I.

Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und eben derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische. Durch sechs Generationen hindurch haben sich kaum zwey oder drey Glieder derselben gefunden, die nicht die Gabe eines vorzüglichen Talents zur Musik von der Natur erhalten hatten, und die Ausbildung dieser Kunst zu der Hauptbeschäftigung ihres Lebens machten.

Der Stammvater dieser in musikalischer Hinsicht so merkwürdig gewordenen Familie hieß Veit Bach. Er war ein Bäcker zu Presburg in Ungarn. Beym Ausbruch der Religions-Unruhen im sechszehnten Jahrhundert wurde er aber genöthigt, sich einen andern Wohnort aufzusuchen. Er rettete von seinem Vermögen, was er konnte, und zog damit nach Thüringen, wo er Ruhe und Sicherheit zu finden hoffte. Der Ort, an welchem er sich in dieser Gegend niederließ, ist Wechmar, ein nahe bey Gotha liegendes Dorf. Er fing hier bald an, sich wieder mit seiner Bäcker-Profession zu beschäftigen, vergnügte sich aber nebenher bey müßigen Stunden sehr gerne mit der Cyther, die er sogar mit in die Mühle nahm, und während dem Mahlen unter allem Getöse und Geklapper der Mühle darauf spielte. Diese Neigung zur Musik pflanzte er auf seine beyden Söhne, diese wieder auf die ihrigen fort, bis nach und nach eine sehr ausgebreitete Familie entstand, die in allen ihren Zweigen nicht nur musikalisch war, sondern auch ihr Hauptgeschäft aus der Musik machte, und bald die meisten Cantor-, Organisten- und Stadtmusikanten-Stellen der Thüringischen Gegenden in ihrem Besitz hatte.

Alle diese Bache können unmöglich große Meister gewesen sey; jedoch zeichneten sich in jeder Generation wenigstens einige Glieder vorzüglich aus. Dieß thaten schon im ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts drey Enkel des Stammvaters so merklich,[1] daß der damals regierende Graf von Schwarzburg-Arnstadt es der Mühe werth hielt, sie auf seine Kosten nach Italien, der damahligen hohen Schule der Musik, reisen zu lassen, um sich dort noch mehr zu vervollkommnen. In wie weit sie den Erwartungen ihres Gönners entsprochen haben mögen, kann nicht gesagt werden, da von ihren Werken nichts auf unsere Zeiten gekommen ist. Noch mehr zeichneten sich einige Glieder der vierten Generation aus, von deren Compositionen durch J. Seb. Bachs Sorgfalt mehrere Stücke erhalten worden sind. Die merkwürdigsten darunter waren:

1) Johann Christoph, Hof- und Stadt-Organist in Eisenach. Dieser war vorzüglich glücklich in Erfindung schöner Melodien und im Ausdruck der Texte. Im sogenannten Bachischen Archiv, welches C.Ph. Emanuel in Hamburg besaß, fand sich unter andern eine Motette von seiner Composition, worin er es gewagt hatte, von der übermäßigen Sexte Gebrauch zumachen, ein Wagestück, welches in seinem Zeitalter für ungeheuer groß gehalten wurde. Auch ist er der Vollstimmigkeit außerordentlich mächtig gewesen, wie ein von ihm komponirtes Kirchenstück aufs Michaelisfest über die Worte: Es erhub sich ein Streit etc. beweisen kann, welches 22 obligate Stimmen hat, und doch in Rücksicht auf Harmonie vollkommen rein ist. Ein zweyter Beweis seiner Stärke in der Vollstimmigkeit ist, daß er auf der Orgel und auf dem Clavier niemahls mit weniger als fünf nothwendigen Stimmen gespielt haben soll. C.Ph. Emanuel hielt vorzüglich viel auf ihn. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie freundlich der damahls schon alte Mann bey den merkwürdigsten und gewagtesten Stellen mich anlächelte, als er mir einst in Hamburg das Vergnügen machte, mich einige dieser alten Werke hören zu lassen.

2) Johann Michael, Organist und Stadtschreiber im Amte Gehren. Er war ein jüngerer Bruder des vorhergehenden, und gleich ihm ein vorzüglich guter Componist. Im Bachischen Archiv befinden sich von ihm einige Motetten, worunter auch eine doppelchörige für 8 Stimmen ist, nebst verschiedenen einzelnen Kirchenstücken.

3) Johann Bernhard, Kammermusikus und Organist zu Eisenach. Dieser soll vorzüglich schöne Ouvertüren nach französischer Art gemacht haben.

Nicht nur die angeführten, sondern auch noch verschiedene andere vorzügliche Componisten aus den frühern Generationen der Bachischen Familie hätten sich unstreitig weit[2] wichtigere musikalische Aemter, so wie einen ausgebreitetern Ruf ihrer Geschicklichkeit, und ein glänzenderes äußeres Glück verschaffen können, wenn sie geneigt gewesen wären, ihr Vaterland Thüringen zu verlassen, und sich anderwärts in und außerhalb Deutschland bekannt zu machen. Man findet aber nicht, daß irgend einem derselben die Lust zu einer solchen Auswanderung einmahl angekommen sey. Genügsam von Natur und durch Erziehung, bedurften sie nur wenig zum Leben, und der innere Genuß, den ihnen ihre Kunst gewährte, machte, daß sie die goldenen Ketten, welche damahls geachteten Künstlern von großen Herren als besondere Ehrenzeichen ertheilt wurden, nicht entbehrten, sondern ohne den mindesten Neid sie an andern sahen, die vielleicht ohne diese Ketten nicht glücklich gewesen seyn würden.

Außer dieser schönen, zum frohen Lebensgenuß unentbehrlichen Genügsamkeit, hatten auch die verschiedenen Glieder dieser Familie eine sehr große Anhänglichkeit an einander. Da sie unmöglich alle an einem einzigen Orte beysammen leben konnten, so wollten sie sich doch wenigstens einmahl im Jahre sehen, und bestimmten einen gewissen Tag, an welchem sie sich sämmtlich an einem dazu gewählten Orte einfinden mußten. Auch dann noch, als die Familie an Zahl ihrer Glieder schon sehr zugenommen, und sich außer Thüringen auch hin und wieder in Ober- und Niedersachsen, so wie in Franken hatte verbreiten müssen, setzte sie ihre jährlichen Zusammenkünste fort. Der Versammlungsort war gewöhnlich Erfurt, Eisenach oder Arnstadt. Die Art und Weise, wie sie die Zeit während dieser Zusammenkunft hinbrachten, war ganz musikalisch. Da die Gesellschaft aus lauter Cantoren, Organisten und Stadtmusikanten bestand, die sämmtlich mit der Kirche zu thun hatten, und es überhaupt damahls noch eine Gewohnheit war, alle Dinge mit Religion anzufangen, so wurde, wenn sie versammelt waren, zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nehmlich nun Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und[3] unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte. Einige wollen diese Possenspiele als den Anfang der komischen Operette unter den Deutschen betrachten. Allein solche Quodlibete waren in Deutschland schon weit früher im Gebrauch. Ich besitze selbst eine gedruckte Sammlung derselben, die schon im Jahr 1542 zu Wien heraus gekommen ist.

So wohl die genannten fröhlichen Thüringer, als einige ihrer spätern Nachkommen, die schon einen ernsthaftern und würdigern Gebrauch von ihrer Kunst zu machen wußten, würden indessen doch der Vergessenheit der Nachwelt nicht entgangen seyn, wenn nicht endlich ein Mann aus ihnen hervor gegangen wäre, dessen Kunst und Kunstruhm so helle Strahlen warf, daß auch auf sie nun ein Abglanz dieses Lichtes zurück fiel. Dieser Mann war Johann Sebastian Bach, die Zierde seiner Familie, der Stolz seines Vaterlandes, und der vertrauteste Liebling der musikalischen Kunst.

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 1-4.
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