III. Oper

[432] »Der naive, wirklich begeisterte Künstler stürzt sich mit enthusiastischer Sorglosigkeit in sein Kunstwerk, und erst wenn dieß fertig, wenn es in seiner Wirklichkeit sich ihm darstellt, gewinnt er, aus seinen Erfahrungen, die ächte Kraft der Reflexion, die ihn allgemeinhin vor Täuschungen bewahrt, im besonderen Falle, also da, wo er durch Begeisterung sich wieder zum Kunstwerke gedrängt fühlt, ihre Macht über ihn dennoch aber vollständig wieder verliert. Von Mozart ist mit Bezug auf seine Laufbahn als Opernkomponist Nichts characteristischer, als die unbesorgte Wahllosigkeit, mit der er sich an seine Arbeiten machte: ihm fiel es so wenig ein, über den der Oper zugrunde liegenden ästhetischen Skrupel nachzudenken, daß er vielmehr mit größter Unbefangenheit an die Komposition jedes ihm aufgegebenen Operntextes sich machte, sogar unbekümmert darum, ob dieser Text für ihn, als reinen Musiker, dankbar sei oder nicht. Nehmen wir alle seine hier und da aufbewahrten ästhetischen Bemerkungen und Aussprüche zusammen, so versteigt all' seine Reflexion gewiß sich nicht höher, als seine berühmte Definition von seiner Nase.«So und noch weiterhin Richard Wagner im ersten Teil von »Oper und Drama« (Gesammelte Schriften III3, S. 246); und wir werden auf seine weiteren Ausführungen noch zurückkommen. Es würde eines der bezeichnendsten Zitate sein in einem Buche, das noch nicht geschrieben ist, mit dem Titel »Mozart und die Nachwelt«. Nun, wenn Wagners Urteil über Mozart, der ein Libretto so naiv in die Hand nimmt und es komponiert, wie das Kind den geschenkten Apfel verzehrt, über Mozart, der gute dramatische Musik (Wagner sagt: »schöne« Musik) nur komponieren konnte, wenn ihm die Dichtung halbwegs entgegenkam (Wagner, der sich auch den Akt des Opernkomponierens nur unter dem Bild eines sexuellen Aktes vorstellen kann, sagt: »... wenn sie von außen entzündet wurde, wenn dem Genius göttlichster Liebe in ihm der liebenswerthe Gegenstand sich zeigte, den er, brünstig selbstvergessen, umarmen konnte«) – wenn dies Urteil richtig wäre, so wäre der[433] Stab über den Opernkomponisten Mozart gebrochen. Dabei gilt es nicht etwa den Jugendwerken Mozarts, die Wagner unbekannt waren, sondern Mozarts reifen Opern von der »Entführung« an bis zur »Clemenza di Tito«.
In Wahrheit ist es so unrichtig als möglich. Genauer, es gilt gerade nicht für die Werke, die Wagner im Auge hatte; in Wahrheit ist es ein Urteil pro domo, ein typisches Urteil des 19. Jahrhunderts. Wie hat Mozart sich gequält mit seinen Libretti und seinen Librettisten, angefangen vom »Idomeneo« bis zur »Clemenza«; und was wissen wir von den Gesprächen mit da Ponte und Schikaneder, die der endgültigen Gestalt von »Nozze«, »Don Giovanni«, »Così fan tutte«, der »Zauberflöte« vorausgingen! Aus was für andern Gründen hat Mozart ein Stück wie »Il regno delle Amazzoni« (K. 434) nach dem ersten Anlauf liegenlassen, Libretti wie die der »Oca del Cairo« (K. 422) oder des »Sposo deluso« nicht fertigkomponiert, als weil sie ihm als Dramatiker nicht genügten! Nichts ist für Mozarts Sorgfalt und dramatischen Instinkt bezeichnender als der Brief, den er über die Entstehung der »Entführung« an den Vater schrieb (26. September 1781):»Ich ... glaubte ihnen vergnügen zu machen, wenn ich ihnen so eine kleine Idee von der oper geben würde.Die oper hatte mit einem Monologue angefangen, und da bat ich H. Stephani eine kleine ariette daraus zu machen – und daß anstatt nach dem liedchen des osmin die zwey zusammen schwätzen, ein Duo daraus würde. – Da wir die Rolle des osmin H. Fischer zugedacht, welcher eine gewis fortrefliche Baßstimme hat (ohngeacht der Erzbischof zu mir gesagt, er singe zu tief für einen Bassisten, und ich ihm aber betheuert er würde mit nächsten höher singen –) so muß man so einen Mann Nutzen, besonders da er das hiesige Publikum ganz für sich hat. – Dieser osmin hat aber im original büchel das einzige liedchen zum singen, und sonst nichts, außer dem Terzett und final. Dieser hat also im Ersten Ackt eine aria bekommen, und wird auch im 2ten noch eine haben. – Die aria hab ich dem H. Stephani ganz angegeben; – und die hauptsache der Musick davon war schon fertig, ehe Stephani ein wort davon wuste. – sie haben nur den anfang davon, und das Ende, welches von[434] guter wirkung seyn muß – der zorn des osmin wird dadurch in das kommische gebracht, weil die türkische Musick dabey angebracht ist. – in der ausführung der aria habe ich seine schöne tiefe Töne (trotz dem Salzburger Midas) schimmern lassen. – Das ›Drum beym Barte des Propheten‹ etc. ist zwar im nemlichen tempo, aber mit geschwinden Noten – und da sein zorn immer wächst, so muß – da man glaubt die aria seye schon zu Ende – das allegro assai – ganz in einem andern zeitmaas, und in einem andern Ton – eben den besten Effect machen; denn, ein Mensch der sich in einem so heftigen zorn befindet, überschreitet alle ordnung, Maas und ziel, er kennt sich nicht – so muß sich auch die Musick nicht mehr kennen – weil aber die leidenschaften, heftig oder nicht, niemal bis zum Eckel ausgedrückt seyn müssen, und die Musick auch in der schaudervollsten lage, das Ohr niemalen beleidigen, sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß, so habe ich keinen fremden ton zum f (zum ton der aria), sondern einen befreundten dazu, aber nicht den Nächsten, D minor, sondern den weitern, A minor, gewählt. – Nun die aria von Belmont in Adur. – ›O wie ängstlich, o wie feurig‹, wissen sie wie es ausgedrückt ist – auch ist das klopfende liebevolle herz schon angezeigt – die 2 violinen in oktaven. – Dies ist die favorit aria von allen die sie gehört haben – auch von mir. – und ist ganz für die stimme des Adamberger geschrieben. man sieht das zittern – wanken – man sieht wie sich die schwellende brust hebt – welches durch ein crescendo exprimirt ist – man hört das lispeln und seufzen – welches durch die ersten violinen mit sordinen und einer flaute mit in unisono ausgedrückt ist.
Der Janitscharen Chor ist für einen Janitscharen Chor alles was man verlangen kann. – kurz und lustig; – und ganz für die wiener geschrieben. – Die aria von der konstanze habe ich ein wenig der geläufigen gurgel der Madelle Cavallieri aufgeopfert. – ›Trennung war mein banges loos und nun schwimmt mein aug in Tränen‹ – habe ich, so viel es eine wälsche Bravour aria zuläßt, auszudrücken gesucht. – Das hui – habe ich in ›schnell‹ verändert also: ›Doch wie schnell schwand meine freude‹ etc.: ich weiß nicht was sich unsere teutsche dichter denken; – wenn sie schon das Theater nicht verstehen, was die opern anbelangt –[435] so sollen sie doch wenigstens die leute nicht reden lassen, als wenn schweine vor ihnen stünden. – hui Sau; –
Nun das Terzett, nemlich der schluß vom Ersten Ackt. – Pedrillo hat seinen Herrn für einen Baumeister ausgegeben, damit er gelegenheit hat mit seiner konstanze im garten zusamm zu kommen. Der Bassa hat ihn in Diensten genommen; – osmin als aufseher, und der darum nichts weis, ist als ein grober flegel, und Erzfeind von allen fremden impertinent und will sie nicht in dem Garten lassen. das erste was angezeigt, ist sehr kurz – und weil der Text dazu anlaß gegeben, so habe ich es so ziemlich gut 3stimmig geschrieben. dann fängt aber gleich das major pianissimo an – welches sehr geschwind gehen muß – und der schluß wird recht viel lärmen machen – und das ist Ja alles was zu einem schluß von einem Ackt gehört – Je mehr lärmen, Je besser; – Je kürzer, Je besser – damit die leute zum klatschen nicht kalt werden. –Von der ouvertüre haben sie nichts als 14 Täckt. – die ist ganz kurz – wechselt immer mit forte und piano ab; wobey beym forte allzeit die türkische Musick einfällt. – modolirt so durch die töne fort – und ich glaube man wird dabey nicht schlafen können, und sollte man eine ganze Nacht durch nichts geschlafen haben. – Nun sitze ich wie der Haaß im Pfeffer – über 3 wochen ist schon der Erste Ackt fertig – eine aria im 2ten Ackt, und das Saufduet (per li sigri vienesi) welches in nichts als in meinem türkischen zapfenstreich besteht) ist schon fertig; – mehr kann ich aber nicht davon machen – weil izt die ganze geschichte umgestürzt wird – und zwar auf mein verlangen. – zu anfange des dritten Acktes ist ein charmantes quintett oder vielmehr final – dieses möchte ich aber lieber zum schluß des 2t Ackts haben. um das bewerksteligen zu können, muß eine große veränderung, Ja eine ganz Neue intrigue vorgenommen werden – und Stephani hat über hals und kopf arbeit. da muß man halt ein wenig gedult haben. – alles schmolt über den Stephani – es kann seyn daß er auch mit mir nur ins gesicht so freundschaftlich ist – aber er arrangirt mir halt doch das buch – und zwar so wie ich es will – auf ein haar – und mehr verlange ich bey gott nicht von ihm! – Nun das ist ein geschwätz von der opera; aber es muß doch auch seyn ...«
[436] Nun, dergleichen klingt nicht nach der Definition von seiner Nase oder dem Vergleich von dem Kind mit dem Apfel. Ja, Mozart hat gesagt, daß »in einer Opera die Poesie schlechterdings der Musik gehorsame Tochter sein müsse« (13. Oktober 1781). Das ist genau die Umkehrung der Theorie Glucks und Wagners – Glucks, der in seiner Reformoper zu vergessen vorgab, daß er Musiker sei, Wagners, der das Unheil der Oper darin sah und das in fetten Lettern drucken ließ, »... daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war«. Aber in der Praxis stimmen Gluck und Wagner völlig überein mit Mozart. Denn was wären die Poeten Calzabigi und die Roullet und Guillard ohne Gluck, was wäre der Dichter Richard Wagner ohne Richard Wagner den Musiker! Es wäre viel richtiger zu sagen, daß nicht nur in der Geschichte der Oper, sondern auch in jeder einzelnen Oper selber sich das Schwergewicht zwischen »Drama« und »Musik« fortwährend verschiebt, daß die Waage nur selten auf Gleich steht, daß immer ein Übergewicht nach einer der beiden Seiten vorhanden ist. Was wäre der zweite Akt des »Tristan«, da die Handlung stille steht, da wir nur in die grüne Dämmerung der Szene starren, aus der ein Zwiegesang tönt, da nichts zu sehen ist – was wäre er ohne Musik! Keine Zeit hat das Recht, das Opernideal einer andern anzuklagen. Man muß versuchen, einem jeden gerecht zu werden.
Aber Wagner hat nicht ganz unrecht für den ihm unbekannten Mozart. Mozart hat sehr früh als Opernkomponist begonnen, als ein Kind von zwölf oder dreizehn Jahren, und ist sich des Problems der Oper bis zum »Idomeneo«, also bis zu seinem fünfundzwanzigsten, kaum bewußt geworden. Das kann man ihm schwerlich zum Vorwurf machen, wenn man daran denkt, daß Gluck beinahe fünfzig Jahre alt wurde, ehe ihm – und nicht ohne fremde Hilfe – die Augen aufgingen, und daß seine »Alceste« gerade ein Jahr alt war, als Mozart seine ersten Opernversuche machte. Das schlagendste Beispiel für Mozarts jugendliche Unbefangenheit und Respekt vor dem Überkommenen ist vielleicht seine Komposition von Metastasios »Betulia liberata« – ein Werk, das bezeichnenderweise von dem dem Metastasio ergebensten und verbundensten Musiker, Johann[437] Ad. Hasse, nicht komponiert worden ist. Mozart hatte während seiner ersten italienischen Reise, nach der Aufführung des »Mitridate« in Mailand, in Padua am 13. März 1771 den Auftrag erhalten, das Oratorium Metastasios in Musik zu setzen; ob es dann, in der Fastenzeit 1772 in Padua, oder überhaupt jemals gesungen wurde, das steht nicht fest. Noch 1784 bittet Mozart den Vater, ihm die Partitur nach Wien zu schicken, da er den Text für die Tonkünstler-Sozietät komponieren müsse und vielleicht ein oder das andre Stück aus dem Jugendwerk noch brauchen könne. Es ist sogar die Rede davon, daß er damals für das Werk noch einen Einleitungschor und ein Quintett komponiert habe. Aber ich glaube nicht daran. Denn um 1784 mußte Mozart nach kürzestem Besinnen erkannt haben, daß das kein Text sei, den er nochmals hätte in Musik setzen können, weder ganz noch stückweise. Nun ist ein italienisches Oratorium keine Oper, wenn es auch durchaus die Form der Oper zu haben scheint. Ein Oratorium hat zwei Akte, nicht drei wie eine Opera seria; ein Oratorium räumt dem Chor eine größere Rolle ein; ein Oratorium wendet sich an die Phantasie des Hörers und kann Dinge darstellen, die vor Augen zu führen auf der Bühne unmöglich war, so zum Beispiel wenn, wie in unserm Falle, Judith das blutige Haupt des Holofernes vorweist. Dergleichen ging erst in späteren Zeiten. Aber wie die Oper, sollte auch das Oratorium Ereignisse und Menschen vorführen, in denen das Biblische, Religiöse, das Gotteserlebnis glaubhafte und kraftvolle Form annimmt. Händel hätte den Oratoriendichter Metastasio nicht brauchen können, auch wenn der Kaiserliche Hofpoet kein Katholik gewesen wäre; er hat vermutlich über die »Betulia liberata«, die ihm stofflich sehr nahe lag und die er sicherlich sehr gut kannte, nur verächtlich gelächelt. Für Metastasio steht nicht Judith im Mittelpunkt der Handlung, und noch weniger Holofernes, der gar nicht zum Vorschein kommt. Für ihn ist die Hauptsache die Bekehrung eines ammonitischen Fürsten, Achior, der – von Holofernes schlecht behandelt, zu den Juden überläuft; der mit Ozia, dem »Principe« der belagerten Stadt, über religiöse Fragen disputiert und erst durch Judiths Tat bewogen wird, seinen Skeptizismus und sein Heidentum aufzugeben.
[438] »Giuditta, Ozia, Popoli, Amici, io credo.
Vinto son io. Prende un novello aspettoOgni cosa per me ... Tutto son pieno,Tutto del vostro Dio. Grande, infinito,Unico lo confesso ...«Im ersten Akt verläßt Judith, geschmückt wie eine Braut, Betulia, im zweiten kommt sie zurück und erzählt im Detail, wie sie, erfüllt von ihrem Gott, dem Wüterich das Haupt abgehackt hat, in zwei Stadien, die sie schildert mit der Objektivität eines gerichtlichen Sachverständigen in einer Mordangelegenheit. Nun hält Achior Judith zunächst noch für eine Aufschneiderin:»Inerme, e solaTanto pensar, tanto eseguir potesti!E crederti degg'io?«– und wird völlig überzeugt erst durch den Augenschein des aus dem Sack geholten blutigen, ihm wohlbekannten Haupts. Worauf Judith eine der berühmten oder berüchtigten »Vergleichs-Arien« Metastasios singt, in der sie Achiors Zögern entschuldigt: ein Gefangener, der aus dem Kerkerdunkel kommt, müsse sich erst ans Licht gewöhnen:»Prigionier, che fa ritornoDagli orrori al dì sereno,Chiude i lumi a'rai del giorno;E pur tanto il sospirò.Ma così fra poco arrivaA soffrir la chiara luce,Che l'arriva, e lo conduceLo splendor, che l'abbagliò.«Das alles hat der junge Mozart mit Haut und Haaren komponiert; aber nicht er allein, sondern ein paar Dutzend erwachsene Komponisten vor und nach ihm ebenfalls. Wie er[439] es komponiert hat, das gehört mehr in die Geschichte seiner musikalischen als dramatischen Entwicklung. Doch ist sein Stilgefühl immerhin erstaunlich. Er schreibt eine ernsthafte dreiteilige Sinfonia in gluckschem d-moll, in der der letzte Teil thematisch mit dem ersten zusammenhängt und auf deren kantablen Mittelteil mehr »Arbeit« verwendet ist als in einer Opern-Sinfonia; er komponiert prächtige Arien in konzertantem Stil, doch immerhin mit verkürzter Reprise, um Sänger und Zuhörer nicht zu ermüden; er schreibt für Giudittas Schilderung der heroischen Mordtat eins seiner längsten und durchaus nicht unwirksamsten Recitativi accompagnati; und vor allem schreibt er devote Chöre, der letzte ein Wechselgesang zwischen Giuditta und dem Volk, eine Art geistliches Vaudeville, in dem er einen Psalmton (In exitu Israel) sehr geistreich verwendet hat. Aber seine musikalische Entwicklung berührt uns in diesem Zusammenhang weniger als seine dramatische. Und es gehört zu seiner Größe als Dramatiker, daß er dergleichen zehn Jahre später nicht mehr komponiert hätte – nicht auf Grund theoretischer, ästhetischer Überlegung, nicht weil er den traditionellen Rahmen der Opera seria hätte sprengen wollen, sondern aus dramatischem Instinkt, aus dem Drang nach dramatischer Wahrheit, aus der Lust, Menschen zu gestalten und musikalisch zu charakterisieren.
Aber wir waren nicht vollständig, wenn wir lediglich sagten, daß in der Geschichte der Oper sich das Schwergewicht fortwährend verschiebe zwischen Musik und Drama. Es verschiebt sich zwischen Musik und Drama nicht allein. Wer war die Hauptperson in der Oper des 17. Jahrhunderts, mit wem hätte sich die Kritik, wenn es eine gegeben hätte, in erster Linie beschäftigt? Es war der Bühnenarchitekt und Maschinist, der den aufgesperrten Höllenrachen oder die Wunder von Alcinas Zaubergärten zeigte, der den Götterboten Merkur aus der Luft herabschweben ließ oder der in einer Apotheose den ganzen Olymp im Halbkreis des Himmels gruppierte. Vom Beginn des 18. Jahrhunderts an war es der Sänger, genauer: die Prima Donna und vor allem der Primo uomo, der Kastrat. Der berühmteste Name in der Oper des 17. Jahrhunderts war nicht etwa Cavalli, Cesti oder Lulli, sondern der des Kaiserlichen[440] Hofarchitekten Lodovico Burnacini. Der berühmteste Name in der des 18. war nicht etwa Händel oder Hasse, Graun oder Gluck, sondern der des Kastraten Carlo Broschi, genannt Farinelli. Der Komponist steht im Dienst des Sängers, und im Dienst des Komponisten steht der Librettist. Er ist der Diener von allen; er steht auf der untersten Stufe. Apostolo Zeno und Pietro Metastasio machen keine Ausnahme. Es ist für den Musiker sehr wichtig und angenehm gewesen, daß ihre Libretti dem damaligen Ideal der Oper so sehr entsprachen; aber es war für den Musiker völlig gleichgültig, daß die beiden kaiserlichen Hofpoeten ihren Libretti darüber hinaus einen poetischen oder literarischen Wert zu geben suchten. Es war eher lästig. In diesem Punkt war Carlo Goldoni, nach einem einzigen fehlgeschlagenen Versuch, der ihm für immer die Augen öffnete, ein viel größerer Praktikus und Realist. Er bediente in seinen Libretti für die Opera seria seine Komponisten genau so, wie sie es haben wollten, ohne jeden literarischen Ehrgeiz. Und so wäre es wenig mehr als Pedanterie, einen dichterischen Maßstab an ein »Dramma per musica« des 18. Jahrhunderts anlegen zu wollen. Und ebenso wäre es Pedanterie, einen dramatischen Maßstab an die Opern des jungen Mozart anzulegen. Wir haben uns zu fragen, worin der Schwerpunkt der Oper beim jungen Mozart lag. Er lag noch immer bei den Sängern und Sängerinnen. Mozart erfüllte die Bedingungen, von denen der Erfolg einer Oper abhing: er bediente so gut als möglich ihre individuelle Gesangskunst. Wenn er änderte, so änderte er meist nicht etwa aus Gründen der Dramaturgie. In seiner ersten Mailänder Oper sind von nicht weniger als sechs Arien und einem Duett frühere Fassungen vorhanden, die einfach den Wünschen der Sänger nicht genügten.
Was für die Opera seria gilt, gilt in noch höherem Grad für die Opera buffa. Wir staunen, wenn wir hören, daß Mozart als ein Knabe von zwölf oder dreizehn Jahren eine Opera buffa geschrieben hat, die »Finta semplice«. Aber die Sängerschaft einer Opera buffa bestand aus Typen, und diesen Typen hatte der Komponist gerecht zu werden. Wir sind weit entfernt von der Charakterkomödie. Der Zusammenhang der Opera buffa mit der Commedia dell'arte, der Zusammenhang ihrer Figuren[441] mit Pantalone und Zanni, mit Gratiano und Capitan Spaventa, mit Rosaura und Leandro ist mit Händen zu greifen. Nicht bloß der Opera buffa, sondern auch des Lustspiels; nicht bloß der »fiabe« Carlo Gozzis, sondern auch der Charaktercommedia Goldonis; so sehr Goldonis Kampf, seine Absicht, seine literaturgeschichtliche Mission der Entthronung der Commedia dell'arte zu gelten schien. Die Commedia dell'arte beeinflußte nicht bloß die italienische Komödie, sondern auch die französische. Der »Barbier de Seville« des Beaumarchais – kommt er nicht her von der Commedia dell'arte, mit ihren stehenden Figuren? Bartholo, »tuteur de Rosine«, ist er nicht Pantalone? Figaro, ist er nicht Arlecchino? Don Basile, ist er nicht Graziano? Rosine und Almaviva, sind sie nicht Rosaura und Leandro? Jedes Mitglied einer Komödiantentruppe fand hier seine stehende Rolle; und deshalb war es auch möglich, Beaumarchais' Dramen oder Komödien in Libretti zu verwandeln. In der Opera buffa um 1770 wechselt jedes Mitglied nur den Namen und die Maske, aber nicht die Rolle. Nichts ist bezeichnender als ein Brief von Mozarts Rivalen, Giovanni Paisiello, aus Petersburg, an seinen berühmten Freund Abbé Galiani in Neapel, vom September 1781. Paisiello hatte, weil es ihm in Rußland an einem Librettisten fehlte, in seiner Verzweiflung sogar die alte »Serva Padrona« Pergolesis nochmals komponiert und verlangte durch Vermittlung Galianis ein Libretto seines alten Helfers G.B. Lorenzi. Aber Lorenzi ist krank, und so schlägt Galiani einen Ersatzmann vor. Darauf formuliert Paisiello folgendermaßen seine Bedingungen (der Brief ist abgedruckt bei A. della Corte, Paisiello, Turin 1922, S. 70): Kürze – je kürzer, desto besser; ein Akt besser als zwei; denn länger als einundeinhalb Stunden darf das Ganze nicht dauern. Nur fünf oder vier Rollen, »deren Charakter ich im folgenden erklären werde, denn so sind sie im kaiserlichen Dienst vorhanden:
Ein Buffo caricato, der vortrefflich ist in der Rolle des Alten, des Vaters, des eifersüchtigen Vormunds, des Philosophen.Ein zweiter Buffo caricato.Ein lyrischer Tenor ... doch ist er auch fürs Comische zu brauchen und singt gut.[442] Wir haben auch eine buffa, die jedem carikierten Charakter gerecht wird.
Daneben eine andre Sängerin für mezzo carattere, der andern ungefähr gleichwertig; und ich bemerke das, damit der Dichter sich bei der Verteilung der Gesangsnummern danach richtet, damit keine sagen kann, sie sei zurückgesetzt ...«Das sind die Gesichtspunkte. Das Drama richtet sich nach den Kategorien, denen die Darsteller angehören, und der Komponist richtet sich nach den Darstellern.Begreift man, daß, äußerlich und formell genommen, das Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart mit dreizehn Jahren eine Opera buffa komponieren konnte? Wer ihm das Libretto zugeschoben, wissen wir nicht. Als dessen Verfasser galt Marco Coltellini, ein Toskaner (aus Montepulciano), seit 1769 Nachfolger Metastasios in Wien; in der Opera seria einer der Reformisten im Sinne Glucks und Calzabigis. Auch Leopold hielt ihn für den Librettisten. In Wirklichkeit stammte es von Goldoni, und es war vier Jahre vorher, 1764, mit Musik von Salvadore Perillo an S. Moisé in Venedig zuerst über die Szene gegangen. Das Original-Libretto war damals anonym erschienen, die Oper selber ein Mißerfolg, und über Venedig nicht hinausgelangt. So ist es durchaus möglich, daß Coltellini sich im Einverständnis mit dem damaligen kaiserlichen Theaterunternehmer Afflisio – der ein ausgemachter Schurke war – mit fremden Federn geschmückt hat. Nur ein paar Arien bat er durch neue ersetzt, und nur der dritte Akt ist, mit einigem Glück, so verändert, insbesondere das Finale so ausgebaut, daß Coltellini ein bescheidenes Recht gehabt hätte, seinen Namen neben dem Goldonis zu nennen. Erst 1794 wurde das Stück unter dem Namen seines wirklichen Verfassers, Goldoni, gedruckt, ein Jahr nach seinem Tode.Es macht dem Dichter der »Locandiera« wenig Ehre; aber wir müssen uns ein wenig mit ihm befassen. Das Personal besteht aus sieben Personen: 1. Don Cassandro, einem reichen Gutsbesitzer im Cremonesischen, einem brutalen Flegel, eingebildet, geizig, Frauenfeind, der Nummer 2, seinen jüngeren Bruder Don Polidoro, wie einen Hund behandelt, womit er übrigens nicht unrecht hat, denn Polidoro ist ein vollendeter Idiot.[443] Ihre Schwester (3), Donna Giacinta, ist verliebt in Fracasso (4), einen ungarischen Hauptmann, der auf dem Gute in Quartier liegt; und (5) ihre Kammerzofe, Ninetta, ist parallel verliebt in Fracassos Burschen (6), den Sergeanten Simone. Die Brüder sind gegen die beiden Heiraten. Um ihren Widerstand zu überwinden, verabreden die beiden Paare, daß (7) Rosina, die Schwester Fracassos, deren Besuch erwartet wird, beide Brüder in sich verliebt machen soll, um ihre Einwilligung zu gewinnen. Sie tut das unter der Maske der »verstellten Einfalt«, und der ganze Inhalt der Oper besteht aus einer Folge von burlesken Szenen, die nichts anderes sind als Variationen oder Varianten ähnlicher Szenen aus der Commedia dell'arte. Muß man erst noch sagen, daß Cassandro und Polidoro nichts andres sind als Pantalone, nur daß Pantalone in diesem Falle sich wie der Besen des Zauberlehrlings gespalten hat in zwei Figuren, deren eine seine tyrannischen Züge repräsentiert, die andre seine idiotischen? Giacinta ist das furchtsame Mündel; Fracasso ist der Capitano als Liebhaber, Ninetta ist das Kammerkätzchen Serpina, Simone ist Arlecchino oder Zanni in Montur, mit dem typischen Zug der Gefräßigkeit. Eine neuere Figur ist nur Rosina: die »Einfältige«, die »ingénue«, die zurückgeht auf Molières unsterbliche Agnes in der »Ecole des femmes« und die hier, unendlich vergröbert und keineswegs konsequent durchgeführt, zu den einfältigsten Situationsspäßen mißbraucht wird und sich wirklich für die Heirat mit dem Lümmel Cassandro entscheidet. Ein paar dieser Situationsspäße sind typische Szenen der Commedia dell'arte: der verliebte Idiot, der die Angebetete vom Fleck weg heiraten will; der betrunkene Freier (Cassandro), der von der Dame in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers verbannt wird und sich durch pantomimische Andeutungen verständlich machen muß; die Fechtszene zwischen einem Bravado und einem Feigling; die Explosion der mannstollen Zofe, in dessen Fassung man immerhin Goldoni erkennt:
Sono in amore,Voglio marito,Se fosse il primoChe passerà.Guai chi mi stuzzicaO mi maltratta:Gli salto agli occhiCome una gatta,E l'unghie adoperoCon tanto sdegno,Che forse il segnoGli resterà.Brenne vor Liebe,Will einen Gatten,Und wär's der erste,Der hier passiert.[444] Weh, wer mich necken will
Oder mißhandelt –Ins Gesicht spring' ich ihmWie eine Katze,Brauch meine KrallenMit solchem Wüten,Daß er dran denken sollAuf Lebenszeit.Mozart hat gerade diese Aria zweimal komponieren müssen, sicherlich weil die erste Fassung der Sängerin nicht genügte, man weiß nicht recht warum, denn der Knabe hat sich beidemal sehr gut aus der Affäre gezogen. Aber im ganzen wird man zugestehen, daß es hier nicht um ein »dramma giocoso«, ein heiteres Drama, um eine Komödie in Musik handelt, um Psychologie, um Einsicht in Charaktere, sondern nur ums Treffen musikalischer Kategorien. Das war für Mozart hier um so schwerer, als die meisten Arien nicht einmal folgerichtig aus den Situationen herauswachsen und nicht einmal immer zu den Charakteren passen – ganz abgesehen davon, daß er den Text nicht immer richtig verstand und – wenn die Gesamtausgabe korrekt ist – manchmal vollendeten Unsinn komponierte. Der Trottel Polidoro singt eine Arie (Nr. 7), die Mozart aus seinem geistlichen Singspiel »Die Schuldigkeit des ersten Gebots« von 1767 entlehnte; er hat sie nur verkürzt. Der Bramarbas Fracasso singt eine lange Aria (Nr. 25), die besser in eine Opera seria hineinpaßt – aber der Tenorist Laschi verlangte sie. Im zweiten Akt, am Beginn eines Szenenwechsels, singt Rosina eine Arie in E-dur (Nr. 15, »Amoretti che ascosi«), musikalisch die schönste des ganzen Werkes, aber sie ist eine typische Einlage. Rosina ist überhaupt gesanglich bevorzugt behandelt und darf als einzige ihren Neigungen für Koloratur nachgehen. Am einheitlichsten gestaltet ist Giacinta, als ängstliche, sentimentale Liebhaberin – es scheint, daß Mozart außer einer Reihe von Werken Galuppis auch schon die Epoche machende »Buona figliuola« Dunis oder Paisiellos (1760 bzw. 1764) kannte, mit der die Sentimentalität in die Opera buffa einzuziehen begann.[445] Giacinta hat sogar eine fast zu ernsthafte, gar nicht buffoneske Aria in c-moll (Nr. 24, nicht bei Goldoni), die die Situation allzu dramatisch unterstreicht; kurz, Mozart ist unfrei nach allen Seiten, mit Ausnahme nach der Seite des Instrumentalen; und so ist die Sinfonia das reizendste Stück der ganzen Oper. Und so tat er das Beste, was er tun konnte: er überließ sich seiner musikalischen Phantasie, schrieb neutrale Stücke, wo ihm der Text keine Handhabe bot, und benutzte diese Handhabe, wo sie vorhanden war, besonders in den skurrilen Szenen, die er in seiner kindlichen Neigung zu Spaß und mit seiner frühreifen Beobachtungsgabe verstand. Die Duellszene ist ein kleines Meisterstück; die Pantomime voll Beredsamkeit; das Orchester benutzt jede »malerische« Anregung des Textes, sei sie witzig oder drastisch (Nr. 8), sei sie poetisch – am poetischsten in der Echo-Aria Nr. 9. Dabei weiß der Knabe schon genau, was zum Buffostil gehört: schlagende Kürze, schärfere Kontraste zwischen den beiden Teilen einer Aria, Vermeidung des stereotypen Da Capo, Erfindung pikanter Motive in der Begleitung. In den Ensembles – dem konventionellen Quartett der Introduzione und den drei Finales – galt es noch keine Konflikte des Gefühls oder der Charaktere darzustellen, und die Folge und der Wechsel der einzelnen Tempi war in der Dichtung schon deutlich vorgezeichnet – Mozart hat noch keine Ahnung vom Vermögen der Musik, kontrastierende Empfindungen, widerstreitende Charaktere gleichzeitig zu malen. Auch die gerühmte Duellszene ist ein bloßer Dialog, noch kein Duett. Sehr charakteristisch, voll kleiner Gesten, ist das Secco-Recitativo, und wenn unsere Kenntnis der Geschichte der Opera buffa vor 1768 umfassender wäre, könnten wir vielleicht das unmittelbare Vorbild des Knaben nennen.
Aber es kommt uns hier nicht an auf die Aufhellung geschichtlicher oder persönlicher Zusammenhänge und Einflüsse. So wie es uns auch nicht ankommt auf Analysen andrer dramatischer Jugendwerke Mozarts: des erwähnten geistlichen Singspiels »Die Schuldigkeit des ersten Gebotes« (K. Nr. 35), der »Grabmusik« (K. Nr. 42), der Lateinischen Schulkomödie »Apollo et Hyacinthus« (K. Nr. 38), in denen sich der junge Musiker dem würdigen Johann Ernst Eberlin verpflichtet zeigt[446] und der barocken Lokaltradition Salzburgs sein Opfer bringt. Der dramatische Musiker zeigt sich nicht nur darin, wie er eine Oper komponiert, sondern was er der Komposition für wert hält. Die »Finta semplice«, am Ort ihrer Bestimmung niemals aufgeführt und nur in Salzburg einer sicherlich höchst provinziellen Wiedergabe teilhaftig geworden, war für Mozart nicht ganz verloren und auf jeden Fall eine vortreffliche Übung für ihn im Buffostil. Aber es unterscheidet ihn und nur ihn von hundert italienischen Zeitgenossen – die berühmtesten nicht ausgeschlossen, wie Paisiello, Piccinni, Guglielmi, Sarti, Cimarosa – daß er, einmal reif geworden, sich mit dramatischem Unsinn auf die Dauer nicht zufriedengegeben hat.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 432-447.
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