1. Name und Familie.

Händel schrieb seinen Namen in Deutschland von Anfang an so wie wir ihn jetzt allgemein schreiben, aber in Italien und mitunter später bei italienischen Compositionen Hendel, und in England sowie bei englischen und französischen Briefen Handel. Die Schreibart Händel war schon seinen Eltern geläufig als ein Unterscheidungszeichen von der noch jetzt in Halle vorhandenen Nebenlinie Hendel. Die gewöhnliche Annahme, erst aus dem englischen Handel sei unser Händel entstanden, ist also nicht richtig. »Im Orch. II stehet dieser Name loco quarto, weil er damals mit einem e geschrieben wurde; da aber nachdem ein a daraus geworden ist, habe ihn loco tertio setzen müssen« – sagt Händel's Zeitgenosse Mattheson im Jahre 17251, hinweisend auf das sieben Jahre vorher von ihm herausgegebene »Beschützte Orchestre.« Diese bestimmte, wiederholt von ihm ausgesprochene Behauptung wird den Irrthum veranlaßt haben. Die wirre Orthographie der damaligen Zeit brachte ein Dutzend und mehr abweichende Schreibarten zuwege: Händel Hendel Händeler Hendeler Händtler Hendtler – Handel Haendel Hendel Handell Hendall Hendell Hondel Handle. Das Wort Händeler in den Halle'schen Urkunden offenbart die ursprüngliche Bedeutung dieses Namens; es kann für uns natürlich nicht weiter maßgebend sein, sonst müßten wir jetzt Händler sprechen und schreiben.[3]

Das Geschlecht des großen Mannes hat der verstorbene Förstemann2 bis zu dem Großvater hinauf verfolgen können. Dieser, der Kupferschmiedemeister Valentin Händel, über den schon Olearius3 das Nöthige mitgetheilt hat, erscheint hiernach als der Stammvater. Er wurde im Jahre 1582 zu Breslau geboren, kam auf seiner Wanderung nach Halle und erwarb sich hier 1609 das Bürgerrecht; verheirathet war er seit 1608 mit Anna Beichling (1586–1670), einem Mädchen seines Standes, der Tochter des Kupferschmiedemeisters Samuel Beichling zu Eisleben. Seine Vorfahren und mehrere seiner Nachkommen nährten sich von demselben Geschäfte. Als er am 20. August 1636 im 54. Lebensjahre starb, hinterließ er an Kindern eine verheirathete Tochter und drei Söhne.

Während Valentin und Christoph, die beiden ältesten, bei dem Gewerbe des Vaters blieben, schlug der im September 1622 geborne Georg, unseres Händel's Vater, eine andere Richtung ein. Er wurde Barbier und Wundarzt, wählte also zu seiner Berufsthätigkeit ein Mittelding zwischen Wissenschaft, Handwerk und Kunst. Den Anfang hierin machte er gewiß als einfacher Barbier, und seine erste bürgerliche Stellung begründete er sich durch eine frühzeitige Heirath. Am 15. April 1639 starb der Halle'sche Barbier Christoph Oettinger, hinterlassend eine Wittwe mit der er erst seit 41/2, Jahren verbunden war. Vier Jahre später, am 20. Februar 1643, heirathete Georg Händel diese Wittwe und erreichte dadurch, daß er schon jetzt nach kaum zurückgelegtem zwanzigsten Lebensjahre als »Meister Görge« in die Bürgerrollen der Stadt eingezeichnet wurde. Die Vermuthung liegt nahe, Wittwe Anna Oettinger habe durch Gesellen das Geschäft ihres Mannes fortgesetzt, Georg Händel sei noch von Oettinger selber in die Lehre genommen worden, dann der Frau untergeben gewesen, bis er sich mit ihr ehelich verband. Sie war ihm an Alter zehn Jahre überlegen. In dieser Ehe wurden ihm sechs Kinder geboren, drei Söhne und drei Töchter, von denen aber[4] nur das erste und das fünfte Kind, Dorothea Elisabeth und Karl, das Geschlecht fortpflanzten.

Meister Görge blieb nicht im Niedrigen sitzen, sondern strebte rüstig aufwärts. Einen bedeutenden äußeren Erfolg seiner Geschicklichkeit errang er schon 1652, da er zum Chirurgen des Amtes Giebichenstein ernannt wurde. Wann er weiter zum fürstlich sächsischen (und churfürstlich brandenburgischen) geheimen Kammerdiener und Leibchirurgen zu Halle aufrückte, war nicht zu ermitteln; jedenfalls vor 1674.

Am 9. October 1682 starb seine Ehefrau Anna im 72. Lebensjahre. Georg Händel zählte schon zweiundsechzig, dennoch schritt er zur zweiten Ehe. Er erwählte sich Dorothea, die Tochter des Pastor Georg Tauft zu Giebichenstein, dem er lange bekannt und wahrscheinlich auch gut befreundet war; ebenfalls kannte er die Jungfrau seit vielen Jahren. Schon am 23. April 1683 war die Hochzeit, und der alte Pastor schrieb ganz vergnügt in sein Kirchenbuch:


»Der Edele, wol Ehrenveste, grosachtbare und kunstberühmte Hr. Georg Hendel, Churfürstl. Brandenburg. wolbestalter Kammerdiener mit Jungfer Dorotheen, meiner Tochter, den 23. Aprilis zu Giebichenstein.«


Schloß und Dorf Giebichenstein an der Saale, im Norden von Halle gelegen und damals eine viertel Stunde von dieser Stadt entfernt, ist jetzt fast ganz mit derselben verbunden und nach und nach zu einem reizenden Vergnügungsorte der Hallenser umgeschaffen. Von der alten Kirche zu St. Bartholomäus ist der Thurm erhalten, alles Uebrige aber mußte um 1740 einem Neubau Platz machen. Hier wirkte Georg Tauft von 1654 bis zu seinem Tode 1685 als der siebente evangelische Prediger an dieser Kirche.4 Vorher war er zu Neuendorff, und von 1648 bis 1654 zu Dießkau, in einem Dorfe welches eine kleine Meile von Halle an der alten Leipziger Landstraße liegt.5

Dorothea Tauft sollte Händel's Mutter werden. Weil[5] ich so glücklich war noch ein Exemplar des Leichen-Sermons zu finden, der zu ihrem Andenken gehalten und auf Kosten ihres großen Sohnes gedruckt wurde, so kann ich auch über sie und ihre Eltern alles mittheilen was man nur wünschen mag. Lasse aber die Memoria Defunctae, diese Urchronik der Händelschen Familie, selbst reden, da sie uns den protestantisch frommen Sinn und die altehrwürdigen Sitten derselben besser als jegliche Beschreibung veranschaulicht. Es heißt dort:

»Sie erblickte das Licht dieser Welt zum erstenmal im Jahr Christi 1651 den 8. Febr. st.v. [nach dem alten Kalender] zu Dießkau. Ihr Herr Vater war Tit. Herr George Tauft, wohlverdienter Pastor zu besagtem Dießkau, der aber nachhero von der damahligen Hochfürstl. Herrschaft zum Diener des göttlichen Worts bey der Gemeinde zu Giebichenstein und Crotwitz ordentlich vociret worden. Ihre Frau Mutter ist gewesen Frau Dorothea, eine gebohrne Cunoin, Tit. Herrn Johann Christoph Cunoes Not. Publ. und Arendatoris des Amts Beesen, wie auch hernachmahls wohlbestalten Ober-Bornmeisters alhier, eheleibliche Tochter. Der Herr Groß-Vater, von väterlicher Seite, war Herr Johann Tauft, welcher bey den damahligen Religions-Troubeln und harten Verfolgung der Augspurgischen Confessions-Verwandten [um 1625], der reinen Evangelischen Wahrheit zur Liebe, aus dem Königreich Böhmen entwichen, alle seine Güter nach der Vorschrift Christi Matth. XIX, 29. freywillig verlassen, und lieber als ein privatus allhier zu Halle, als in seinem Vaterlande in gutem Ansehen und großem Vermögen leben wollen; welches veste Vertrauen auch der Höchste ihm reichlich vergolten. Die Frau Groß-Mutter, mütterlicher Seiten, ist gewesen Frau Catharina, gebohrne Oleariin, des Tit. theuren Herrn Johann Olearii S.S. Theol. Doctoris Superintendentis, wie auch Ober-Pfarrers und Pastoris bey der Kirchen zu U.L. Frauen eheleibliche Tochter.«

»Sie zehlete dis unter die besonderen Wohlthaten, welche Ihr GOtt erwiesen, daß Sie aus priesterlichen Geschlechte herstamme und einen frommen Vater gehabt, welcher durch einen gerechten Eyffer vor die wahre Religion in die Fußstapffen seines lieben Vaters getreten. Von mütterlicher Seite her, konte Sie sich rühmen, daß Sie[6] mit dem gesegneten Stamm derer um die Kirche Christi, besonders an diesem Orte, hochverdienten Olearien, genau verwand. Dis gereichet Ihr aber zu noch mehrern Ruhm, daß Sie denen Tugenden derer Eltern und Groß-Eltern zu folgen sich ernstlich angelegen seyn ließ.«

»Vorerwehnte fromme Eltern liessen, so viel an Ihnen war, nichts mangeln, was eine GOtt und Men schen wohlgefällige Aufferziehung erforderte: dahero Dero Herr Vater, als er einen aufgeweckten Kopf und ein gut Gedächtniß, womit GOtt Sie vor vielen andern ihres Geschlechts begabet, an seinem Kinde gewahr worden, es bey der Information privat-Praeceptorum nicht bloß bewenden ließ, sondern, so viel seine Amts-Verrichtungen es verstatten wolten, selbst Hand anlegte, und Sie so wohl im Christenthum vester zu gründen, als auch das H. Bibel-Buch bekannt zu machen, bemühet war; welche Arbeit der HErr auch dergestalt gesegnet, daß Sie bey mehrern Jahren, ja die gantze Zeit ihres Lebens, aus diesem in ihrer Jugend eingesamleten Schatz der besten Kern-Sprüche einen Vorrath über den andern zu ihrer eigenen und anderer Erbauung herausnehmen können. Diese ihre Christliche Aufführung und übrige angenehme Gemüths- und Leibes-Gaben, nebst vollkommener Wissenschaft einer Haushaltung vorzustehen, bewogen, bey ihren mannbaren Jahren, viele Gemüther, um eine eheliche Verbindung mit Ihr, bey ihren Eltern anzusuchen. Ob nun wohl diese einer glücklichen Veränderung niemahlen entgegen, vielmehr ihre Versorgung wünschten, so war Sie doch hierzu, aus Liebe zu Denselben, welche Sie bey ihren hohen Jahren, (zumahlen den Herrn Vater, nachdem Derselbe durch den Todt der Frau Mutter Anno 1681 in den Witwer-Standt gesetzet,) zu verlassen, Sie wider die kindliche Pflicht zu seyn hielte, auf keine Art zu bringen; ja die Liebe gegen ihren alten und wegen eines harten Falls elend gewordenen Herrn Vater war so groß, daß Sie, bey damals grassirender Contagion, ihr eigenes Leben (für welches doch der Herr Vater gesorget und seine Tochter anderswo hingebracht) nicht schonete, vielmehr ihn, da die Pfarr-Wohnung zu Giebichenstein bereits starck inficiret, nicht unbesuchet gelassen, noch erwogen, daß der Todt, so ihre Jungfer Schwester, ältesten Herrn Bruder, als Adjunctum seines Herrn Vaters, und[7] dessen Eheliebste durch diese Seuche dahin gerissen, auch ihrer daselbsten warten möchte. Vielmehr blieb sie bey Leistung ihrer kindlichen Pflicht unerschrocken und getrost, indem sie wuste, daß GOtt in diesen trübseeligen Zeiten Sie erhalten, und auch vom Tode erretten könne, wie denn unsere Selige zum Preise GOttes, daß sie seines allmächtigen Schutzes damals an ihr erfahren, öffters zu erzehlen pflegte. Als aber solche Plage hinwieder gäntzlich cessiret, und ihr alter Herr Vater, durch eine anderweitige Adjunction ihres jüngsten Herrn Bruders, in etwas, bey seinen nunmehr beschwerlich gewordenen Amts-Verrichtungen, soulagiret; vermochte die Seelige der weisen Führung des Höchsten und dem vielen Zureden ihres Herrn Vaters auch andrer guten Freunde nicht länger zu widerstehen, und resolvirte sich, nach vorhergegangenem fleissigen Gebet, in dem Namen GOttes, mit dem um Sie anhaltenden Herrn George Händeln, Sr. Hochfürstl. Durchl. HerrnAugusti, Hertzoges zu Sachsen und Postulirten Administratoris des Primats-Ertz-Stiffts Magdeburg, wohlbestalten Geheimten Cammer-Diener in ein Christliches Ehe-Verbindniß einzulassen, welches auch kurtz darauf zu Giebichenstein an H. Stätte, durch priesterliche Copulation, die ihr Herr Vater zu seinem höchsten Vergnügen noch selbst verrichten konnte, am Tage Georgii, war der 23. April des 1683. Jahres, vollzogen wurde.«

Wer diese Mittheilungen aufmerksam liest, der wird leicht bemerken, daß alle hervorstechenden Züge der Mutter bei dem Sohne wieder zu Tage kommen. Den hellen Geist, die tiefe Frömmigkeit und Bibelkenntniß, die starke Liebe zu den Eltern, die geringe Neigung zur Heirath eben in der Blüthe der Jugend, die Tüchtigkeit in dem gesammten Tagewerk, den Ernst und die Sittsamkeit: das alles hat sie mit ihm gemein, hat sie ihm eingeboren und eingebildet. Jungfrau Dorothea stand im dreiunddreißigsten Lebensjahre, der erwählte Gemahl im dreiundsechzigsten, im Greisenalter; über die Zeit, welche man die besten Jahre nennt, war auch sie schon hinweg. Wohin man sieht, überall Gesundheit und züchtig ehrbarer Sinn, aber nirgends eine Spur von hervorstechender Körperschönheit, wie sie sonst in den nächsten Geschlechtern nach dem 30jährigen Kriege so auffallend häufig erscheint, noch Werthlegung darauf. Auch das ist[8] eine Eigenthümlichkeit, die sich beim Sohne wiederfindet. Man sieht also, daß einige Grundlinien für seinen Charakter schon hier gezogen waren.

»Wie nun Ehen,« heißt es in dem Lebensbericht der Mutter weiter, »die auf kein vergängliches Interesse, sondern vielmehr auf Gleichheit der Gemüther und wahre Tugend gegründet, nicht anders als wohl gerathen können; also hat auch unsere Seelige mit diesem ihrem Ehe-Herrn bis an den Tag seines Todes, jederzeit ruhig, vergnügt und Christ-friedlich gelebet, auch mit ihm gezeuget Vier Kinder: als zwo Söhne, davon aber der erstere gleich in der Stunde seiner GeburtAo. 1684 hinwieder seelig verstorben; dessen Verlust aber der Grundgütige GOtt, zu der Eltern und des Herrn Groß-Vaters Freude, hinwieder ersetzte durch Schenkung des andern Sohnes, nemlich


Georgen Friederichen, gebohren den 23. Febr. Anno 1685.....


Und zwo Töchter, namentlich


I. Dorothea Sophia, so gebohren den 6. Octobr. Ao. 1687.....

II. Johanna Christiana, gebohren Ao. 1690 den 10. Jan.«

Das Söhnlein wurde nach damaliger Sitte bald, und zwar schon am folgenden Tage getauft. Auf nachstehende Weise ist das Ereigniß in das Kirchenbuch eingetragen:


»1685.

Die Woche Sexagesimae.


Febr. Vater Täuffling. Pathen.


S 24 Hr. Georg Georg Herr Philipp Fehrsdorff,

Händel,Friederich Hochfl. Sächs. Verwalter

Cammerdiener zu Langendorff,

und Jungfer Anna, Herrn Georg

AmtsTauftens, gewesenen Pfarrers

Chirurgus. zum Giebichenstein S.

nachgel. Jgfr.Tochter, und

Hr. Zacharias Kleinhempel,

Amtsbarbier auffm

Neumarckt allhier.«6
[9]

S bezeichnet den Dienstag, also ist Händel am Montage geboren. Von den Pathen war Fehrsdorff oder Pferstorff sein Schwager, Kleinhempel ebenfalls, Anna Tauft war seine Tante, Schwester der Mutter. Die Namen Georg Friedrich hat er also nicht von seinen Pathen erhalten. Man sieht auch, daß der alte Pastor Georg Tauft, der Großvater, nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er war vor einigen Wochen gestorben. Die Worte des Leichenredners, auch er habe über den zweiten Sohn seiner Tochter Freude empfunden, sind daher etwas zu weit gegriffen. Aus Trauer über den Großvater konnte sich bei der Taufe Georg Friedrich's wohl nur eine gedämpfte Freude kund geben.

Bisher galt Händel als der erstgeborne und einzige Sohn zweiter Ehe, von einem älteren Bruder wußte auch Förstemann nichts. Und sehr sonderbar hat man über Tag und Jahr seiner Geburt hin und her gerathen. Allein richtig ist die Angabe bei Walther7, dem ersten welcher von Händel's Leben öffentlich etwas bekannt machte, und darnach bei Dreyhaupt8, der hier aber keineswegs, wie Förstemann meint, selbständig forschte, sondern einfach das musikalische Lexicon ausschrieb. Acht Jahre nach Walther verwirrte Mattheson das Jahr, indem er auf 1684 hinwies9; und dann 1761 aus reiner Fahrlässigkeit auch den Geburtstag, da er mit Mainwaring10 diesen auf den 24. Hornung setzte.11 Durch die Inschrift auf Händel's Denkmal in der Westmünsterabtei wurden diese Irrthümer sanctionirt. Seit dieser Zeit gerieth die Zeitangabe in Händel's Leben vollständig in Verwirrung. Burney vermißt Genauigkeit und Uebereinstimmung bei den Nachrichten über Händel's Jugend, schließt sich aber den genannten Gewährsmännern einfach an indem er meint, darüber mindestens sei man einig, daß er zu Halle am[10] 24. Februar 1684 geboren wurde.12 Eschenburg, Burney's Uebersetzer, kann sich hierbei nicht beruhigen, da er Walther's abweichende Angabe gewahr wird, schreibt nach Halle, und verkündet die glückliche Entdeckung: »aus dem Kirchenbuche der lieben Frauenkirche zu Halle, und dem mir von dem würdigen Prediger an derselben, Herr Pockels, mitgetheilten Auszuge daraus, ergiebt sich itzt der Umstand mit Gewißheit, daß Händel 1685 den 24. Februar geboren sey.«13 Auf diese Weise war Burney berichtigt und Walther berichtigt, war den Engländern bewiesen, daß sie mit der großen Feier des Jubiläums um ein Jahr zu früh gekommen, und überhaupt alles in Ordnung gebracht. Einige Zeit nachher hieß es plötzlich wieder, Händel sei schon 1684 in die Welt getreten: man vergleiche die einschlagende musikalische Literatur der letzten fünfzig Jahre. Förstemann schreibt zum zweiten Male das Kirchenbuch aus, zieht das Jahr 1685 wieder hervor, muß aber wegen des Geburtstages im Ungewissen bleiben, da im Kirchenbuche nur gesagt ist: getauft am 24. Februar. Eschenburg's Entdeckung ist zur Hälfte wieder dahin. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit glaubt Förstemann den Tag der Geburt auf den 23. legen zu dürfen, weil damals noch die Sitte bestanden, das Kindlein gleich am andern (oder dritten) Tage zu taufen: welche Vermuthung C. v. Winterfeld indeß nicht abhalten konnte, wieder den 24. als Geburtstag zu bezeichnen.14 Mutter und nächste Verwandte werden es doch wohl gewußt haben. Daher denke ich, in diesem Punkte habe der Irrthum seinen Cirkelgang nunmehr vollendet, und sei uns endlich gestattet, wieder auf das Richtige zurück zu kommen.

Auch an Händel's Vater hat man auszusetzen gehabt. Besonders die Deutschen wollten ihn an Stand und Gesinnung niedriger haben, als er wirklich war. So sagt Rochlitz, um zu beweisen, daß[11] Händel gleich Bach »in niederm Stande und in kümmerlichen Verhältnissen aufgewachsen« sei: »Die neuesten Biographen Händel's haben seinen Vater einen Arzt genannt: doch wohl, um des herrlichen Mannes Abkunft zu heben. Ich aber glaube ihn selbst zu heben, wenn ich der Wahrheit gemäß sage: Händel's Vater war, nach damaligem Ausdruck, ein Bader, nach jetzigem ein Barbier, zu Halle, der höchstens dann und wann in die Chirurgie hineingepfuscht haben mag. Auch seine Gedanken vom Sohne, seine Gesinnungen gegen ihn, seine Art, ihn – nicht sowohl zu erziehen, als zu handhaben, waren ganz die eines gewöhnlichen Barbiers.«15 Wo Rochlitz diese »Wahrheit« gefunden, sagt er nicht. Leicht müßte es für ihn gewesen sein, hier das Rechte zu erfahren, da von Leipzig nach Halle so gar weit nicht ist. Rochlitz gehört zu den Geistreichen, die geschichtliche Einsicht verachten und doch aller Orten mit ihrem historischen Wissen großthun. Auch der Schluß von den Erziehungsgrundsätzen auf den Stand ist verkehrt genug: ein gewöhnlicher Bader, noch dazu ein hochbejahrter, hätte sich mit der Aussicht, sein Sohn werde einmal zu einem angesehenen Musiker aufsteigen, gewiß zufrieden gegeben, nicht so ein fürstlicher und amtlicher Diener von ansehnlicher Verwandtschaft und in behäbigen Vermögensumständen. Den Vater des Sohnes wegen heben, ist noch immer viel edler, als ihn und seine Handlungsweise nach willkürlichen Einfällen schlecht machen. Aber hier ist auch das erste nicht nöthig: man bleibe einfach bei der Wahrheit, sie ist sich selber Schmuck genug und zeigt Händel's Verhältniß zu seinen Eltern in einer Schönheit, welche demselben durch keine Ausschmückung verliehen werden könnte.

Daß Georg Friedrich auch seines alten Vaters, nicht bloß der Mutter Liebling gewesen, setzen die Erzählungen unbestimmt voraus. Den sicheren Beweis lieferte mir eine Thatsache, die mich sehr überraschte: den noch lebenden Herrn Otto Hendel, Buchdruckereibesitzer zu Halle, fand ich auf den ersten Blick dem großen Manne ähnlicher, als viele Kupferstiche. Was sich so lange, und zwar bei einer Nebenlinie die sich schon um 1620 abzweigte, gleichmäßig erhielt, ist gewiß als das ächt Händelsche Familiengesicht anzusehen. So ist kein Zweifel:[12] beide, Vater und Mutter, fanden sich in ihm wieder. Kenner menschlicher Natur wissen, welch ein eheliches Glück ein solches Kind voraussetzt und fortdauernd erhält. Und wie wir hervorstechende Gemüthsneigungen sowie den ehrbar bürgerlichen Sinn bei der Mutter vorgebildet fanden, so zeigt der Lebensgang des Vaters, daß dieser etwas besaß von dem kühnen Drange nach außen und aufwärts, von dem unbeugsamen Willen und der bis in das höchste Alter ungeschwächten Kraft, von jenen Eigenschaften also, durch welche der Sohn die Bewunderung seiner Zeitgenossen erregte und seinen Genius nach langem Kampfe zum Siege verhalf. Der Genius, der Tongeist ist Gottes Gabe, die Geistes- und Körperformen sind ein Ueberkommniß der Familie, bei gewöhnlichen Menschen durch allerlei Vorurtheile gebunden, bei hervorragenden Naturen zu individueller Freiheit, zum Charakter ausgebildet: und die Beschreibung eines solchen Lebens höherer Begabung muß bestrebt sein, jeden Schritt seiner Entwickelung, von der traulichen engen Umfriedung der Familie aus bis zum Höchsten aufsteigend, verständlich darzulegen.

Fußnoten

1 Critica Musica. Hamburg 1725. 4. II, 211.


2 G.F. Händel's Stammbaum von Karl Eduard Förstemann. Leipzig 1844. Fol. Taf. I.


3 J. Gf. Olearius, Coemeterium Saxo-Hallense. Wittenberg 1674. 4. p. 152.


4 J. Chr. von Dreyhaupt, Beschreibung des Saal-Creyses. Halle 1755. Fol. II, 900–901.


5 Dreyhaupt II, 893–94.


6 Taufregister der Oberpfarrkirche zu Unser Lieben Frauen in Halle a. S. von 1607–1686 p. 663.


7 Musikalisches Lexicon. Leipzig 1732. S. 309.


8 Beschreibung des Saal-Creyses II, 625.


9 Ehren-Pforte. Hamburg 1740. 4. S. 93.


10 Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel. London 1769. p. 1.


11 G.F. Händel's Lebensbeschreibung. Uebersetzet von Mattheson. Hamburg 1761. S. 1.


12 »It is however generally agreed, that the great musician, George Frederic Handel, was born at Halle the 24th of February, 1684.« Sketch in Commemoration of Handel. London 1785. 4. p. 2.


13 Burney's Nachricht von Georg Friedrich Händel's Lebensumständen und der ihm zu London 1784 angestellten Gedächtnißfeier. Uebersetzt von J.J. Eschenburg. Berlin 1785. 4. S. IV.


14 Der evangelische Kirchengesang. Leipzig 1847. 4. III, 55.


15 Für Freunde der Tonkunst. Leipzig 1832. IV, 154.

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1858.
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