a) Das Klavier

[275] Mozart war, wir wissen es, ein großer Klavierspieler, einer der größten Klaviervirtuosen seiner Zeit, wenn auch keiner der Virtuosen im Sinn der nachfolgenden Generation, deren Anfänge er in Clementi noch erlebt und – abgelehnt hat. Sein Urteil über Clementi, mit dem er Ende 1781 oder Anfang 1782 vor Kaiser Joseph eine Art von Wettkampf zu bestehen hatte, ist sehr hart (16. Jan. 1782): »... dieser ist ein braver Cembalist. – dann (damit) ist auch alles gesagt. – er hat sehr viele fertigkeit in der rechten hand. – seine haupt Pasagen sind die terzen. – übrigens hat er um keinen kreutzer geschmack noch empfindung. – ein bloßer Mechanicus ...« Aber Clementi war viel mehr als ein bloßer Mechanikus und in vielen Wesentlichkeiten das Vorbild einer ganzen Generation von Pianisten und Klavierkomponisten, zum Beispiel Beethovens. Mozart hätte das gleiche Urteil abgeben müssen, wenn Beethoven ihm eine seiner Sonaten à la Clementi vorgespielt hätte (was er bei jener berühmten kurzen Begegnung von 1787 vielleicht getan hat), zum Beispiel die C-dur-Sonate op. 2 Nr. 3. Und er hat damals vielleicht auch Beethoven weder Geschmack noch Gefühl zugestanden. Das Ideal seines Klavierstils war ein anderes als das des beginnenden 19. Jahrhunderts. Wozu gleich bemerkt sei, daß er nicht etwa für ein anderes Instrument geschrieben hat als Beethoven oder Weber oder Chopin, nicht etwa für das Klavichord oder Cembalo, sondern für unser Pianoforte – für den gleichen Typ des Instruments, wenn auch für keinen so machtvollen wie ein Erard oder Steinway. Fürs Cembalo gedacht und geschrieben könnten höchstens die frühen Konzertarrangements nach Johann Christian Bach und den französischen Kleinmeistern (K. 107 und K. 37, 39, 40, 41) sein, und man lasse sich nicht irreführen, auch wenn er selber bis in späteste Zeit den Klavierpart seiner Werke mit »Cembalo« bezeichnet, oder wenn eine große oder kleine Cembalistin das Rondo alle turca aus der A-dur-Klaviersonate auf ihrem Instrument zu einem rauschenden Triumph führt. Im Mozartschen Haus standen ein oder mehrere Pianoforte des Regensburger Klavierbauers Franz Jacob Spaeth; aber als er Bekanntschaft machte mit den Instrumenten[275] des Augsburger Meisters Johann Andreas Stein (des späteren Schwiegervaters und Lehrmeisters Johann Andreas Streichers, der für Beethoven arbeitete), wurden diese seine Favoritinstrumente. Er hat dafür die Gründe genau angegeben (17. Oktober 1777): »Nun muß ich gleich bey die steinischen Piano forte anfangen. Ehe ich noch vom stein seiner arbeit etwas gesehen habe, waren mir die spättischen Clavier die liebsten; nun muß ich aber den steinischen den vorzug lassen; denn sie dämpfen noch viell besser, als die Regensburger. wenn ich starck anschlage, ich mag den finger liegen lassen, oder aufheben, so ist halt der ton in dem augenblick vorbey, da ich ihn hören ließ. ich mag an die Claves kommen wie ich will, so wird der ton immer gleich seyn. er wird nicht schebern, er wird nicht stärcker, nicht schwächer gehen, oder gar ausbleiben; mit einem wort, es ist alles gleich. es ist wahr, er giebt so ein Piano forte nicht unter 300 fl: aber seine Mühe und fleiß die er anwendet, ist nicht zu bezahlen. seine instrumente haben besonders das vor andern eigen, daß sie mit auslösung gemacht sind. Da giebt sich der hundertste nicht damit ab. aber ohne auslösung ist es halt nicht möglich daß ein Piano forte nicht schebere oder nachklinge; seine hämmerl, wen man die Claves anspielt, fallen, in den augenblick da sie an die saiten hinauf springen, wieder herab, man mag den Claves liegen lassen oder auslassen ...« Für ein Instrument wie dieses hat er seine Sonaten, Variationen, Fantasien und Konzerte geschrieben.
Was Mozart für dies Instrument getan hat, kann man nur ermessen, wenn man sich vor Augen führt, daß es wohl ein Instrument für einzelne Virtuosen war, aber im allgemeinen eins für Dilettanten oder, wie der Ausdruck des 18. Jahrhunderts lautete, für »Liebhaber«. Und das hat den Charakter der Musik tief beeinflußt, die für es geschrieben wurde. Ein Werk für Klavier oder ein Ensemble, an dem das Klavier beteiligt ist, wird im allgemeinen nicht so ernst genommen wie ein Streichquartett oder -quintett, das von Berufsmusikern oder einer männlicheren Gattung von Amateuren ausgeführt wurde. Ein Streichquartett oder -quintett hat vier Sätze, eine Klaviersonate höchstens drei. Ein Quartett ist für »Kenner«; eine Klaviersonate, eine Sonate für Klavier und Violine, ein Klaviertrio[276] oder Klavierquartett für »Liebhaber« oder »Liebhaberinnen«. Für Klavier und Violine, nicht etwa für Violine und Klavier. Denn das Sonderbare und dem 19. und 20. Jahrhundert Auffällige ist, daß das Klavier im Ensemble immer dominiert und damit die leichtere Haltung aller dieser Gattungen bestimmt. Seit etwa 1750 hat die Rolle des Klaviers vollkommen gewechselt. In einer altklassischen Komposition, etwa einer »Solosonate« für Geige und Cembalo, hatte die Geige sozusagen alles zu sagen, ja war manchmal mehrstimmig behandelt, und das Cembalo nichts; es hatte nur die Baßlinie, die Stütze, die Begleitung zu liefern. Nach 1750 hatte, im Gegensatz dazu, das Klavier alles zu sagen, und der Geigenpart war so bedeutungslos, so sehr »ad libitum« gehalten, daß man ihn meist wirklich ohne großen Schaden weglassen konnte. Vor 1750 herrscht die Violinsonate mit Basso-Continuo; nach 1750 haben wir Klaviersonaten mit begleitender Violine. Es dauert längere Zeit, ehe die Geige wieder »obligat« behandelt wird, so obligat für beide Instrumente, wie wir die Klavier-Violinsonate seit Beethoven kennen; und Mozart selber ist es in erster Linie gewesen, der endlich das Equilibrium der beiden Instrumente, das Dialogisieren hergestellt hat.
Mozart und Beethoven waren große Klavierspieler und große Schöpfer für Klavier; aber bei Mozart tritt die zentrale Stellung des Klaviers anfänglich nicht so stark hervor wie bei Beethoven, in dessen gedrucktem Werk die Opera 1, 2, 5, 6, 7, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 19 Klavierwerke sind. Mozart hat es vorläufig nicht notwendig, Klaviersonaten oder Variationen niederzuschreiben, da er sie improvisiert. So sind die Variationen K. Nr. 24 und 25, die Anfang 1766 im Haag gestochen wurden, nichts anderes als veröffentlichte Dokumente der Improvisation des Wunderkindes. Ein paar Sonaten aus wenig späterer Zeit, einst im Besitz der Schwester, sind verschollen. Niedergeschrieben werden, da sie eben niedergeschrieben werden müssen, nur einige vierhändige Stücke: die Sonaten K. Nr. 19d von 1765, K. 381 von 1772 und K. 358 von 1774, alle drei zum Vortrag durch die Schwester und ihn selber bestimmt – so wie es dargestellt ist auf dem Familienbild von 1778. Auch ein paar Variationenreihen werden niedergeschrieben, teils weil man[277] sie braucht für den Unterricht von Scholaren, teils weil sie leichter zu Verlagsartikeln werden können. Aber der Beginn der Niederschrift von Klaviersonaten erfolgt erst im Sommer 1774, da Mozart im neunzehnten Lebensjahr steht und Aussicht hat auf die »scrittura« der »Finta giardiniera« in München. Bis Anfang 1775 schreibt er sechs Sonaten (K. Nr. 279–284), fünf in Salzburg, eine in München, von Anfang an für Veröffentlichung als Reihe bestimmt, wie allein aus der planmäßigen Wahl der Tonarten hervorgeht: C-F-B-Es-G-D. Mozart schreitet von der Zentraltonart erst drei Quinten abwärts und dann zwei Quinten aufwärts. Aber Mozart hat nur eine von ihnen, die sechste, später veröffentlicht, und wir versuchen zu begreifen, aus welchem Grunde. Wir begreifen es, wenn wir rückschauend uns das Ideal der Mozartschen Klaviersonate vergegenwärtigen, wie er es etwa in den späteren Sonaten in B (K. 333), c-moll (457), B (570) und D (576) verwirklicht hat, und wenn wir uns die Konstellation seiner Vorbilder klarmachen. Sie heißt: Italien-Paris-Hamburg-London; oder: italienische und »französische« Meister – Karl Philipp Emanuel Bach – Johann Christian Bach. Die frühesten Eindrücke von Klaviersonaten empfing der Knabe durch die Sammlungen, die der Nürnberger Lautenist und Verleger Johann Ulrich Haffner um 1760 in zwölf Teilen »durch einen besonders schönen Stich gemein machte« (Gerber, Altes Lexikon) und die im Hause Mozart vermutlich vollzählig vorhanden waren. Den Hauptanteil darin hatten Italiener: Galuppi, Pampani, Perotti, Pescetti, Rutini, Serini, Paganelli, Paladini, Sales, Chiarini, Sammartini, G. Scarlatti; erst etwas später kommen dazu deutsche Namen, wie Krafft, Fasch, Krause, Marpurg, Kirnberger, Rackemann, Roth und vor allem Philipp Emanuel Bach. Und Mozarts Neigung war durchaus auf seiten der Italiener, die eine leichte, scharmante, unbelastete Kunst boten – reines »Rococo«, voll von Heiterkeit und graziöser Figuration. Damit war es nun allerdings zu Ende, als Mozart Schobert und dessen Pariser Genossen kennenlernte, denn die Gattung von Liebhabern, für die man in Paris, London, Berlin und Wien zu schreiben hatte, war eine andre als die italienische. Rutini, dessen Werke, teilweise ebenfalls bei Haffner erschienen, im Briefwechsel der[278] Mozarts empfehlend erwähnt werden, verfällt um 1770 der »Einfachheit«, in Wahrheit der Verflachung, vielleicht unter dem Einfluß des Rousseauschen »Retour à la nature«. Nichts ist mehr für den Stil dieser Werke bezeichnend als der Brief vom 18. Februar 1771, den Pietro Metastasio als Dank für ein Exemplar von Rutinis op. 7 geschrieben hat:
»Monsieur, Riconosco l'amabile mio Sig. Rutini nella obbligante attenzione di farmi parte delle sue vaghissime sonate da gravicembalo nelle quali non mi sono solo compiaciuto della loro chiara, nobile, e corretta armonia, e della non comune inventrice fantasia. Ma ò particolarmente ammirato la giudiziosa destrezza con la quale à saputo congiungere l'allettamento alla facilità dell'esecuzione, per innamorar lo scolare d'uno studio dilettevole, dissimulandogli le difficoltà, che potrebbero sgomentarlo ...«2
»Leichte« Sonaten dieser Art schreibt Mozart nicht (und wenn er es tut, so bezeichnet er sie als solche, wie die »Kleine Klaviersonate für Anfänger« [K. 545] von 1788), wenn seine Sonaten heute auch als Unterrichtsstoff für Anfänger mißbraucht werden. Metastasios Lob paßt in einem tieferen Sinn viel mehr auf Mozarts als auf Rutinis Sonaten; aber für jene Verbindung von »allettamento«, Anziehungskraft, mit Leichtigkeit der Ausführung hat Mozart sein Vorbild gefunden nicht bei Rutini oder einem andern Italiener, nicht bei Carl Philipp Emanuel Bach, dessen Grundwesen ihm zuwider gewesen sein muß, sondern bei Johann Christian Bach. Nun ist es sonderbar und in gewissem Sinn ein pädagogisches Unglück, daß die sechs Klaviersonaten von 1774/75, mit denen für jeden jugendlichen Klavierspieler die Bekanntschaft mit[279] Mozart zu beginnen pflegt, kein einheitliches und reines Bild Mozarts liefern. Sie sind ein Mikrokosmus von Gefühl und Formenfeinheit, aber ein sehr komplizierter; es ist so, als wenn man die Bekanntschaft mit Wagner mit den »Feen« oder dem »Liebesverbot« beginnen wollte statt mit »Lohengrin« und die »Faust-Ouverture« dazufügte. Immerhin ist Mozart in diesen sechs Sonaten viel mehr Mozart als Wagner in jenen Jugendwerken Wagner. Aber sie sind zum Teil eine – um einen astronomischen Ausdruck zu gebrauchen – Aberration von seiner Bahn, wie etwa die Wiener Reihe der Streichquartette von 1773, und der Schuldige ist wiederum Joseph Haydn – oder Philipp Emanuel Bach in Haydns Formulierung. Haydn hatte 1773 sechs Sonaten geschrieben, die als Opus 13 im folgenden Jahre gedruckt erschienen, aber Mozart sehr gut schon während seines Wiener Aufenthaltes bekannt geworden sein können. So hat für die Sonate in F (K. 280) eine Sonate Haydns in gleicher Tonart Modell gestanden; so ist auch in der Sonate in Es (K. 282) nicht nur das Finale ganz »Haydnsch«, sondern das Ganze mit der Unregelmäßigkeit, dem Subjektivismus der Satzfolge Haydnsch infiltriert. Mozart ist nicht ganz er selbst; er hat sich wieder zu finden. Nur ist, auch wo er nicht ganz er selbst ist, stets der Unterschied: er ist ein geborener Pianist, indes Haydn ein geborener Quartettist oder Sinfonist ist. Wie oft fühlt man in Haydns Klavierstil die Übertragung aus einer andern instrumentalen Sphäre, indes bei Mozart alles aus leichter Klavierhand fließt und strömt! Und so scheint mir die erste der Sonaten der Reihe nach in C (K. 279) vor jener »Aberration« geschrieben. Sie mutet an wie eine Improvisation; sie bringt das Instrument zum Klingen mit Geist; so muß der junge Mozart gespielt haben, wenn er in guter Stunde eine Sonate improvisierte. Wenn andre Komponisten ihre Gedanken aufgereiht haben, wiederholen sie sie in der Reprise; aber hier ist nichts mechanisch; die Phantasie Mozarts verändert fortwährend in allen Einzelheiten; so in dem sonst ganz »italienischen« Andante in der Dynamik. Und in der B-dur-Sonate (K. 281), deren erste beide Sätze man haydnscher als Haydn selber nennen könnte, erwacht plötzlich, im Schlußsatz, der ureigenste Mozart selber. Nicht bloß Haydn ist vergessen, sondern auch Johann[280] Christian; und wenn dies Rondo, in seiner bescheiden-konzerthaften Haltung, in seiner melodischen Grazie nicht so sicher datiert wäre, wir würden es zehn Jahre später verlegen, in die Wiener Zeit. In der fünften Sonate in G (K. 283) findet Mozart wenigstens insofern wieder auf seinen eigenen Weg zurück, als sie mehr auf dem Wege Johann Christians liegt als dem Philipp Emanuels; als das Final-Presto voll ist einer pianistischen Erfindung, die bei Haydn sich nicht oder selten einstellt.
Ganz für sich steht die letzte Sonate dieser Reihe, in D (K. 284), komponiert im Februar oder März 1775 in München für einen dortigen Liebhaber, den Freiherrn Thaddäus von Dürnitz. Der Beginn des ersten Satzes liegt vor in einer früheren Fassung, die ungefähr dem bisherigen Stil der Reihe entspricht – aber dann muß entweder der Besteller geäußert haben, daß er etwas anderes, Brillanteres, im »französischen Charakter« Gehaltenes wünsche, oder Mozart selber hat ein persönliches oder musikalisches Erlebnis gehabt, das ihn plötzlich auf eine neue, höhere Ebene hob. Was war dies musikalische Erlebnis? Wir wissen es nicht; aber eine Briefstelle (17./18. Okt. 1777) gibt vielleicht ein Licht. Mozart schreibt da, daß diese seine Sonate in D »auf die Piano forti vom stein unvergleichlich heraus kommt«. Nun war Steins Orakel und Autorität im Klavierspiel bisher der Hauptmann von Beecke, berühmt für seine »schweren« Sonaten – Mozart selber fand sie ziemlich schwer, wenn auch »meist miserabel« – und den Mozarts wohlbekannt. Das ist eine Möglichkeit; aber wollen wir nicht eins der Wunder, eine der glücklichen Stunden annehmen, die es in einem begnadeten Leben gibt und ohne die ja kein Fortschreiten der Kunst möglich wäre? Wie dem sei, auf den noch »italienischen« Satz dieser Sonate folgt eine Polonaise en rondeau, in der das Thema in immer reicher verziertem Gewand zurückkehrt, und folgt, zum erstenmal in einer Klaviersonate Mozarts, ein Tema con variazioni – alles, auch der neugefaßte erste Satz, von einer sinnlichen Fülle, einer konzerthaften Belebung, die immer wieder überraschend und wundersam ist. Neu und wundersam ist vor allem die Klangfülle und der Zusammenhang der Variationen. Mozart hatte Klaviervariationen auch in den vorangehenden Jahren schriftlich fixiert: die über eine Arietta von[281] Salieri (K. 180) von 1773 und die sogenannten Fischerschen (K. 179) von 1774, die ihm lange als virtuoses Paradestück dienten. Aber sie sind lediglich niedlich oder brillant im Vergleich mit diesem Reichtum an strömender Erfindung, in dem zum erstenmal auch ein »Minore«, eine Moll-Variation ihre Chromatik ins Spiel bringt und dem nicht einmal die etwas zopfige und etwas zu lange Adagio-Variation Abbruch tut.
Diese sechs Sonaten genügten Mozart erstaunlich lange für sein Repertoire als Virtuose; auch die schwächeren – er spielt sie allesamt mehrmals auf der großen Reise von 1777/78 nach Mannheim und Paris. Aber gerade in Mannheim geht ihm die Notwendigkeit auf, dies Repertoire zu erweitern, und so entstehen vom November 1777 bis zum Spätsommer 1778 sieben neue Sonaten, nicht weniger verschiedenartig und kaleidoskopisch als die Vor-Münchner Gruppe. Zwei von ihnen, K. Nr. 309 und K. Nr. 311, die erste in C, die zweite in D, muß man die Mannheimer Klaviersonaten nennen, da sie beide 1777 in Mannheim niedergeschrieben oder vollendet sind. Über die Entstehung der ersten sind wir besonders gut unterrichtet. Mozart hat sie in seinem letzten Augsburger Konzert, am 22. Oktober, improvisiert, genauer: die beiden Ecksätze, jedoch mit einem anderen langsamen Satz, wie er uns selber berichtet (24. Oktober 1777): »... Dann spiellte ich ... auf einmahl eine Prächtige sonata ex C major so aus dem kopf mit einem Rondeau auf die lezt. es war ein rechtes Getös und lerm ...« Damit hat Mozart die beiden Ecksätze selber einigermaßen charakterisiert, besonders im Rondo die Stellen mit den Zweiunddreißigstel-Tremoli; er hat nur vergessen, die Feinheit zu erwähnen, daß er den »prächtigen« und »lärmenden« Satz pianissimo geschlossen hat. Beide Sätze sind voll instrumentalen Glanzes, der erste wie die Übertragung einer Salzburger C-dur-Sinfonie auf ein Steinsches Piano. Den Mittelsatz aber, ein Andante quasi und poco Adagio, hat Mozart in Mannheim nicht nur erst aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, sondern wirklich neu komponiert, denn er hat in ihr den Charakter der Mademoiselle Cannabich, der Tochter seines neuen Freundes, des Kapellmeisters Cannabich, zu malen gesucht. Da wir über diesen Charakter nichts wissen, können wir nicht beurteilen, ob das[282] Porträt getroffen ist: es ist ein »zärtliches«, ein »empfindsames« Andante mit immer reicher verzierten Repetitionen des Themas; und wie wenig es Mozart um Realismus zu tun war, mag daraus hervorgehen, daß man auch den langsamen Satz der andern Mannheimer Sonate, ein Andantino con espressione, sehr kindlich, sehr »innocente« hat für das Porträt der kleinen Rose Cannabich halten können. Diese ganze Sonate ist wie ein Gegenstück zur Sonate in C; wie in deren erstem Satz wird die Wiederkehr des Kopfmotivs in der Reprise vermieden, es kommt erst als Überraschung der Coda (wir kennen diese Feinheit schon aus den Werken von 1776, zum Beispiel aus dem Divertimento K. Nr. 247). In beiden Werken fängt die Mittellage des Instruments neu an zu klingen; in beiden ist die linke Hand nicht mehr bloß Begleitung, sondern ernstlicher Partner des Dialogs; beide sind konzerthaft – Mozart rechnet sie zu seinen schwierigen Klaviersonaten. Und das sind sie, so schwer im allgemeinen auch die scheinbar einfachsten Klavierstücke Mozarts zu spielen sind.
Sind diese Mannheimer Sonaten Zwillinge, so sind die fünf Pariser Sonaten so ungleich als möglich. Sie sind alle – neben einer Reihe von Variationen, von denen die über »Ah, vous dirais-je, Maman« (K. Nr. 265) in ihrem beabsichtigt kindlichen Humor die köstlichste ist – im tragischen Sommer 1778 geschrieben. Und die erste, in a-moll (K. Nr. 310) ist wirklich eine tragische Sonate, das Gegenstück zu der unmittelbar vorher entstandenen Klavier-Violin-Sonate in e-moll (K. Nr. 304). Aber wenn diese e-moll-Sonate lyrisch ist und der himmlischen Lichtstrahlen nicht entbehrt, so ist diese Sonate dramatisch und voll unerbittlichen Dunkels; nicht einmal die Wendung nach C-dur am Ende der Exposition des ersten Satzes bringt eine Aufhellung. Und auch im langsamen Satz, »con espressione«, beginnt die Durchführung zwar einigermaßen tröstlich, aber der Gesamteindruck haftet doch an ihrer unheimlichen Erregung vor der Reprise; und unheimlich von Anfang bis Ende ist das schattenhafte Presto – unheimlich trotz der eingeschalteten melodischen Blüte, die musettenhaft beginnt. A-moll – und manchmal auch A-dur, in besonderer Beleuchtung – ist für Mozart die Tonart der Trostlosigkeit. In dieser Sonate ist nichts[283] mehr von »Gesellschaftlichkeit«, sie ist persönlichste Expression, und man wird in der ganzen Produktion der Zeit vergebens nach etwas ihr Ähnlichem suchen. Und man begreift das Erstaunen M. Saint-Foix', daß die Zeitgenossen das Werk, das ja 1778 in Paris, der Stadt der Kritik, entstanden und 1782 erschienen war, stumm und stumpf, ohne Kommentar hinnahmen.
Wie um sich innerlich wieder zu befreien, schreibt Mozart nicht bloß die oben erwähnten scharmanten Variationen über das Kinderlied, sondern auch die Sonate in C-dur K. Nr. 330. Es besteht sogar ein thematischer Zusammenhang zwischen dem Kopfthema der a-moll-Sonate und einem Partikel des zweiten Themas der C-dur-Sonate, wie zwischen Dunkel und Aufhellung:
a. Das Klavier

Die Sonate scheint »leichter«, aber sie ist ein Meisterwerk wie die andere, in dem jede Note »sitzt« – eins der liebenswertesten, die Mozart je geschrieben hat, in dem sich auch die Schatten des Andante cantabile zur wolkenlosen Reinheit aufhellen; ein besonders hinreißender Zug, wenn der zweite Teil des Finales mit einem einfachen Liedchen beginnt. Folgt jene »Favorite Sonata« in A-dur K. Nr. 331, mit den Variationen am Beginn, dem Rondo alla turca am Ende, und dem Menuetto – besser: Tempo di Menuetto – in der Mitte, die so vielen den ersten Begriff von Mozart beigebracht hat. Aber sie ist ein Ausnahmewerk und eher ein Gegenstück zu der Münchner Dürnitz-Sonate in D, nur daß sie die Variationen an den Beginn setzt (und natürlich kürzer und weniger virtuos faßt), statt der Polonaise die französischste aller Tanzformen wählt und mit einer echten Ballettszene schließt. Ein deutschtümelnder Professor hat zwar die »teutsche« Herkunft des Variationenthemas nachzuweisen gesucht, und einer der teutonischsten Musiker hat es als Grundlage neuer Orchestervariationen[284] gewählt, aber es ist so französisch und so – mozartisch als möglich; mozartisch vor allem die Schlußbekräftigung durch Forte, die später mit symbolischer Kraft in Mozarts Komposition von Goethes »Veilchen« wiederkehren wird. Überall wird man die Fülle, die Klangsinnlichkeit der Dürnitz-Sonate wiederfinden, nur so gesteigert, wie eben A-dur eine Steigerung von D-dur ist. Und das Moll des Rondo alla turca entbehrt auch hier nicht der unheimlichen Nebenwirkung.
Von der nächsten und vorletzten der »Pariser Sonaten« in F haben wir bereits gesprochen (S. 171), als von einem der persönlichsten Werke Mozarts, dem man nicht vorwerfen sollte, daß es so wenig beethovenisch ist. Man könnte von dieser (K. Nr. 332) und der folgenden Sonate in B (K. Nr. 333) sagen, daß Mozart wieder zu Johann Christian Bach und zu sich selber zurückgefunden habe: – zu Johann Christian vor allem in dem Adagio der F-dur- und in dem ersten Satz der B-dur-Sonate, zu sich selber vor allem im Finale der letzteren, das anmutet wie ein womöglich noch vollkommeneres Duplikat des Rondos aus der Klaviersonate K. Nr. 281, ebenfalls in B. Johann Christian war ja Anfang August 1778 nach Paris gekommen, und es ist unmöglich, daß er Mozart nicht mit den Sonaten bekanntgemacht hat, die, angeblich im folgenden Jahr, als Opus 17 erschienen sind. Nur, daß diese Bekanntschaft jetzt auf eine zwar nicht weniger empfängliche Seele, aber auf eine gereifte Persönlichkeit, auf eine wählerische Meisterschaft trifft, die jede Anregung sogleich ins Mozartische umwandelt. Wir erfahren nicht, ob Mozart seinem Vorbild eine seiner letzten Klavier- oder Klavier-Violin-Sonaten vorgespielt hat. Er erwähnt darüber nichts in seinen Briefen nach Hause, und es ist auch wahrscheinlich, daß er vorsichtig genug war, eine ihm teure väterliche Freundschaft nicht dadurch aufs Spiel zu setzen. Es dauert sechs Jahre, ehe Mozart in Wien wieder an die Niederschrift einer Klaviersonate geht, was nur damit zu erklären ist, daß es der Niederschrift eben nicht bedurfte. Es war die Zeit seiner großen Akademien, die Zeit seiner Klavierkonzerte, des Quintetts mit Bläsern, der großen Violinsonaten; wenn ein Encore notwendig wurde, so improvisierte er Variationen, wie etwa die über Glucks »Unser dummer Pöbel meint«[285] (K. Nr. 455), als der Komponist dieses Liedes Mozarts Akademie vom 11. März 1783 mit seinem Besuch beehrte; oder er phantasierte in freieren Formen. Und obwohl für Mozart Wien »das wahre Klavierland« war, war es ihm doch auch das Land, das durch Streichquartette und vor allem durch die Oper erobert werden wollte. So fällt in die erste Wiener Zeit nur das Fragment eines Allegros in B-dur (K. Nr. 400), allerdings so weit, bis zur Rekapitulation, gediehen, daß es von Abbé Stadler mit einiger Zuverlässigkeit ergänzt werden konnte. Es gehört zu den Späßen Mozarts, die immer auch halb ernst zu nehmen sind und künstlerische Form haben. Ein schwungvolles, ja stürmisches Spiel beider Hände in Arpeggien in Sechzehnteln und Läufen setzt ein, bis zur Durchführung, in der diese Bewegtheit aussetzt; um einer etwas allzu übertriebenen und daher parodistischen Liebeserklärung an »Sophie« und »Konstanze«, die künftige Schwägerin und Gattin, Platz zu machen. Es ist die Zeit vom Sommer 1781, da Mozart mit beiden Mädchen noch »narrierte und Spaß machte«, ehe es bitterer Ernst wurde. Und als es bitterer Ernst geworden war, dachte Mozart nicht mehr daran, dem Satz noch die notwendigen beiden anderen hinzuzufügen.
Der bittere Ernst herrscht in der folgenden Sonate, komponiert am 14. Oktober 1784 (K. Nr. 457), und als op. 11 Mozarts Schülerin Therese von Trattnern gewidmet, der zweiten Frau des Buchdruckers und Verlegers Johann Thomas von Trattnern. Die einst vorhandenen Anweisungen für den Vortrag dieser Sonate und der ihr vorangestellten »Fantaisie« (K. Nr. 475) sind verlorengegangen und damit eines der wichtigsten Dokumente von Mozarts praktischer Ästhetik. Enthielten diese Anweisungen vielleicht noch persönlichere Dinge, die der Nachwelt vorenthalten werden mußten? Wir wissen es nicht, und es ist uns nicht erlaubt, in das biographische Geheimnis des Werkes einzudringen. Aber es ist klar, daß es ein Ausbruch stärkster Erregung ist – nicht mehr ausdrückbar im fatalistischen a-moll der Pariser Sonate, sondern im pathetischen c-moll – Beethovens: – mit Recht hat man hier gesprochen von einem »beethovenisme d'avant la lettre«. Wobei freilich zu bemerken ist, daß gerade diese Sonate einen guten Teil beigetragen hat zur[286] Entstehung jenes Beethovenisme ... Der Konzentration der beiden Außensätze entgegengestellt ist ein breites, konzerthaftes Adagio im tröstlichen Es-dur, das bei dem wahrhaften, allen billigen Lösungen abholden Wesen ihres Schöpfers nicht zu einem Finale in Dur führt: dies Finale ist ebenso pathetisch und noch finsterer als der erste Satz. Es herrscht eine Disproportion in diesem Werk: die Sonatenform der Zeit ist zu enge für die Expansion des Gefühls; wenn man auch zugeben muß, daß eine der unheimlichen Wirkungen des Werkes gerade auf der explosiven Gedrängtheit und Kürze der Ecksätze beruht. Die volle Expansion des Gefühls war Mozart in der Konzertform gegeben, und so ist es nur logisch, daß auf diese c-moll-Sonate einmal das Klavierkonzert K. Nr. 491 folgen wird, wo dem Inhalt das Gefäß vollkommen entspricht. Aber Mozart muß selber das Bedürfnis gefühlt haben, das Explosive dieser Sonate zu begründen, sie als Ergebnis eines besonderen Seelenzustandes zu rechtfertigen, und so hat er ihr die am 20. Mai 1785 geschriebene Phantasie K. Nr. 475 vorangestellt und sie so veröffentlicht. Dies Werk, das uns das treueste Bild gibt von Mozarts gewaltiger Fähigkeit der Improvisation – das heißt von der Fähigkeit, bei scheinbar größter Freiheit und Kühnheit der Modulation, der äußersten Kontrastierung der Gedanken, bei ungezwungenstem Wechsel des Lyrischen und Virtuosen, doch die Form zu wahren – ist so reich, daß es die Sonate zu erdrücken scheint und doch nicht erdrückt. Es eröffnet uns das Verständnis für die andern Fantasien Mozarts: eine weniger umfangreiche in d-moll (K. Nr. 397), vermutlich in der ersten Wiener Zeit entstanden, in der das im höchsten Sinn kindliche oder himmlische, abschließende Allegretto als »Lösung« viel zu kurz ist3; das Ganze ist eher Einleitung zu einer D-dur-Sonate, etwa K. 284 oder K. 311 – ja man darf sogar an eine der Klavier-Violin-Sonaten in D den ken. Der alten Verbindung einer Fantasie mit einer Fuge hat Mozart mit K. Nr. 394 in C Rechnung getragen – die Fantasie wirkt wie eine Vorstudie zu ihrer gewaltigeren Schwester in Moll.
[287] Für bescheidenere Schülerinnen als Frau von Trattnern schreibt Mozart Rondos, so am 10. Januar 1786 für ein Fräulein von Würm oder Würben das seltsame in D-dur K. 485, dessen wir als einer Huldigung für Philipp Emanuel und Johann Christian Bach bereits gedacht haben und dessen Thema Mozart dem Rondo seines Klavierquartetts K. 478 in g-moll entnommen hat; so am 10. Juni desselben Jahres für eine andre das »Kleine Rondo« in F-dur, K. Nr. 494, dem er am 3. Januar 1788 ein Allegro und Andante (K. Nr. 533) vorangestellt und das er derart zur Sonate ergänzt hat. Er war seinem Freunde und Verleger Hoffmeister Geld schuldig, das vermutlich auf diese Weise teilweise abbezahlt wurde. Auf die sogenannte Einheit des Stiles hat er dabei nicht die geringste Rücksicht genommen. Diese nachkomponierten Sätze sind von einer Großartigkeit der harmonisch-polyphonen Konzeption, einer Tiefe des Gefühls und harmonischen Rücksichtslosigkeit, wie sie eben nur seine letzten Werke auszeichnet; ja sie sind für ein ganz anderes, mächtigeres Instrument gedacht als das unschuldige Rondo, das sich meist in der Mittellage des Instruments hält – erst für Hoffmeisters Stichausgabe hat Mozart eine kontrapunktische Kadenz und einen Abschluß in tiefer Lage hinzukomponiert. Und dennoch: auch dies Rondo, mit seinem schönen, dreistimmig »obligaten« Minore ist so reich und vollendet, daß kein Uneingeweihter den »Stilbruch« merken wird. Es kennzeichnet die Stumpfheit so mancher »Herausgeber« des 19. und 20. Jahrhunderts, daß das Rondo und die beiden vorangehenden Sätze in den Ausgaben noch immer ein getrenntes Dasein führen.
War dies Rondo K. Nr. 494 als Finalsatz verwendbar, so war das unmöglich bei dem Rondo in a-moll K. Nr. 511, vom 11. März 1787, das denn auch einzeln von Hoffmeister veröffentlicht worden ist. Man erkennt die ganze Tiefe seiner Empfindung, die Vollendung seines Stils, das Hell-Dunkel von Moll und Dur, wenn man es mit dem Rondo in As vergleicht, das mit dem Titel »Romance« in manchen Ausgaben unter Mozarts Autornamen spukt (K. Nr. 205 Anh.) und das eben nur gefällig, nur »mozartisch« ist. In diesen späten Jahren hieß das Problem für Mozart auch in der Klaviersonate: Verschmelzung von Alt und Neu, von[288] »Galant« und »Gelehrt«, von Vertiefung der Galanterie durch »Arbeit«, aber unmerkbare Arbeit. Und so halte ich einen Sonatensatz in B-dur (Anh. 136) für echt, den später der Leipziger Thomaskantor August Eberhard Müller stillschweigend für sich in Anspruch genommen hat – vermutlich weil es zu spät war, eine teilweise Fälschung oder Mystifizierung des Publikums noch einzugestehen oder aufzuklären. Der Vorgang mag sich ungefähr folgendermaßen abgespielt haben. Konstanze, die so gerne die Fragmente ihres Gatten losgeworden wäre, hat eins davon – den Anfang dieses Satzes – zur Begutachtung an den Verleger Thonus in Leipzig geschickt, der es durch Müller ergänzen ließ, als Menuett das verlorene erste Menuett aus der »Kleinen Nachtmusik« (in dessen Besitz er Gott weiß wie gelangt war) benutzte und durch zwei Müllersche Sätze ergänzt unter Mozarts Namen in die Welt schickte. Denn dieser Satz zeigt Mozart auf dem Wege zur letzten Sonate in D (K. 576). Es ist ein Versuch, beide Hände zu galant-kontrapunktischem Spiel zu benutzen, ein Versuch, zu sehr »gearbeitet«, nicht ohne Doktrinarismus, ohne Gewolltheit, als daß man nicht begreifen möchte, daß Mozart ihn hat liegen lassen. Aber daß er einst vorhanden gewesen, etwa in der Form wie der Sonatensatz K. Nr. 400, ist mir unzweifelhaft. Selbst in der »Kleinen Sonate für Anfänger« K. 545, in der »leichtesten« Tonart C-dur, seltsamerweise zu Mozarts Lebzeiten nicht gedruckt, aber von ihm wohl für den Unterricht auf unterster Stufe verwandt, beginnt das Rondo humoristisch mit »strenger Imitation«, mit einem »Kanon in der Unterquint«.
a. Das Klavier

Und eins der seligsten Werke Mozarts, die »Kleine Sonate« in B-dur K. Nr. 570 vom Februar 1789, vielleicht der ausgeglichenste Typus, das Ideal seiner Klaviersonate, bringt im[289] Finale humoristischen Kontrapunkt, wie als offenen Hinweis auf den geheimen, von dem das ganze Werk erfüllt ist.
Das Jahr 1789 zeitigt noch eine Klaviersonate, die letzte (D-dur, K. Nr. 576). Im Frühjahr war Mozart in Norddeutschland gewesen und hatte offenbar bei der königlichen Familie in Preußen mehr Generosität zu entdecken geglaubt, als er sie zu Hause in Wien fand; er dachte an sechs Quartette für den König und an sechs Klaviersonaten für dessen älteste Tochter, Prinzessin Friederike (Brief an Puchberg, 12. bis 14. Juli 1789): »... unterdessen schreibe ich 6 leichte Klavier-Sonaten für die Prinzessin Friederika und 6 Quartetten für den König, welches ich alles bey Kozeluch auf meine Unkosten stechen lasse ...« Aber wie, wir wissen es, nur drei der Quartette zustande gekommen sind, ein paar Tage vor Mozarts Tod erschienen, nicht von Kozeluch gestochen, sondern in einer elenden Ausgabe Artarias, so ist es bei dieser einzigen Klaviersonate geblieben, die nicht einmal ihre Adresse erreicht hat, sondern posthum gedruckt worden ist. Sie ist nichts weniger als »leicht«. Sie ist im Gegenteil betont kontrapunktisch, voll von duettierenden, man möchte sagen: Johann-Sebastianischen Streitbarkeiten, schöpferischer Dank an den großen Vorgänger, dem er in Leipzig, auf der Reise, erneut nahegekommen war und dem er, auf einem Stammbuchblatt für den Hoforganisten Engel, mit einer kleinen, meisterhaften dreistimmigen Gigue einen Tribut dargebracht hatte. Kein Gedanke mehr an preußische Prinzessinnen im Finale, das die Süßigkeit des Klavierklanges mit der Feinarbeit eines Streichtrios verbindet; in der tiefen Sehnsucht und Tröstlichkeit des Adagios. Ein Gegenstück hat dies Adagio nur bei Mozart selbst: in dem am 19. März 1788 komponierten Adagio in h-moll, einem der vollendetsten, empfundensten, trostlosesten, die Mozart je komponiert hat. Es ist schwer, sich seine Bestimmung klarzumachen: der Dur-Schluß deutet darauf hin, daß es für eine Sonate in e-moll bestimmt war. Aber warum nicht einfach sagen, daß ein solches Stück, ohne weiteren »Zweck«, Mozart in einer zugleich schweren und beglückten Stunde aus der Feder geflossen sein konnte? Im Sommer 1790 kehrt Mozart zu dem Gedanken an diese Klaviersonaten zurück (an Puchberg, 12. Juni 1790): »... um[290] in meinen Umständen Geld in die Hände zu bekommen ... schreibe auch ... an Clavier-Sonaten ...« Aber es kommt nur zu Anfängen von wenig Takten für eine Sonate in F (Anh. 29, Anh. 30, Anh. 37). Es kommt allerdings auch zu einem ganzen ersten Satz, dem Allegro in g-moll K. 312, das ich leider völlig falsch placiert habe, als ich es unter die »Münchner« Klaviersonaten stellte. Denn das ist einer jener »leichten« Sonatensätze, nur ausgeführt in jener Verschmelzung der Stile und mit einer Meisterschaft, deren Mozart um 1774 noch keineswegs fähig war. Daß kaum jemand diesen Satz kennt und spielt, daß fast keine der landläufigen Ausgaben der Klavierwerke ihn enthält, ist kein Gegenbeweis ...
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 275-291.
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