in Score of the Oratorio of Saul. By Mr. Handel. J. Walsh.« Lond. Daily Post v. 12. Febr. 38/39. Eine zweite Sammlung zu demselben Preise erschien bald darauf, und beide wurden dann zu einer einzigen Sammlung vereint unter dem Titel »The most celebrated Songs in the Oratorio call'd Saul compos'd by Mr. Handel. London... J. Walsh... No. 545«.


34 The Autobiography and Correspondence of Mary Granville, Mrs. Delany. Edited by the R.H. Lady Llanover. (London: R. Bentley. Ist. series: 3 vols. 1861. 2d. series: 3 vols. 1862. 6 Bde. in gr. 8 mit vielen Vildnissen. Pr. £ 5.) Brief an ihre Schwester Anna v. 1. März 1750. II, 541.


35

After hearing (last Spring) Mr. HANDEL'sOratorio

of SAUL.


The doctrin taught us by the Samian *Sage,

*Pythagoras.

That Spirits transmigate from age to age;

Successively through various bodies glide,

(The Soul the same, the Frame diversify'd;)

At last, tho' long exploded, credit gains;

For lo! convinc'd by sweetly-magic strains,

With extasy th'opinion we allow,

Since, – proof that Orpheus was, is Handel now.

Too faint's the hint; the Muse her voice must raise,

And, from a nobler source, our Lyrist praise.

Ye purer Minds, who glow with sacred fire;

Who, to th'eternal throne, in thought aspire;

For dissolution pant, and think each day.

An age, till you the aetherial climes survey;

Who long to hear the Cherubs mingled voice

Exalt in Hymns, and bid the Stars rejoice;

Bid universal Nature raise the theme

To boundless Goodness, Majesty supreme:

O listen to the warblings of his Shell,

Whose wondrous power can fiercest Grief dispell!

O to his Sounds be due attention given,

Sweet antepast of Harmony in Heaven!


Daily Gazetteer v. 13. März 1745.


36 Malcolm (Manners and Customs of London during the eighteenth century. Lond. 1808. 4. p. 361) hat die irrthümliche Angabe verbreitet, daß wöchentlich zwei Aufführungen stattfanden; dies war aber erst in späteren Jahren der Fall, als die Oratorien auf die Fastenzeit beschränkt wurden. – Die erste Nachricht von den diesjährigen Aufführungen bringt die »Tagespost« v. 3. Januar: »We hear, that on Tuesday se'ennight the King's Theatre will be open'd with a new Oratorio, compos'd by Mr. Handel, call'd SAUL: Und that at the same Theatre there will be a Masquerade on Thursday the 25 Jnst.« Lond. Daily Post, Wednesday v. 3. Jan. 38/39.


37 »At the King's Theatre in the Hay-Market... will be reviv'd an Oratorio, call'd Il Trionfo del Tempo & della Verità, with several Concertos on the Organ and other Instruments«. Lond. Daily Post v. 3. März 38/39.


38 Diesen Zug der Hymne hat man überall verspürt und in Deutschland bekanntlich zu einem »Passions-Oratorium« ausgemünzt. Vgl. II, 445. Von dem Begräbniß-Anthem sagt Reichardt: »Das genaue Studium dieses einen Werks könnte ein ächtes Genie zum Componisten bilden«. (Studien für Tonkünstler und Musikfreunde. 1792. S. 76.).


39 Im Vorworte zu unserer Ausg. der Hymne (Händelges. Bd. XI) sagte ich, diese Einleitung sei zwei Jahre später entstanden, weil ich annahm, und auch noch jetzt für wahrscheinlich halte, daß sie erst 1739 kurz vor der Aufführung des Israel geschrieben wurde; statt »zwei Jahre« würde es indeß richtiger heißen »im zweiten Jahre«.


40 Israel in Aegypten. Ausg. der Händelgesellschaft 1863. Bd. XVI.


41 Nr. 5 der Sammlung. Ausg. der Händelges. II, 171–72.


42 Bei einer Aufführung zu York im August 1791 erhielt der Chor durch die Gewalt der Natur unerwartet eine neue Instrumentation. Während man den Hagelchor sang, erhob sich ein Gewittersturm wie er seit Menschengedenken kaum erlebt war, Blitze und Donner wütheten schrecklich, der Saal, dessen Fenster wegen der großen Hitze geöffnet waren, füllte sich mit blauen Flammen, was die dichtgedrängte Versammlung erblassen machte: auf diesem Feuerwagen des Himmels fuhr die majestätische Musik dahin. Der mitwirkende Sänger Kelly erzählt: »One of the most awful accompaniments to the inspired music of Handel, was furnished by the hand of Nature. On Monday night, the 15th of August, 1791, during the grand chorus,He gave them hailstones for rain‹, a storm, almost unparalleled in the memory of man, burst in all its violence over the rooms; the flashes of lightning, and the loud peals of thunder, were magnificently awful. The great room, almost crowded to suffocation, being surrounded with windows, which were opened to admit what little air there was, appeared full of blue flames; never before or since did I behold such a tremendous night, – such bursts of Heaven's artillery, and such sheets of fire, combined with the sacred words and the majestic music of the mighty master, were altogether appalling and magnificent«. Reminiscences of Michael Kelly (Lond. 1826. 8. 2 vols.) II, 7–8.


43 Wahrscheinlich nicht die in Athalia (Ausg. der Händelges. V, 125–31) gedruckte »Frühlingsglanz, so lieblich glühend« in Dmoll, sondern eine andere, bisher noch nicht wieder gedruckte in Cdur zu denselben Worten.


44 »Clara Novello sagte, sie möchte nur gelebt haben, um diese Worte zu singen; sie seien ihre höchste Erinnerung, ihr höchster Stolz.« Mittheilung K. Reinthaler's in einem interessanten Aufsatze über Israel in Aegypten, im Bremer Sonntagsblatt 1862 Nr. 49 S. 398–99. Ein ganz ähnliches, aber noch weit längeres und reicheres Chorsolo setzte er bald her nach, im J. 1739, zu dem Schlußchore der kleinen Cäcilienode »As from the pow'r of sacred lays.« Friedemann Bach grübelte über einstimmige Sätze, die so sehr alle Harmonie einschlössen, daß keine zweite Stimme dazu gesetzt werden könne. In den beiden genannten Inspirationen war das Räthsel auf die der Kunst allein würdige Art bereits gelöst, freilich nicht ergrübelt.


45 In dem angeführten gehaltvollen Aufsatze von K. Reinthaler über dieses Oratorium sucht der Verfasser die Anlage der musikalischen Formen, besonders die Mehrstimmigkeit, zu erklären indem er sagt, Händel zeichne »als musikalischer Maler den lebenden Strom der Sage. Es ist die vielstimmige Sage selbst, die leibhaftig in diesem Werk, ›Oratorium genannt‹, vor den Hörertritt.« Zu dem, was oben schon bemerkt worden, sei hier noch folgendes hinzu gefügt. Das, was in Natur und Geschichte vorhanden ist, als ein Seiendes hinzustellen, ist aller Kunst Aufgabe: die Mittel, welche anzuwenden sind, fallen aber ganz in das Gebiet jeder Kunst. Man könnte nicht von außen etwas heraus oder hinein bringen, nicht sagen, dies und jenes wird durch das und das bedingt, nicht sagen z.B. Vielstimmigkeit würde sich hier wohl durch den vielstimmigen Mund der Sage begründen lassen, denn dann wäre die Kunst nur nachzeichnend, einem (wenn auch dem herrlichsten) Dinge außer ihr unterthan ge macht, sie soll sein und ist aber darstellend, schöpferisch, frei von innen heraus ein Ganzes schaffend, dessen Maaße und Bedingungen sie rein in sich selber trägt. Die Kunst, sofern sie auf Idealität Anspruch machen will, darf daher von außen nichts weiter aufnehmen, als den Impuls zu der Aufgabe, und muß jede noch so verlockende Zumuthung, ihre Darstellungsmittel durch irgend etwas außer ihr Liegendes leiten oder bedingen zu lassen, beharrlich abweisen, denn das führt unausbleiblich zur Knechtschaft. In allen Ausartungen der Kunst kommt es freilich sehr leicht dahin, und aus verschiedenen Gründen sind derartige Ausschreitungen unserer Gegenwart besonders nahe gelegt; nirgendswo anders als hier steckt auch der böse Keim der »Programm-Musik.« Solchen Verirrungen sollte man den vollen Stolz des Musikers entgegen setzen und nur das wollen was die Kunst will.


46 In Hanover Square Rooms durch eine katholische Gesellschaft, worüber die Zeitung derselben »The Universe« v. 6. Juni '63 ausführlich berichtet unter der pomphaften Ueberschrift »Royal Favour to Catholics. Grand Concert of Church Music.« Das »große Kirchenconcert«, aus Verschiedenem gemischt, schloß würdig mit dem Marsche aus Meyerbeer's Propheten. Die »königliche Gunst gegen Katholiken« bestand darin, daß einem Musikdilettanten, der zufällig katholischer Priester ist, die Benutzung der Händel'schen Handschrift gestattet wurde!


47 »At the K.'s Th. in the Hay-Market, this day, April 4, will be perform'd a New Oratorio, call'd Israel in Egypt. With several Concertos on the Organ, and particularly a new one.« London Daily Post, Mittwoch d. 4. April '39.


48 London Evening-Post v. 3./5. April '39.


49 »Israel in Egypt... With Alterations and Additions, and the two last new Concertos on the Organ. (Being the last Time of performing it.)« – »Israel in Egypt. Which will be shortened and intermix'd with Songs. And the two last new Concertos on the Organ. (Being the last Time of performing it.)« London Daily Post v. 7. und 10. April '39.


50

»To the Author of the LONDON DAILY POST.


SIR,


Upon my arrival in Town three days ago, I was not a little surpriz'd, to find that Mr. Handel's last Oratorio, (Israel in Egypt.) which had been performed but once, was advertis'd to be for the last time on Wednesday. I was almost tempted to think that his Genius had fail'd him, but must own myself agreeably disappointed. I was not only pleas'd, but also affected by it, for I never yet met with any musical Performance, in which the Words and Sentiments were so thoroughly studied, and so clearly understood; and as the Words are taken from the Bible, they are perhaps some of the most sublime parts of it. I was indeed concern'd, that so excellent a Work of so great a Genius was neglected, for tho' it was a Polite and attentive Audience, it was not large enough I doubt to encourage him in any future Attempt. As I should be extremely sorry to be depriv'd of hearing this again, and found many of the Auditors in the same disposition; yet being afraid Mr. Handel will not undertake it without some publick encouragement, because he may think himself preeluded by his Advertisement (that it was to be the last time), I must beg leave, by your means, to convey not only my own, but the Desires of several others, that he will perform this again some thime next week.

I am, Sir,

Your very humble Servant.

A. Z


London Daily Post v. 13. April '39. »A.Z.« ist ein herkömmliches Zeichen dieser Zeitung für Briefe, die nicht mit dem Namen des Einsenders unterzeichnet sind.


51 »We are inform'd that Mr. Handel, at the desire of several Persons of Distinction, intends to perform again his last new Oratorio of Israel in Egypt, on Tuesday next the 17th Instant«. Lond. Daily Post v. 14. April '39.


52 »We hear the Prince and Princess [of Wales] will be at the King's Theatre in the Hay-Market this Evening, to see [!] Israel in Egypt.« Lond. Daily Post v. 17. April '39.


53 »This day will be perform'd the last New Oratorio, call'd Saul. And not Israel in Egypt, (as by mistake was advertised in Yesterday's Bills and Papers.) With a Concerto on the Organ, by Mr. Handel; and another on the Violin, by the famous Signor PIANTANIDA, who is just arriv'd from Abroad«.Lond. Daily Post v. 19. April '39.


54 Israel in Egypt. »(For this Day only in this Season.) With a New Concerto for several Instruments, and a Concerto on the Organ«. Lond. Daily Post v. 1. April '40.


55 London Daily Post No. 1696 v. 1. April 1740. Englisch mitgetheilt in der Beilage I.


56 Wörtlich so drückt sich John Lockman aus, im Vorworte zu dem von ihm gedichteten Operntexte Rosalinda, Lond. 1740, p. XX–XXI.


57 Einige sonstige Aufführungen Israel's während Händel's Lebzeiten gingen von Andern aus, von Hayes in Oxford, der Academy of ancient Music in London, u.s.w. Die Akademie scheint aber das Ganze nie nach der Ordnung des Componisten, sondern dasFuneral Anthem stets für sich gegeben zu haben, selbst wenn es nebst andern Theilen des Israel an demselben Abende aufgeführt wurde. Dies lehrt uns das Textbuch der ohne Zweifel frühesten Aufführung des Werkes in der Akademie vom 10. Mai '39: »The Song of Moses, and the Funeral Anthem for her late Majesty; set to Music by Mr. Handel, and performed by the Academy of Ancient Music, on Thursday, May the 10th, 1739. London: Printed in the Year MDCCXXXIX.« Demnach gaben sie das Anthem für sich und den letzten Theil des Israel ebenfalls für sich, trennten also wieder auf, was der Meister soeben erst zusammen gefügt hatte. Man muß darin eine Kritik von Seiten der Akademie, aber auch eine Gutmüthigkeit, eine seltene Unbefangenheit Händel's erblicken, die von den anspruchsvollen Bedingungen, unter welchen moderne Componisten die Aufführungen ihrer »Kunstwerke« zu erlauben pflegen, sonderbar genug absticht, denn er gab nicht nur sofort nach seiner ersten Aufführung die Partitur her, sondern gestattete den Leuten auch unbedenklich, daß sie vor ihrem Publikum damit machten was sie für gut hielten. Und wirklich waren sie hierbei glücklicher als der Autor selber, da sie die Form fanden, in welcher das Publikum sich mit dem Werke dauernd befreunden sollte. Eine Sammlung von Texten der in der Akademie für gewöhnlich aufgeführten Werke aus dem Jahre 1768(The Words of such Pieces, as are usually performed by the Academy of Ancient Music. 2d. Edition. London, 1768. 8.) bietet pp. 152–156 das Oratorium »Israel in Egypt« in zwei Theilen ganz so wie es von Anfang an gedruckt ist und seit geraumer Zeit in England aufgeführt wird. Die Akademie also hat hier den ebenso einfachen als richtigen Weg gebahnt, während die eigentlichen Oratorienaufführungen in dem Jahrzehend nach Händel sich sehr weit verirrten und geschmacklosen Unsinn zusammen stellten. Diese letzten scheint Deutschland sich zum Muster nehmen zu wollen, denn Lindpaintner hat auf ihrer Grundlage ein trauriges Machwerk geliefert und unsere Vereine führen es auf, hinterdrein aber wird Händel zurecht gesetzt, daß »sein« Werk den Erwartungen »doch nicht ganz« entsprochen habe!


58 Mrs. Delany (Mary Granville), Autobiography and Correspondence III, 415. 417.


59 Carey's Worte aus d.J. 1738: s. Jahrbücher I, 362.


60 Ehrenpforte S. 98.


61 Mattheson, Vollk. Capellmeister S. 78.


62 R. West an H. Walpole, 13. Dec. '39. Walpole,Letters ed. by Cunningham I, 31. Diese Ungunst empfanden alle musikal. Gesellschaften, namentlich auch die italienische in Haymarket, an deren Spitze sich jetzt ein junger Verschwender, Lord Middlesex, gestellt hatte. Mary Granville schreibt an Lady Throckmorton am 28. Nov. '39: »The Concerts begin next Saturday at the Haymarket. Carestini sings, Peschetti composes; the house is made up into little boxes, like the playhouses abroad; Lord Middlesex is the chief undertaker, and I believe it will prove to his cost, for Concerts will not do.« Mrs. Delany (Mary Granville), Autobiography and Correspondence II, 67.


63 »Particular care will be taken to have the House well-aired, and the passage from the Fields to the House will be cover'd for belter conviniency.« Lond. Daily Post v. 22. Nov. '39. – Am 27sten und öfter heißt es statt dessen: »Particular care will be taken to have Guards plac'd to keep all the passages clear from the Mob.« – Auch beim Verkauf der Textbücher kamen Ungebührlichkeiten vor, der Verleger J. Watt bemerkt daher bei Anzeige eines neuen Textbuches (Acis & Galatea, a pastoral Entertainment. Written by Gay. To which is added A Song for St. C.'s Day. Written by Mr. Dryden. Both set to Musick by Mr. Handel...) ausdrücklich, der Preis sei 1 Sh. und der Thürsteher nicht berechtigt mehr zu fordern. Lond. Daily Post v. 13. Dec. '39.


64 »In consideration of the weather continuing so cold, the Serenata called Acis and Galatea.... will be put off for a few nights further.« Lond. Daily Post v. 6. Febr. '40. – »Two chief Singers being taken ill, the Serenata.... must therefore be put off performing a few days longer.« L.D. Post v. 14. Febr. '40. – »Being the last time of performing it this Season...... Particular care has been taken to have the House survey'd and secured against the cold, by having curtains placed before every door, and constant fire will be kept in the House 'till the time of performance.« L.D. Post v. 21. Febr. 40. Diese Versicherung wird wiederholt so lange die Kälte anhielt.


65 Im Vorworte zu der Ausg. der Händelges. (Bd. VI. 1859.) ist gesagt »in siebzehn Tagen«, was nur für den ersten Entwurf richtig ist; die fünf zur Ausfüllung verwendeten Tage sind dort aus Versehen nicht mitgezählt.


66 Ob Jennens ihm damals auch äußerlich unter die Arme griff, ist nicht zu sagen, da weitere Nachrichten aus dieser Zeit fehlen. Wenn Dr. Gauntlett unlängst (in Notes and Queries v. 9. April '59. VII, 289 der 2. Serie) behauptete, Jennens habe den Text zu Israel arrangirt, für die Composition desselben an Händel £ 1000 gezahlt und ihn dadurch »gerettet«, so ist das eine Flunkerei, die nicht einmal in einem musikalischen Romane statthaft wäre. Der fähigste Kopf unter den musikal. Gelehrten England's sollte doch geschichtliche Wahrheit etwas mehr respectiren.


67 G. Liebert, Milton. Studien zur Geschichte des englischen Geistes. (Hamburg, 1860.) S. 34–36. Ein lebhaft geschriebenes und in einigen Partien gut ausgearbeitetes Buch, aber als Biographie ungenügend. Die ganze Unterschätzung und Mißachtung des besten Theiles der musikalischen Kunst ersehen wir auch daraus, daß Erklärer Milton's den Allegro besprechen und illustriren, ohne an die Neuschöpfung, welche er durch Händel's Musik empfing, zu denken, ja meistens ohne von ihr zu wissen.


68 Einen merkwürdig ähnlichen Zusatz erfuhr eine Dichtung des Alterthums, Hiob, welche, obwohl ebenfalls innerlich harmonisch, doch auch ein zwiespältiges Aeußere zeigte, das ein späterer Dichter nun durch die Nachreden Elihu's (von Kap. 32 an) auszugleichen suchte. Milton's und Jennens' Gedichte, im Alterthum geschrieben, würden sicherlich wie das Buch Hiob mit der Zeit zu einem Werke vereinigt worden sein.


69 Kelly, Reminiscences I, 325–26. Der große Sänger Harrison war Arzt und derselbe, welchem wir als Hausarzt von Händel's Schüler Schmidt in den Jahrbüchern I, 374–75 begegnen.


70 Zwischen der Arie und diesem Chore steht in unserer Ausgabe S. 135 noch ein Sopransolo über das Chormotiv, wie Händel es anfangs als Einleitung zu demselben setzte. Es ist aber bei den Aufführungen seit 1741 von ihm weggelassen und hier nur gegeben, um den ursprünglichen Zusammenhang der Composition zu veranschaulichen, nicht um bei öffentlichen Aufführungen gesungen zu werden. Mit der das. S. 133 angedeuteten freien Orgelfuge vor der Arie wird man bei Aufführungen ebenfalls wenig anzufangen wissen; doch als von Händel herrührend und als ein Zeichen, daß er hier mehrmals eine extemporirte Fuge vortrug, hat die Bemerkung ihren Werth.


71 »Never performed before. At the Theatre-Royal in Lincoln's-Inn Fields, Wednesday next, will be perform'd L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato. With two new Concertos for several Instruments, And a new Concerto on the Organ.« Lond. Daily Post seit dem 22. Febr. '40.


72 »This day is publ. Songs in L'Allegro ed il Penseroso. J. Walsh.« Lond. D. Post v. 15. März '40. Der Preis war 4 Sh., wie am 25sten gesagt wird. – »The second Collection of Songs in L'Allegro... pr. 3 s.« wird das am 7. Mai angezeigt, und am 13. Mai das Ganze als »compleat« d.h. beide Sammlungen zu einer einzigen verschmolzen. Obwohl die Gesänge aus allen drei Theilen darin enthalten waren, wurde der Moderato auf dem Titel doch garnicht erwähnt, sondern es hieß nur »Songs in L'Allegro ed il Penseroso. The Words taken from Milton. Set to Musick by Mr. Handel.« Das Werk muß einen großen Absatz gehabt haben, denn es sind mehrere, in Kleinigkeiten abweichende Ausgaben davon vorhanden.


73

»To Mr. HANDEL,

on hearingAlexander's feast‹, ›L'Allegro, ed il Penseroso‹, etc.


If ever Arion's music calm'd the floods,

And Orpheus ever drew the dancing woods;

Why do not British trees and forest throng

To hear the sweeter notes of Handel'ssong?

This does the falsehood of the fable prove,

Or seas and woods, when Handel harps, would move.

If music was to touch the heart design'd,

To ease the pain'd, or charm the chearful mind;

And has the ear in this no other part,

Than as it opes a passage to the heart;

How comes it we those artless masters bear,

Who slight the heart, and only court the ear?

And when they use a finer term, they cry

'T is air, and into air they let it fly.

But Handel's harmony affects the soul,

To sooth by sweetness, or by force controul;

And with like sounds as tune the rolling spheres,

So tunes the mind, that ex'ry sense has ears.

When jaundice jealousy, and carking care,

Or tyrant pride, or homicide despair,

The soul as on a rack in torture keep,

Those monsters Handel's music lulls to sleep.

How, when he strikes the keys, do we rejoice!

Or when he fills a thousand tubes with voice,

Or gives his lessons to the speaking string,

And some to breathe the flute, and some to sing;

To sound the trumpet, or the horn to swell,

Or brazen cylinder to speak compel;

His art so modulates the sounds in all,

Our passions, as he pleases, rise and fall;

Their hold of us, at his command they quit,

And to his pow'r with pride and joy submit.

Thou, sovereign of the lyre, dost so excel,

Who against thee, against thy art rebel.

But uncontested is in song thy sway;

Thee all the nations where 'tis known obey:

E'en Italy, who long usurp'd the lyre,

Is proud to learn thy precepts and admire.

What harmony she had thou thence didst bring

And imp'd thy genius with a stronger wing;

To form thee, talent, travel, art, combine,

And all the powers of music now are thine.

G.O.«


Gentleman's Magazine, Mai 1740. X, 254.


74 » / This being the last time of performing, many persons of quality and others, are pleas'd to make great demands for box tickets, which encourages me (and hope will give no offence) to put the Pit and Boxes together, at half a guinea each. First Gallery 5 s. Second Gallery 3 s.« London Daily Post v. 8. April (u. schon einige Tage zuvor) 1741.


75 London Daily Post Nr. 2012 v. 4. April '41.

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 3, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1867.
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